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Es gibt sie immer wieder, diese magischen Worte, die – vorwiegend in pastoraltheologischen Diskursen – nach verheißungsvollen Visionen klingen, sich aber immer wieder als unvollendete Utopien entpuppen. Egal ob es Begriffe wie „Charismenorientierung“, „Ekklesiopreneurship“, „Gründerinitiativen“, „pastorale Startups“, „FreshXpressions“, „synodale Wege“ oder allgemeiner „Zukunftswege“ sind – immer schwingt die Hoffnung mit, das der archimedische Punkt einer erlösenden Methode gefunden würde, an der man den Hebel gleich einem Zauberstab ansetzen kann – und schon kommen die Menschen wieder zum Glauben und bevölkern in Scharen die Kirche. „Halleluja“ wird sie dann singen können, die una sancta, „ich darf so bleiben, wie ich bin!“.
Irgendwas mit Zukunft
Alle bisherigen Strategieprozesse – gleich, ob man sie als „Pastorale Zukunftswege“, „Zukunftsbildprozesse“ oder „Pfarreireform“ bezeichnet – hoffen, wenn schon nicht visionär, so doch wenigstens utopisch zu sein. Visionär wären sie, wenn sie strategisch im heute ansetzen würden und mit den faktischen Kontexten der Welt eine Idee entwerfen würden, wie die Kirche ihren Weg in der Welt unter den Rahmenbedingungen, die eben dieser Welt eignet, mit und zu den Menschen gehen könnte. Das würde eine gewisse Flexibilität und Integrationsfähigkeit bedeuten, eine kommunikative Veranlagung zu echtem Diskurs, die darum weiß, dass man die Wahrheit nie besitzen, wohl sich ihr immer neu annähern und sie finden kann. Utopisch hingegen erscheinen die Prozesse mit den vielen, fast schon zwangsneurotisch progressiven Namen schon eher. Sie nehmen zwar wahr, dass die Rahmenbedingungen, in denen die Kirche sich ereignet, nicht mehr die sind, die sie mal waren, man auf dieser schwindsüchtigen Basis aber die Struktur, die Methode, den einen Glaubenskurs zu finden hofft, mit der alles wieder so werden soll, wie es dann wohl nie wahr. Die Eigenart von Utopien ist eben, dass sie οὐ τόπος (gesprochen: ou tópos) – ohne Ort – sind. Utopien sind eben Hoffnungen, von denen man weiß, dass sie sich nie erfüllen werden – schöne Phantasien, Träume, schillernde Seifenblasen, die schneller platzen als man sich an ihnen ergötzen kann. Sind also die ganzen Zukunfts-, Leitbild-, Pfarreireform- und Kirchenentwicklungsprozesse, die es landauf landab in den (Erz-)Bistümern in deutschen Landen derzeit gibt, eher Visionen oder Utopien? Lassen sie sich von dem Wort des Paulus inspirieren, der visionär mit Blick auf das gelebte Leben Abrahams ausruft?
Gegen alle Hoffnung hat er voll Hoffnung geglaubt, dass er der Vater vieler Völker werde, nach dem Wort: So zahlreich werden deine Nachkommen sein.
Oder ergeben sie sich letztlich der träumerischen Utopie, man könne eine heilige Kirche ohne die Rahmenbedingungen der Welt, wie sie nun einmal ist, erschaffen? – oder, um es erneut mit Worte des Paulus zu sagen:
Denn das Reich Gottes ist nicht Essen und Trinken, sondern Gerechtigkeit, Friede und Freude im Heiligen Geist.
Dystopie
Freilich weiß auch Paulus, dass die Utopie purer Gerechtigkeit, reinen Friedens und tiefer Freude im Heilige Geist sich erst im Reich Gottes, der βασιλεία τοῦ θεοῦ (gesprochen: basileía toû theoû) ereignen werden. Die Kirche allerdings ist eben nicht das Reich Gottes; ihre Aufgabe ist es vielmehr, das nahe Reich Gottes zu verkünden – und eben darin Jesus Christus ähnlich zu werden. Es ist kein Zufall, dass das Markusevangelium die Botschaft und das Handeln Jesu Christi geradezu programmatisch in einem Wort in seinem Mund zusammenfasst:
Nachdem Johannes ausgeliefert worden war, ging Jesus nach Galiläa; er verkündete das Evangelium Gottes und sprach: Die Zeit ist erfüllt, das Reich Gottes ist nahe. Kehrt um und glaubt an das Evangelium!
