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Die Moral ist wieder in vieler Munde. Wo das Recht seine Grenzen findet, wird moralische Verantwortung gefordert. Die Moral erfährt einen ungeahnten Konjunkturaufschwung, als die Veröffentlichung des Gutachtens der Kanzlei Gercke/Wollschläger über „Pflichtverletzungen von Diözesanverantwortlichen des Erzbistums Köln im Umgang mit Fällen sexuellen Missbrauchs von Minderjährigen und Schutzbefohlenen durch Kleriker oder sonstige pastorale Mitarbeitende des Erzbistums Köln im Zeitraum von 1975 bis 2018“1) am 18. März 2021 veröffentlicht wurde. Viel wurde vorher über mögliche Vertuschungsabsichten des Kölner Erzbischofes Rainer Maria Kardinal Woelki gemutmaßt, die bei näherer Betrachtung nach der Veröffentlichung des Gutachtensam 18. März 2021 so nicht mehr zu halten waren; auch sprach das Gutachten den Kölner Erzbischof Reiner Maria Kardinal Woelki von möglichen begangenen Pflichtverletzungen frei, wobei darauf verwiesen wurde, dass auch das bisher zurückgehaltene Gutachten der Münchener Kanzlei Westpfahl, Spielker, Wastl (WSW) ebenso zu diesem Schluss gekommen ist wie eine entsprechende Stellungnahme des Vatikan daselbst. Es wurde also nichts mit der von manchem als sicher festgestellten Notwendigkeit eines Rücktritts des amtierenden Kölner Erzbischofs. Stattdessen erwies sich der Erzbischof als entscheidungsstark, indem er unmittelbar nach der Vorstellung des Gutachtens erste personelle Konsequenzen zog und den Offizial und einen Weihbischof des Erzbistums Köln vorläufig vom Dienst freistellte2). Das hatten wohl nur die Wenigsten erwartet. Um so weniger überraschend waren die Reaktionen derer, die sich vor der Veröffentlichung des Gutachtens schon entsprechend positioniert hatten. Die aus dem Team „Woelki“ feierten einen Freispruch erster Klasse, während die aus dem Team „Der Kardinal muss gehen“ nach einer kurzen Phase der Irritation die eigene Fasson wiederfanden und nun eine moralische Verantwortung einklagten. Als ehemaliger Geheimsekretär und Weihbischof muss er doch etwas gewusst haben … Sicher, wird man mutmaßen können, sicher wird er etwas gewusst haben. Hier aber ging es um diejenigen, die Verantwortung trugen. Dieser Einwand aber wurde und wird flugs mit dem Hinweis auf die moralische Verantwortung, der es gerecht zu werden gälte, gekontert. Was aber ist Moral? Wer legt die Maßstäbe und Normen fest, nach denen moralische Urteile gefällt werden können? Und: Hat es nicht einen Sinn, dass juristische Urteile sich moralischer Wertungen in der Regel konsequent verweigern – möglicherweise auch deshalb, weil „Moral“ oft so schwer zu fassen ist?
Die moralische Richtschnur kennt viele Windungen
Zweifelsohne orientiert sich moralisches Handeln an Werten und Normen. Nur: Wer legt diese fest? Gibt es einen objektiven ethischen Kompass, an dem sich moralisches Handeln bemessen lässt? Hier wird es schwierig. Jede und jeder, der es in früheren Zeiten, als die Wehrpflicht noch bestand und man den Kriegsdienst an der Waffe aus Gewissensgründen verweigern konnte, Gewissensprüfungen als Kriegsdienstverweigerer oder als Beistand miterlebte, weiß, wie schwer es ist, moralische Urteile objektiv zu überprüfen. Man kann moralische Entscheidungen, die jemand in seinem Gewissen fällt, eben nicht beweisen. Deshalb galt in den Prüfungen bei der Urteilsfindung auch der Parameter, dass es keine erheblichen Zweifel an einer entsprechenden moralischen Entscheidung im Gewissen geben dürfte. Dabei war allein schon die Frage, was denn dieses Gewissen sei, eine erhebliche Klippe: Wie definiert jemand „sein“ Gewissen? Und: Wie verbindlich sind die Urteile, die er vor seinem Gewissen fällt? Philosophie, Humanismus, Religionen – sie alle befassen sich mit einem Phänomen, dass man eben nicht einfach objektiv determinieren kann. Auf der anderen Seite muss man sich diesem Phänomen auch stellen, kennen doch prinzipiell alle Menschen diese innere Stimme, mit der ethische Urteile gefällt werden, wobei durchaus Maßstäbe und Normen zur Beurteilung herangezogen werden. Nur bleibt die Frage, ob diese moralischen Normen auch objektiv verbindlich sind. Offenkundig kann diese moralische Richtschnur viele Windungen haben. So mag jemand beispielsweise die Kirche als makellos reine Braut Christi verstehen, deren Brautkleid durch keinen Fleck besudelt sein darf. Ein solcher Mensch kann sich durchaus auf gutem biblischen Grund bewegen, wenn er etwa in die Offenbarung des Johannes schaut:
Halleluja! Denn König geworden ist der Herr, unser Gott, der Herrscher über die ganze Schöpfung. Wir wollen uns freuen und jubeln und ihm die Ehre erweisen. Denn gekommen ist die Hochzeit des Lammes und seine Frau hat sich bereit gemacht. Sie durfte sich kleiden in strahlend reines Leinen. Das Leinen bedeutet die gerechten Taten der Heiligen.
