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„Immer weniger Gläubige, immer weniger Priester, immer mehr offene Stellen“1) – mit dieser Feststellung beschreibt Giovanni Di Lorenzo in seinem Interview mit Papst Franziskus prägnant ein Hauptproblem der Katholischen Kirche in Europa. Papst Franziskus würdigt in seiner Reaktion auf G. Di Lorenzos Worte das Engagement der Laien, besonders der Frauen, zugleich sieht er das Problem des Priestermangels, der es manchen Gemeinden nicht mehr ermöglicht, sonntags eine Eucharistie zu feiern: „Viele Gemeinden haben brave Frauen: Sie erhalten den Sonntag aufrecht und feiern Wortgottesdienste, also ohne die Eucharistie. Das Problem ist aber der Mangel an Berufungen. Und dieses Problem muss die Kirche lösen.“2) Die Zahl der deutschlandweiten, jährlichen Priesterweihen sinkt seit Jahrzenten kontinuierlich. 1962 wurden noch 557 neue Priester geweiht, 2015 waren es nur noch 58.3) Dieser Mangel an Berufungen zeichnet ein düsteres Bild, wenn man theologisch davon ausgeht, dass man zum Priestertum „nach dem Vorbild der Propheten und Apostel von Gott berufen [ist]“4). Wenn Gott die einzelne Person, einen Mann, zum Priestertum beruft, aber es einen Priestermangel gibt, dann stellen sich, wie Stefan Kiechle es formuliert, „eminent spirituelle Fragen, etwa danach, ob Gott die Priester nicht mehr braucht oder nicht mehr will, denn sonst würde er ja mehr und gute berufen“5).
Zum Priester berufen
Zum Priester wird man nach der Lehrmeinung der Katholischen Kirche von Gott berufen: „Keiner maßt sich dieses Amt selbst an. Man muß dazu von Gott berufen sein [Vgl. Hebr 5,4.].“ (Katechismus der Katholische Kirche [=KKK] 1578). In der Verweisstelle aus dem Hebräerbrief verweist der biblische Autor auf den alttestamentlichen Hohepriester, der von Gott für sein Amt berufen wird:
Denn jeder Hohepriester wird aus den Menschen genommen und für die Menschen eingesetzt zum Dienst vor Gott, um Gaben für und Opfer für die Sünden darzubringen. […] Und keiner nimmt sich selbst diese Würde, sondern er wird von Gott berufen, so wie Aaron.
Im Alten Testament ist Aaron, der Bruder Moses von Gott zum Hohepriester auserwählt worden und deshalb kann nur ein Nachfahre Aarons ein Hohepriester Israels sein (vgl. Exodus 28,1 und Numeri 3,10). Die Auserwählung Aarons wird zu Berufung für seine Nachkommen, aus denen jeweils der Hohepriester stammt. Der Hebräerbrief hingegen sieht in Jesus Christus den vollkommenen, endgültigen und ewigen Hohepriester (Hebräer 7,11-28), der das aaronitische Priestertum abgelöst hat.
Zum Apostel berufen
Im Katechismus der Katholischen Kirche (KKK) wird mit Verweis auf Johannes 21,22 betont, dass die Priesterweihe als Sakrament einen persönlichen Charakter hat (KKK 878) – man wird persönlich zu diesem Dienst berufen.
Du folge mir nach!
Mit diesem Imperativ weist Jesus nach seiner Auferstehung Petrus zurecht, der ihn nach dem Schicksal des Lieblingsjüngers gefragt hatte. Dies ist im Johannesevangelium das letzte Wort Jesu. Es ist eine Aufforderung zum Gehorsam gegenüber und zur Anerkenntnis des Lieblingsjüngers, der als Autorität hinter dem Johannesevangelium steht (Johannes 21,24-25). Vollständig lautet das letzte Wort Jesu im Johannesevangelium:
Jesus sagte zu ihm [Petrus]: Wenn ich will, dass er [der Jünger, den Jesus liebte] bleibt, bis ich komme, was geht das dich an? Du [Petrus] folge mir nach!
Dass der Aufruf zur Nachfolge, bzw. die Berufung zum Apostel durch Jesus Christus kein Widerwort zulässt, sondern einnehmend ist, zeigt deutlich die Erzählung der Berufung der ersten Jünger im Matthäusevangelium (auf die der Katechismus der Katholischen Kirche ebenso hinweist): Jesus ruft zur Nachfolge und Petrus, Andreas, Jakobus und Johannes lassen alles stehen und liegen und folgen dem Ruf (Matthäus 4,18-22) – ohne Nachfrage, ohne Widerwort, ohne Zweifel.6) Wenn Gott ruft, hat der Mensch zu folgen.