Umkehr und Erkenntnis des nahen Reiches Gottes – all das wird Jesus in der Darstellung der Evangelien immer wieder in Wort und Tat verkünden, bezeugen und vorleben – aber eben unter den Rahmen einer Welt, in der er sich durchaus mit einem bemerkenswerten Vorwurf konfrontiert sah:
Der Menschensohn ist gekommen, er isst und trinkt und sie sagen: Siehe, ein Fresser und Säufer, ein Freund der Zöllner und Sünder! Und doch hat die Weisheit durch ihre Taten Recht bekommen.
So mag zwar das Reich Gottes nicht Essen und Trinken sein, wie Paulus in Römer 14,17 anmahnt; die Verkünderinnen und Verkünder des nahen Reiches Gottes bleiben Jesus Christus aber wohl doch ähnlicher als viele denken, wenn sie es auch beim Essen und Trinken verkünden – insbesondere denen, denen man in heiligen Gefilden wohl weniger begegnet. Das ist eine geradezu heilige Dystopie, eine sakrale Störung, Riss himmlischer Verengungen: Essen und Trinken, weltliche, irdische, fleischliche Bedürfnisse sind zwar nicht das Reich Gottes; man kommt ihm aber darin schon sehr, sehr nahe … Wer hingegen sich vermeintlich selbst heiligend den Blick in bloß himmlische Sphären erhebt, der kann schon über kleine Unebenheiten stolpern, die in der Welt überall lauern. Wer hoch fliegt, kann auch tief fallen.
Heiliges Fleisch und fleischliche Heiligkeit
Heiligkeit und Fleischlichkeit, das Himmlische und das Irdische scheinen für Jesus selbst keine Widersprüche gewesen zu sein. Wie auch – heißt es doch im Johannesevangelium:
Und das Wort ist Fleisch geworden und hat unter uns gewohnt und wir haben seine Herrlichkeit geschaut, die Herrlichkeit des einzigen Sohnes vom Vater, voll Gnade und Wahrheit.
Das eine setzt die Bedingungen für das andere. Das eine gibt dem anderen Form, eine Form, die durch das andere bestimmt und bedingt wird. Fleischliches und Heiliges sind gerade keine Gegensätze, sondern Korrelate. Das Heilige muss Fleisch werden, damit es wirken kann. Und Fleischliches ohne Heiligkeit vermodert, verrottet, stinkt zum Himmel. Wer auch immer Welt und Heiligkeit in eine dualistische Gegensätzlichkeit bringen möchte, wird nicht nur Jesus Christus unähnlich. Er wird auch den tieferen Sinn der Mahnung nicht verstehen, die in den johanneischen Abschiedsworten Jesu an die seinen liegt:
Aber jetzt komme ich zu dir und rede dies noch in der Welt, damit sie meine Freude in Fülle in sich haben. Ich habe ihnen dein Wort gegeben und die Welt hat sie gehasst, weil sie nicht von der Welt sind, wie auch ich nicht von der Welt bin. Ich bitte nicht, dass du sie aus der Welt nimmst, sondern dass du sie vor dem Bösen bewahrst. Sie sind nicht von der Welt, wie auch ich nicht von der Welt bin. Heilige sie in der Wahrheit; dein Wort ist Wahrheit. Wie du mich in die Welt gesandt hast, so habe auch ich sie in die Welt gesandt. 19 Und ich heilige mich für sie, damit auch sie in der Wahrheit geheiligt sind.
Die Welt mag der Ort der Vergegenwärtigung des Heiligen sein. In einer gegenseitigen Verwiesenheit kann das eine nicht ohne das andere sein. Und doch ist beides unvermischt, geht nicht ineinander auf. Eine Welt hätte schließlich keine Heiligung nötig, wenn sie in sich absolut heilig wäre. Die Welt ist gut, aber – Gott sei Dank! – nie perfekt. Deshalb müssen sich die Verkünderinnen und Verkünder immer klar machen, dass sie das nahe Reich Gottes in der Welt verkünden sollen, auch mit den Mitteln der Welt, nie aber darin in den rein weltlichen Spielregeln aufgehend, weil sie eben in, aber nicht von der Welt sind. Wenn sie das vergessen, fangen sie an, den Prozessen von Werden und Vergehen der Welt zu unterliegen. Fleischliches wird verrotten, vermodern und zu stinken anfangen.