Wer sich in gut katechetischer Ausblendung anderer biblischer Texte im Steinbruch des Wortes Gottes willkürlich bedient, kann hieraus geradezu ableiten, dass alles, was nicht gerechte Taten sind, unter den Teppich muss. Da wird es zwar weiter vor sich hin modern. Was aber so im Nebel verschwindet, gefährdet die Reinheit der Braut nicht. Ihr Leinen bleibt strahlend rein. Zweifelsohne ein moralisches Urteil eines klerikalen, frommen Gewissens – eines Gewissens, dass ebenso zweifellos irren dürfte, wenn man weiterblättert. So heißt es nur einen Vers später:
Selig, wer zum Hochzeitsmahl des Lammes eingeladen ist!
Dieser Vers mag auf den ersten Blick nicht nur nicht erschrecken, sondern die moralische, um den reinen Schein bemühte Volte sogar zu stärken. Schaut man nun aber genau hin, dann kann man hier doch eine Parallele zu jenem Hochzeitsmahl erkennen, von dem Jesus im Matthäusevangelium in Form eines Gleichnisses spricht:
Mit dem Himmelreich ist es wie mit einem König, der seinem Sohn die Hochzeit ausrichtete. Er schickte seine Diener, um die eingeladenen Gäste zur Hochzeit rufen zu lassen. Sie aber wollten nicht kommen. Da schickte er noch einmal Diener und trug ihnen auf: Sagt den Eingeladenen: Siehe, mein Mahl ist fertig, meine Ochsen und das Mastvieh sind geschlachtet, alles ist bereit. Kommt zur Hochzeit! Sie aber kümmerten sich nicht darum, sondern der eine ging auf seinen Acker, der andere in seinen Laden, wieder andere fielen über seine Diener her, misshandelten sie und brachten sie um. Da wurde der König zornig; er schickte sein Heer, ließ die Mörder töten und ihre Stadt in Schutt und Asche legen. Dann sagte er zu seinen Dienern: Das Hochzeitsmahl ist vorbereitet, aber die Gäste waren nicht würdig. Geht also an die Kreuzungen der Straßen und ladet alle, die ihr trefft, zur Hochzeit ein! Die Diener gingen auf die Straßen hinaus und holten alle zusammen, die sie trafen, Böse und Gute, und der Festsaal füllte sich mit Gästen. Als der König eintrat, um sich die Gäste anzusehen, bemerkte er unter ihnen einen Menschen, der kein Hochzeitsgewand anhatte. Er sagte zu ihm: Freund, wie bist du hier ohne Hochzeitsgewand hereingekommen? Der aber blieb stumm. Da befahl der König seinen Dienern: Bindet ihm Hände und Füße und werft ihn hinaus in die äußerste Finsternis! Dort wird Heulen und Zähneknirschen sein. Denn viele sind gerufen, wenige aber auserwählt.
Da ist einer, der kein Hochzeitsgewand anhat. Obwohl auch die anderen frisch von der Straße weg gekommen sind, waren sie offenkundig bereit. Dieser eine aber hat kein Hochzeitsgewand, schlimmer noch: Er kann auf Nachfrage auch keine Antwort geben, warum er es nicht anhat. Die Braut mag rein sein. Dieser hier aber hat sich besudelt und darf nicht nur nicht mitfeiern. Er wird verdammt. Das unter den Teppich gekehrte fängt an zu stinken.