Zum Propheten berufen
Einer Berufung durch Gott kann man sich nicht entziehen, sie ist sozusagen „unwiderstehlich“. Plastisch zeigt dies das Buch Jona auf. Weder mithilfe eines Schiffes noch im Bauch eines Fisches kann Jona seinem Auftrag entgehen. Die Berufung durch Gott ist eine endgültige Entscheidung, der sich der Mensch fügen muss. Daher ist es auch nicht verwunderlich, dass dieser radikale, göttliche Eingriff im Alten Testament nur sehr selten berichtet wird. Eine Berufung durch Gott ist kein Allerweltsereignis. Im Alten Testament werden nur Mose (Exodus 3,10), Josua (Deuteronomium 31,23; Josia 1,2) und die Propheten Jeremia (Jeremia 1,5) und Ezechiel (Ezechiel 2,3) in direkter Anrede von Gott zu ihrem Auftrag berufen. Die Tragweite einer Berufung durch Gott und die Unentziehbarkeit von dieser Anrede wird in der Berufung Jeremias deutlich:
Das Wort des HERRN erging an mich [Jeremia]: Noch ehe ich dich im Mutterleib formte, habe ich dich ausersehen, noch ehe du aus dem Mutterleib hervorkamst, habe ich dich geheiligt, zum Propheten für die Völker bestimmt.
Das zweifelnde Widerwort Jeremia bleibt bedeutungslos. Die Berufung durch Gott ist ein auszuführender Befehl.
Da sagte ich [Jeremia]: Ach, Herr und GOTT, ich kann doch nicht reden, ich bin ja noch so jung. Aber der HERR erwiderte mir: Sag nicht: Ich bin noch so jung. Wohin ich dich auch sende, dahin sollst du gehen, und was ich dir auftrage, das sollst Du verkünden.
Paulus spielt in Galater 1,15 an das Selbstverständnis Jeremias an, um seine Berufung zum Apostel zu beschreiben. Eine Berufung durch Gott ist ein weltveränderndes Ereignis. Eine Berufung durch Gott muss aber nicht immer in unmittelbarer Anrede geschehen, sondern das Alte Testament berichtet auch von vermittelten Berufungen. So werden nacheinander sowohl Saul als auch David als erste Könige Israels durch Samuel in ihr Amt berufen – aber in beiden Fällen weist der Prophet deutlich darauf hin, dass Gott das eigentliche Subjekt der Berufung ist (vgl. 1 Sam 10,1; 16,12-13). So beruft Gott im Alten Testament auch andere Könige, militärische Führer und Propheten durch Vermittler. Dabei fällt auf, dass, abgesehen von der Auserwählung von Aaron, keiner der späteren Hohepriester von Gott zu seinem Amt berufen wird. In diesem Zusammenhang macht Aaron Schart eine für das Verständnis von Berufung grundlegende Beobachtung:
„Zusammenfassend kann man sagen, dass von Priestern keine Berufungsaussagen oder -berichte vorliegen, während in der Prophetie die mit Abstand umfänglichsten und ausdifferenziertesten Berufungsberichte erhalten sind. Im Falle der Könige existieren von solchen Königen Berufungsaussagen und Salbungsberichte, deren Thronanspruch in Frage stand, von denen die Texte aber den Eindruck vermitteln wollen, dass ihre Herrschaft von Gott her trotzdem legitim war. Dieser literarische Befund deutet daraufhin, dass man die Berufung vor allem bei denjenigen Personen explizit darlegte, die Gott abseits der gewöhnlichen Legitimierungswege berief.“7)
Jeder Christ ist berufen!