Sakrale Sepsis
Woran aber merkt man, dass etwas schief läuft – nicht weil dem einen oder der anderen irgendetwas an der Kirche, wie sie ist, nicht gefällt – sondern so richtig schief? Woran merkt man, dass diejenigen, die in der Kirche Verantwortung tragen, den inneren Kompass und das Bewusstsein verloren haben, dass sie in Welt gesandt sind von einem, der nicht von der Welt ist? Prototypisch haben es die zwölf Apostel schon zu irdischen Lebzeiten Jesu getan:
Sie kamen nach Kafarnaum. Als er dann im Haus war, fragte er sie: Worüber habt ihr auf dem Weg gesprochen? Sie schwiegen, denn sie hatten auf dem Weg miteinander darüber gesprochen, wer der Größte sei. Da setzte er sich, rief die Zwölf und sagte zu ihnen: Wer der Erste sein will, soll der Letzte von allen und der Diener aller sein. Und er stellte ein Kind in ihre Mitte, nahm es in seine Arme und sagte zu ihnen: Wer ein solches Kind in meinem Namen aufnimmt, der nimmt mich auf; und wer mich aufnimmt, der nimmt nicht nur mich auf, sondern den, der mich gesandt hat.
Der Rangstreit um die Frage, wer denn nun größer unter ihnen sei, ist an sich schon ein Zeichen des Verfalls unter jenen, die symbolisch an die Stammväter Israels erinnern sollen – jene zwölf Brüder und Söhne Jakobs, die als Brüder Stammväter Israels wurden. Niemand von ihnen war größer als die anderen. Jeder hatte seinen Auftrag. Wo schon um Posten gerangelt wird, macht sich das Reich Gottes schnell von dannen …
Aber es gibt noch einen anderen Marker sakraler Sepsis, der anzeigt, dass jene, die in der Kirche Verantwortung tragen, Männer wie Frauen, nicht den Pfad der Weisung Gottes, sondern den Weg der Frevler gehen (vgl. Psalm 1). Wieder ist es Paulus, der unverhohlen auf eine fundamentale Gefahr der Gemeinschaft der Heiligen hinweist:
Wagt es einer von euch, der mit einem anderen einen Rechtsstreit hat, vor das Gericht der Ungerechten zu gehen, statt zu den Heiligen? Wisst ihr denn nicht, dass die Heiligen die Welt richten werden? Und wenn durch euch die Welt gerichtet wird, seid ihr dann nicht zuständig, einen Rechtsstreit über Kleinigkeiten zu schlichten? Wisst ihr nicht, dass wir über Engel richten werden? Also erst recht über Alltägliches. Wie könnt ihr dann jene, die im Urteil der Gemeinde nichts gelten, als Richter einsetzen, wenn ihr einen Rechtsstreit über Alltägliches auszutragen habt? Ich sage das, damit ihr euch schämt. Gibt es denn unter euch wirklich keinen, der über die Weisheit verfügt, zwischen Brüdern zu entscheiden? Stattdessen zieht ein Bruder den andern vor Gericht, und zwar vor Ungläubige. Ist es nicht überhaupt schon ein Versagen, dass ihr miteinander Prozesse führt? Warum leidet ihr nicht lieber Unrecht? Warum lasst ihr euch nicht lieber übervorteilen? Nein, ihr selber begeht Unrecht und übervorteilt, und zwar Brüder. Wisst ihr denn nicht, dass Ungerechte das Reich Gottes nicht erben werden? Täuscht euch nicht!
Es stinkt zum Himmel!