Moralischer Paradigmenwechsel
Wer also nach dem Augenschein handelt, macht Bert Brechts Diktum, dass zuerst das Fressen und dann die Moral komme, alle Ehre. Auch das ist – merkwürdigerweise – ein moralisches Urteil, aber es führt in die Irre. Offenkundig kann die Kirche als Braut Christi ihr Gewand nur rein halten, wenn sie sich mit dem Blut der Opfer besudelt:
Da nahm einer der Ältesten das Wort und sagte zu mir: Wer sind diese, die weiße Gewänder tragen, und woher sind sie gekommen? Ich erwiderte ihm: Mein Herr, du weißt das. Und er sagte zu mir: Dies sind jene, die aus der großen Bedrängnis kommen; sie haben ihre Gewänder gewaschen und im Blut des Lammes weiß gemacht. Deshalb stehen sie vor dem Thron Gottes und dienen ihm bei Tag und Nacht in seinem Tempel; und der, der auf dem Thron sitzt, wird sein Zelt über ihnen aufschlagen.
Um rein zu sein, muss man sich erst einmal die Hände schmutzig machen – ganz so, wie es Jesus selbst sagt:
Amen, ich sage euch: Was ihr für einen meiner geringsten Brüder getan habt, das habt ihr mir getan.
– wobei nicht nur gilt, was man getan, sondern auch, was man nicht getan hat:
Amen, ich sage euch: Was ihr für einen dieser Geringsten nicht getan habt, das habt ihr auch mir nicht getan. Und diese werden weggehen zur ewigen Strafe, die Gerechten aber zum ewigen Leben.
Da hilft kein noch so frommes Leben, wenn die Taten dem Bekenntnis Hohn spotten. Wer sich nur um den schönen Schein kümmert, bleibt auch bei aller Frömmigkeit ein geistloser Hohlkörper. Wer hingegen dem göttlichen Geist Gestalt gibt, wird sich äußerlich möglicherweise beschmutzen müssen, innerlich aber zum Tempel Gottes werden:
Wisst ihr nicht, dass ihr Gottes Tempel seid und der Geist Gottes in euch wohnt? Wer den Tempel Gottes zerstört, den wird Gott zerstören. Denn Gottes Tempel ist heilig und der seid ihr.
Die Moral einer Gesellschaft zeigt sich in dem, was sie für ihre Kinder tut. Dietrich Bonhoeffer
O Tempora, o mores
Was aus christlicher Perspektive so eindeutig erscheint, ist es bei näherer Betrachtung allerdings nicht. Die Moral – griechisch ἔθος (gesprochen: éthos) – ist wandelbar. Dabei meint der griechische Begriff ἔθος tatsächlich eher äußere Erscheinungsweisen wie „Brauch“ oder „Sitte“. ἔθος ist das, was Sitte ist – also gerade noch kein moralische Urteil im Sinne eines inneren Gewissensspruchs, wie man es heute meinen könnte. Man kann das schön sehen, wenn die frühen Christen in ethische Konflikte mit ihrer Umwelt geraten. Stephanus etwa wird unter anderem eines ethischen Bruchs angeklagt:
Dieser Jesus, der Nazoräer, wird diesen Ort zerstören und die Bräuche (τὰ ἔθη – gesprochen: tà éthe) ändern, die uns Mose überliefert hat.
Selbst innerhalb der frühen christlichen Gemeinden gibt es den Streit um „Bräuche“ – ein Konflikt, in den auch Paulus gerät:
Es kamen einige Leute von Judäa herab und lehrten die Brüder: Wenn ihr euch nicht nach dem Brauch (τῷ ἔθει – gesprochen: tô éthei) des Mose beschneiden lasst, könnt ihr nicht gerettet werden. Da nun nicht geringer Zwist und Streit zwischen ihnen und Paulus und Barnabas entstand, beschloss man, Paulus und Barnabas und einige andere von ihnen sollten wegen dieser Streitfrage zu den Aposteln und den Ältesten nach Jerusalem hinaufgehen.
Andererseits kann sich Paulus auf besondere Sitten des römischen Rechtswesens berufen:
Sie forderten seine Verurteilung, ich aber erwiderte ihnen, es sei bei den Römern nicht Sitte (ἔθος Ῥωμαίοις – gesprochen: éthos Rhomaíois), einen Menschen auszuliefern, bevor nicht der Angeklagte den Anklägern gegenübergestellt sei und Gelegenheit erhalten habe, sich gegen die Anschuldigungen zu verteidigen.
Ethik ist also etwas, was durch Umstände, Gewöhnung, Brauch und Sitte geprägt – und damit auch wandelbar ist. Es ist ja gerade der ethische Wandel, der die frühen Christen in Konflikt mit ihrer Umwelt bringt. Eine absolut stehende, objektiv verbindliche Ethik scheint es in diesem Sinn nicht zu geben. Es hat einen Grund, warum „Moral“ in juristischen Auseinandersetzungen bestenfalls als Mahnung, nicht aber als Mittel der Urteilsfindung dient. Sie ist letztlich zu diffus, abhängig von kulturellen, lebensgeschichtlichen, mentalen Vorurteilen und vielem anderen mehr. Wer „Moral“ einfordert, muss deshalb die Maßstäbe benennen, nach denen er „Moral“ misst.