Im Prophetenbuch Jesaja wird das gesamte Volk Israel von Gott als „mein Berufener“ (Jesaja 48,12) bezeichnet, an dem sich Gottes Herrlichkeit der Welt gegenüber offenbaren wird (Jesaja 49,3). Im Neuen Testament sind die Adressaten dieses göttlichen Berufungshandelns sowohl Israel als auch alle Christusgläubigen. Die Bezeichnung „Berufene“ wird gar zur Selbstbezeichnung der Gemeinden verwendet (vgl. z.B. Römer 1,6; Judas 1,1). Gemäß dem 2. Brief an die Thessalonicher wird die Verkündigung des Evangeliums als eigentlicher Akt der Berufung erklärt (2 Thessalonicher 2,14). In der Verkündigung beruft Gott die Menschen in die Gemeinschaft mit Christus (1 Korinther 1,9). Das Johannesevangelium erzählt dieses Berufungskonzept anschaulich (Johannes 1,35-51). Hier werden die ersten Jünger nicht direkt von Jesus berufen, sondern Johannes der Täufer weist von sich auf Jesus Christus als „Lamm Gottes“ und zwei seiner Jünger werden zu den ersten Nachfolgern Jesu. Die Verkündigung durch Johannes den Täufer wird für zwei seiner Jünger zur Berufung zur Nachfolge Jesu. Einer dieser Jünger ist Andreas, der wiederum gegenüber seinem Bruder Simon das Bekenntnis ablegt, dass Jesus der Messias ist. Daraufhin, nicht aufgrund einer Berufung durch Jesus, wird Simon zum Jünger Jesu. Die Berufung zur Nachfolge Jesu ist in der Verkündigung der Gläubigen verankert. Gemäß dem Matthäusevangelium hat Jesus nicht verkündet, dass er die Menschen einzeln zu Christusgläubigen berufen wird, sondern am Ende des Wirkens Jesu auf der Erde steht der Missionsbefehl an die Jünger. Die von Gott berufenen Jünger sollen durch ihre Verkündigung „Jünger machen“ (Matthäus 28,19).
Berufen zum Berufen!
Wenn man die Berufung zum Priesteramt Gott zuschreibt, dann zeichnen die Statistiken zu den jährlichen Priesterweihen ein düsteres Bild. Einer Berufung durch Gott kann man nicht entgehen. Dies würde bedeuten, wie Stefan Kiechle schreibt, dass die Kirche in einer existentiellen Krise wäre, da Gott anscheinend keine neuen Priester beruft. Wenn die Berufung zum Priesteramt aber in der Verkündigung des Evangeliums verankert ist, dann ist die Kirche ebenso in einer existentiellen Krise. Die eigentliche Aufgabe von Kirche und ihren Gemeinden ist die Verkündigung des Evangeliums und die Berufung der Menschen zur Nachfolge Jesu. Aber dieser Ruf verklingt zunehmend ungehört. Berufen ist jeder Mensch. Das Problem ist nicht der Mangel – weder an Priestern noch an Gläubigen. Das Problem liegt in der Verkündigung. Diese Erkenntnis ist nicht neu. Die Kirche und ihre Gemeinden müssen sich auf ihren Auftrag der Verkündigung konzentrieren und die Menschen persönlich zum Glauben an Jesus Christus begeistern. Aus der Verkündigung erwächst das Priesteramt. Der Priestermangel ist kein Mangel an Berufungen, sondern eine Krise der Verkündigung sowie zugleich eine Krise des Priesteramtes und seiner Relevanz.
Bildnachweis
Titelbild: Hand zeigend Zeigefinger Daumen Finger Skizze, von AlexandruPetre. Lizenz: gemeinfrei.
Einzelnachweis
1. | ↑ | „‘Ich kenne auch die leeren Momente‘, Was bedeutet Glaube? Ein ZEIT-Gespräch mit Papst Franziskus“, Interviewer: Giovanni Di Lorenzo, Die Zeit, 9.03.2017. |
2. | ↑ | „‘Ich kenne auch die leeren Momente‘, Was bedeutet Glaube? Ein ZEIT-Gespräch mit Papst Franziskus“, Interviewer: Giovanni Di Lorenzo, Die Zeit, 9.03.2017. |
3. | ↑ | „Katholische Kirche in Deutschland. Priesterweihen nach Diözesen 1962-2015“, Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz, 2015 [Stand: 10. März 2017]. |
4. | ↑ | „Theologie des priesterlichen Dienstes“, Franz Joseph Baur, 2009 [Stand: 10. März 2017]. |
5. | ↑ | „Zuversicht im Niedergang?“, Stefan Kiechle, Herder Korrespondenz 63/11 (2009) [Stand: 10. März 2017] |
6. | ↑ | Vgl. dazu auch „Berufung ist kein Gnadenlos“, Werner Kleine, Dei Verbum [Stand: 10. März 2017]. |
7. | ↑ | „Berufung /Berufungsbericht (AT)“, Aaron Schart, in: WiBiLex (2010) [Stand: 10. März 2017]. |
[…] jenem bewegen zu können, offenbart nur seinen Kleinglauben. Gott ist kein Kellner, bei dem man Berufungen oder Schicksale oder die eigene Erlösung bestellt. Keine Tat, kein Wort, keine Gabe, kein Werk ist […]
Zum Thema hier auch noch der Hinweis auf einen älteren Text von Werner Kleine: Berufung ist kein Gnadenlos. Neutestamentliche Überlegungen zur Wiederentdeckung der Charismenorientierung http://www.dei-verbum.de/berufung-ist-kein-gnadenlos/