Wenn Sie, liebe Leserin und lieber Leser, jetzt ein Déjà-vu haben, dann ist das kein Zufall. Wir sind seit Jahren Zeuginnen und Zeugen einer gepflegten Entsakralisierung der Kirche, für die viele – sicher nicht alle! – verantwortlich sind, die durch eine Weihe ontologisch dem normalen Leben entrückt oder sich durch ein Gelübde vermeintlich aus den irdischen Gefilden zurückgezogen haben. Es begann sicher nicht erst mit dem Offenbarwerden der Missbrauchsfälle durch Kleriker im Jahr 2009. Das zersetzende und toxische Myzel weltentrückter Sakralität wuchert, wie man spätestens seit der im September 2018 veröffentlichten MHG-Studie zu sexuellem Missbrauch an Minderjährigen durch Kleriker und Ordensangehörige im Bereich der deutschen Bischofskonferenz1), schon seit Jahrzehnten in einer Kirche, die sich heilig wähnt, tatsächlich aber für viel Unheiliges verantwortlich ist. Aber da liegt schon ein weiterer Knackpunkt: Wer ist verantwortlich? Wer hat sich schuldig gemacht? Die Kirche ist zwar als Körperschaft des öffentlichen Rechtes eine juristische Person; als Kirche aber ist sie nicht greifbar. Sie ist zu abstrakt. Es sind ja Menschen, die als Ganzes die Kirche bilden – vermeintlich aus dem Wirken des Heiligen Geistes. Wer also ist es, der oder die in der Kirche Verantwortung für solche Taten trägt und so den Blick auf das nahe Reich Gottes verstellt? Ist es nicht erbärmlich, dass die Opfer um ihr Recht kämpfen müssen? Offenkundig kennen die, die in der Kirche Verantwortung tragen, die Worte aus dem Munde Jesu nicht, wie sie im Lukasevangelium überliefert sind:
Jesus sagte ihnen durch ein Gleichnis, dass sie allezeit beten und darin nicht nachlassen sollten: In einer Stadt lebte ein Richter, der Gott nicht fürchtete und auf keinen Menschen Rücksicht nahm. In der gleichen Stadt lebte auch eine Witwe, die immer wieder zu ihm kam und sagte: Verschaff mir Recht gegen meinen Widersacher! Und er wollte lange Zeit nicht. Dann aber sagte er sich: Ich fürchte zwar Gott nicht und nehme auch auf keinen Menschen Rücksicht; weil mich diese Witwe aber nicht in Ruhe lässt, will ich ihr Recht verschaffen. Sonst kommt sie am Ende noch und schlägt mich ins Gesicht. Der Herr aber sprach: Hört, was der ungerechte Richter sagt! Sollte Gott seinen Auserwählten, die Tag und Nacht zu ihm schreien, nicht zu ihrem Recht verhelfen, sondern bei ihnen zögern? Ich sage euch: Er wird ihnen unverzüglich ihr Recht verschaffen. Wird jedoch der Menschensohn, wenn er kommt, den Glauben auf der Erde finden?
Können die, die von sich glauben, an Stelle Christi als des Hauptes der Kirche zu handeln, noch ruhig schlafen? Glauben sie selbst, dass sie einst vor ihm stehen werden? Was wird er ihnen sagen, ihnen, die sich so schwer tun, den Opfern endlich Recht zu verschaffen? Ist ihr Handeln mit Blick auf dieses Gleichnis Jesu nicht ein Zeugnis des Unglaubens? Wahrlich: Es stinkt zum Himmel! Wie soll sich Kirche vor einer Welt entwickeln, wenn die, die in der Kirche Verantwortung tragen, nicht in der Lage sind, das Evangelium zu leben?
Zeichen nahen Endes
Immer wenn man denkt, es könnte nicht schlimmer in der Kirche kommen, kommt es schlimmer – das ist eine dystopische Erfahrung, die man in der Kirche der Gegenwart immer wieder machen kann. Lange – viel zu lange – diskutieren die deutschen Bischöfe über Zahlungen für die Anerkennung des Leides, und gerade nicht über Entschädigungen. Auf ihrer Tagung vom 22.-24. September 2020 haben sie sich dazu durchgerungen, Betroffenen auf Antrag auf Anerkennung ihres Leides Einmalzahlungen in einem Leistungsrahmen von bis zu 50.000 € zu gewähren2). Es ist dabei nicht nur die wenig pastorale, sondern eher verwaltungsrechtlich kühle Sprache, die eher an den ungerechten Richter aus dem Lukasevangelium denken lässt denn an jenen sich um die Seinen sorgenden Jesus, der ausruft:
Kommt alle zu mir, die ihr mühselig und beladen seid! Ich will euch erquicken.