Mitwisserschaften
Letztlich bleibt das ethische Urteil deshalb immer auch Sache des Einzelnen. Er muss sich, wie man so einfach sagt, vor seinem „Gewissen“ rechtfertigten. Biblische gesehen, ist dieser Begriff bemerkenswert, bedeutet das griechische συνείδησις (gesprochen: syneídesis) wörtlich „Mit-Wissen“ im Sinne eines umfassenden Wissens. Auch das deutsche Präfix „Ge-“ deutet in diese Richtung. Das Gewissen bildet seine Urteile nämlich nicht nach dem äußeren Anschein, sondern bezieht in den Spruch vor dem inneren Gerichtshof, dem forum internum, immer auch weitere Aspekte mit ein: Erfahrungen, Intuitionen, Sympathien (im Wortsinn des Mit-Leidens), sachliche Urteile aufgrund von Beobachtungen, aber auch ethische Aspekte und vieles andere mehr. Das Gewissen bedarf deshalb immer einer Bildung, damit es eine gute Richtschnur für die entsprechenden Urteile liefern kann. Das ist insbesondere dann von Belang, wenn es moralische Dilemmata gibt, Situationen, in denen es keine echten sauberen Lösungen geben kann. Man kann Menschen, die über eine mangelhafte Gewissensbildung verfügen, daran erkennen, dass sie diese Dilemmata gar nicht erkennen und nach Schwarz-Weiß-Mustern entscheiden – als ob der Umgang mit „Moral“ ein einfaches Geschäft wäre. In dilemmatösen Krisen erweist sich deshalb nicht nur der Charakter, sondern auch der Grad der Gewissensbildung. Wer hier glaubt, die Hände sauber halten zu können, hält sein Gewissen geschickt klein. Die Weste eines solchen Menschen ist nur deshalb makellos, weil er letztlich nackt ist. Haben solche Menschen überhaupt ein Gewissen, wenn sie Urteile über andere in moralischen Dilemmata fällen? Und kann, wer über ein so kleines Gewissen verfügt, überhaupt ethische Urteile treffen?
Paulus jedenfalls stellt fest, dass Gewissen und Frömmigkeit nicht zwingend voneinander abhängen, wenn er auf die Heiden verweist:
Sie zeigen damit, dass ihnen die Forderung des Gesetzes ins Herz geschrieben ist; ihr Gewissen (τῆς συνειδήσεως – gesprochen: tês syneidéseos) legt Zeugnis davon ab, ihre Gedanken klagen sich gegenseitig an und verteidigen sich – an jenem Tag, an dem Gott, wie ich es in meinem Evangelium verkünde, das, was im Menschen verborgen ist, durch Jesus Christus richten wird.
Es ist also ein Herzensurteil, das gesprochen wird – und keines, das sich an bloßer Befolgung juristischer Normen messen lässt. Das zeigt auch der Fortgang der paulinischen Überlegungen:
Wenn du dich aber Jude nennst, dich auf das Gesetz verlässt und dich Gottes rühmst, seinen Willen kennst und, belehrt aus dem Gesetz, zu beurteilen weißt, worauf es ankommt; wenn du dir zutraust, Führer zu sein für Blinde, Licht für die in der Finsternis, Erzieher der Unverständigen, Lehrer der Unmündigen, da du im Gesetz die Verkörperung von Erkenntnis und Wahrheit besitzt. – Du belehrst also andere Menschen, aber dich selbst belehrst du nicht? Du predigst: Du sollst nicht stehlen! und du stiehlst? Du sagst: Du sollst die Ehe nicht brechen! und brichst sie? Du verabscheust die Götzenbilder, begehst aber Tempelraub? Du rühmst dich des Gesetzes, entehrst aber Gott durch Übertreten des Gesetzes. Denn euretwegen wird unter den Heiden der Name Gottes gelästert, wie geschrieben steht.
Das bloße Verkünden des Gesetzes macht einen Menschen noch nicht zu einer gewissenhaften Person. Die reine Lehre macht noch kein Leben. Es ist die Herzensbildung, die erforderlich ist. Kalte Herzen urteilen, Herzen aus Fleisch leben.
Stein und Fleisch
Bereits bei den Propheten des altehrwürdigen Bundes steht die Bedeutung eines durch die göttliche Norm gebildeten Herzens im Zentrum moralischen Handelns:
Siehe, Tage kommen – Spruch des HERRN – , da schließe ich mit dem Haus Israel und dem Haus Juda einen neuen Bund. Er ist nicht wie der Bund, den ich mit ihren Vätern geschlossen habe an dem Tag, als ich sie bei der Hand nahm, um sie aus dem Land Ägypten herauszuführen. Diesen meinen Bund haben sie gebrochen, obwohl ich ihr Gebieter war – Spruch des HERRN. Sondern so wird der Bund sein, den ich nach diesen Tagen mit dem Haus Israel schließe – Spruch des HERRN: Ich habe meine Weisung in ihre Mitte gegeben und werde sie auf ihr Herz schreiben. Ich werde ihnen Gott sein und sie werden mir Volk sein. Keiner wird mehr den andern belehren, man wird nicht zueinander sagen: Erkennt den HERRN!, denn sie alle, vom Kleinsten bis zum Größten, werden mich erkennen – Spruch des HERRN.
Schon hier wird deutlich, dass die Einschreibung des Gesetzes durch Gott zur Herzensbildung führt. Ohne das lebendige Herz bleibt die Gesetzesnorm kalt. Wie sehr der Bund Gottes in die Herzen aus Fleisch geschrieben sein möchte, entfaltet auch Paulus, der wohl die Worte des Jeremia aufnimmt und weiterführt:
Unverkennbar seid ihr ein Brief Christi, ausgefertigt durch unseren Dienst, geschrieben nicht mit Tinte, sondern mit dem Geist des lebendigen Gottes, nicht auf Tafeln aus Stein, sondern – wie auf Tafeln – in Herzen von Fleisch.
Kalte Herzen urteilen, warme Herzen schlagen, pochen Blut durch die Adern, beleben des Fleisch, machen die Hände kräftig, um bei denen zu sein, die der Hilfe besonders bedürfen. Kalte Herzen empfinden kein Mitleid mit den Betroffenen. Kalte Herzen können kein Gewissen haben. Kann man da Moral einfordern, wenn Moral ein Wort ist, das man zwar orthographisch korrekt schreiben, nicht aber mit warmem Herzen empfinden kann?
Kalte Herzen sind zur Erkenntnis unfähig, warme Herzen hingen leiden mit – und im Mitleiden wird Heilung möglich. Während kalte Herzen klamme Nebel umwabern, suchen warme Herzen das Leben. So sollte es Sitte und Brauch sein in der Kirche jenes Jesus von Nazareth, von dem es heißt, dass das Schicksal der Armen und Schwachen ihm so nahe ging, dass es ihm in die Eingeweide fährt (σπλανγχνίζεσθαι – gesprochen: splangchnízesthai – etwa in Matthäus 22,34). Wen das Schicksal der Betroffenen kalt lässt, der sollte noch einmal in die Gewissensschule gehen und prüfen, ob er vor seinem inneren Gerichtshof bestehen kann. Die Richtschnur für die Moral derer, die sich auf Jesus von Nazareth berufen, kann nur sein Handeln sein. Er aber steht an der Seite der Armen und Schwachen. Hütet euch aber, vorschnell von Moral zu reden. Es könnte euch selbst treffen. Auch heute noch kommt bei vielen die Befriedigung eigener Bedürfnisse vor der Moral. Wer da mit dem Finger auf andere zeigt, sollte sich klar machen, dass drei Finger immer auf einen selbst zurückverweisen. Jede und jeder prüfe sich deshalb selbst, ob alles getan wurde, um die Armen und Schwachen zu schützen. Die Moral ist von flüchtigem Wesen und Herzen können schneller erkalten, als man denkt.
Bildnachweis
Titelbild: Hand (geralt) – Quelle: Pixabay – lizenziert mit der Pixabay License.
Einzelnachweis
1. | ↑ | Quelle: https://mam.erzbistum-koeln.de/m/2fce82a0f87ee070/original/Gutachten-Pflichtverletzungen-von-Diozesanverantwortlichen-im-Erzbistum-Koln-im-Umgang-mit-Fallen-sexuellen-Missbrauchs-zwischen-1975-und-2018.pdf [Stand: 21. März 2021]. |
2. | ↑ | Vgl. hierzu die Meldung auf der Homepage des Erzbistums Köln „Kardinal Woelki stellt im Gutachten genannte Verantwortungsträger frei“ vom 18.3.2021 – Quelle: https://www.erzbistum-koeln.de/rat_und_hilfe/sexualisierte-gewalt/studien/unabhaengige-untersuchung/ [Stand: 21. März 2021]. |