Auch die Betonung der Orientierung
„an Urteilen staatlicher Gerichte zu Schmerzensgeldern in vergleichbaren Fällen“3)
lässt aufhorchen. Nicht nur, dass es bei dieser Sprechweise danach aussieht, dass die Betroffenen auch weiterhin eher um ihr Recht kämpfen und ringen müssen und wenig Entgegenkommen erwarten können. Auch scheint den deutschen Oberhirten die merkwürdige Symbolik ihres Vorgehens nicht klar zu sein. Unabhängig von den Mahnungen des Paulus in 1 Korinther 6,1-9 erinnert das Bemühen staatlicher Gerichte eher an dystopische Endzeiterwartungen:
Jesus sagte zu ihnen: Gebt Acht, dass euch niemand irreführt! Viele werden unter meinem Namen auftreten und sagen: Ich bin es! Und sie werden viele irreführen. Wenn ihr von Kriegen hört und von Kriegsgerüchten, lasst euch nicht erschrecken! Das muss geschehen. Es ist aber noch nicht das Ende. Denn Volk wird sich gegen Volk und Reich gegen Reich erheben. Und an vielen Orten wird es Erdbeben und Hungersnöte geben. Doch das ist erst der Anfang der Wehen. Ihr aber, gebt Acht auf euch selbst: Man wird euch um meinetwillen an die Gerichte ausliefern, in den Synagogen misshandeln und vor Statthalter und Könige stellen – ihnen zum Zeugnis.
Man beachte hier geflissentlich die Rollenverteilung: Wer an die Gerichte ausgeliefert wird, sind ja nicht die Oberhirten. Sie sind es, die die Betroffenen von klerikalem Missbrauch an die Gerichte ausliefern, um sich ihr Recht zu erstreiten. Ist das der Kirche Jesu Christi würdig? Ist das ein Bild für das nahe Reich Gottes? Wohl kaum: Es ist nicht das Ende, aber ein Zeichen dafür, dass das Ende nahe ist!
Auge um Auge, Hand um Hand
Und es geht noch schlimmer! Die Kirche könnten und müsste als juristische Person um der Opfer willen schnell handeln. Dass sie es immer noch nicht tut, ist schlimm genug. Noch schlimmer ist es, dass die eigentlich Verantwortlichen für den Missbrauch außen vor bleiben. Sie sind es doch, die eigentlich die Entschädigung zu zahlen hätten. Sie sind es, die Verantwortung zu übernehmen hätten – vor der Kirche und vor der Welt. Und dann sind da noch die vielen, die in der Vergangenheit eher die Täter als die Opfer geschützt haben. Es ist nicht an einem Exegeten, darüber zu urteilen. Der Exeget aber sieht eine deutliche kognitive Dissonanz bei denen, die das Wort Gottes immer flott im Munde führen, ja sich ihm sogar bei einer Bischofsweihe fromm unterworfen haben, ihm dann, wenn es darauf ankommt aber nicht nur nicht folgen, sondern ihm bisweilen sogar zuwider handeln. In einem Gedankenspiel könnte man ja annehmen, dass sich ein Bistum der Verantwortung zu stellen beginnt und die Namen der Verantwortlichen veröffentlichen will, um so wenigstens anfanghaft Umkehrwillen zu zeigen. Und nehmen wir einmal an, dass die Verantwortlichen von diesem Bestreben Kenntnis erlangen. Wie werden die frommen Herren – und in diesem Fall sind es de iure canonici eben nur Herren – da reagieren. Werden Sie dem Wort des Herrn, dem sie sich geweiht und mit dessen Kirche sie sich als Bräutigam vermählt haben, treu folgen, der sagt:
Wenn ihr in meinem Wort bleibt, seid ihr wahrhaft meine Jünger. Dann werdet ihr die Wahrheit erkennen und die Wahrheit wird euch befreien.
Oder werden sie, um ihre ihnen selbstverständlich zustehenden Persönlichkeitsrechte kämpfen, und – abseits aller Skepsis eines Paulus in 1 Korinther 6,1-9 und der dystopischen Symbolik von Markus 13,5-9 staatliche Gerichte bemühen, um Kindern des Fleisches gleich um die Wahrung ihrer Gesichter ringen – mit allen Mitteln, auch den medialen und intrigant erscheinenden. Das ist natürlich bloß ein Gedankenspiel. Auf so etwas würden Männer – und in diesem Fall sind es de iure canonici eben nur Männer – nie kommen, die ihr Leben Gott geweiht und gelobt haben, Christus ähnlich sein zu wollen, jenem Christus, der am Kreuz unschuldig sein Leben für die vielen hingegeben hat, obwohl ihm Rettung gewiss gewesen wäre:
Glaubst du nicht, mein Vater würde mir sogleich mehr als zwölf Legionen Engel schicken, wenn ich ihn darum bitte?
Was würde Jesus, der von den Verantwortlichen doch immer als „der Herr“ bezeichnet wird und auf den sie sich immer so gerne berufen, da wohl sagen? Er würde möglicherweise mit seinen Worten aus der Bergpredigt antworten:
Wenn dich dein rechtes Auge zum Bösen verführt, dann reiß es aus und wirf es weg! Denn es ist besser für dich, dass eines deiner Glieder verloren geht, als dass dein ganzer Leib in die Hölle geworfen wird. Und wenn dich deine rechte Hand zum Bösen verführt, dann hau sie ab und wirf sie weg! Denn es ist besser für dich, dass eines deiner Glieder verloren geht, als dass dein ganzer Leib in die Hölle kommt.
Nicht Schwert, sondern Schaufel
Jede Ähnlichkeit dieses Gedankenspiels mit tatsächlichen Ereignissen der Gegenwart und lebenden Personen ist natürlich rein zufällig. Wäre so etwas tatsächliche Realität, würden die, die an der Stelle Christi als des Hauptes der Kirche handeln, natürlich seinen Worten gemäß vorgehen und nicht vor Gerichte ziehen, sondern die persönlichen Konsequenzen ziehen und Verantwortung übernehmen, ja vielleicht um der Klarheit des Zeugnisses für das nahe Reich Gottes willen, in dem es keine Ungerechtigkeit geben kann, zurücktreten. Täten sie es nicht, sie würden das Zeugnis verdunkeln. Aber das ist natürlich eine Absurdität, ein ekklesiales Oxymoron, das einen Verkünder behauptete, der nicht an das glaubt, was er verkündet. So etwas ist doch unmöglich!
Falls es aber doch möglich sein sollte4), möchte man die Verantwortlichen ersuchen, doch noch einmal in sich zu gehen, ob da nicht ein Rest Gottesfurcht vor dem ist, über den Johannes der Täufer sagt:
Der aber, der nach mir kommt, ist stärker als ich und ich bin es nicht wert, ihm die Sandalen auszuziehen. Er wird euch mit dem Heiligen Geist und mit Feuer taufen. Schon hält er die Schaufel in der Hand; und er wird seine Tenne reinigen und den Weizen in seine Scheune sammeln; die Spreu aber wird er in nie erlöschendem Feuer verbrennen.
Spreu und Weizen sind Elemente ein und derselben Spelze, jener Frucht, die an den Weizenähren wächst. Es sind eben nicht die guten und die schlechten Früchte, die getrennt werden müssen, sondern das Gute und das Unbrauchbare an der einen Frucht muss voneinander getrennt werden. Spreu und Weizen sind bildlich gesprochen deshalb immer in einer Person selbst. Es geht nicht um die Guten hier und die Bösen dort, sondern um die Trennung von Fruchtbringendem und Fruchtlosem in einem selbst. Das Bild taugt deshalb zur Gewissenerforschung auch bei jenen fiktiven Personen unseres Gedankenspiels: Welche Spreu in mir muss getrennt werden und wird beim Worfeln für zu leicht befunden, muss verbrannt werden, damit das Fruchtbringende um so wirksamer sein kann. Wo aber die Spreu Oberhand gewinnt, wird die Frucht verderben – wie alles Fleisch in dieser Welt. Sie wird vermodern, verschimmeln und zu stinken anfangen. Wie also wird sich die Kirche entwickeln? Wird es nach Himmel duften oder nach Grube riechen:
Dank sei Gott, der uns stets im Triumphzug Christi mitführt und durch uns den Geruch seiner Erkenntnis an allen Orten verbreitet! Denn wir sind Christi Wohlgeruch für Gott unter denen, die gerettet werden, wie unter denen, die verloren gehen. Den einen sind wir Todesgeruch, der Tod bringt; den anderen Lebensgeruch, der Leben bringt. Wer aber ist dazu fähig? Denn wir sind nicht wie die vielen anderen, die mit dem Wort Gottes Geschäfte machen. Wir verkünden es aufrichtig, von Gott her und vor Gott in Christus.
Kirchenentwicklung ist auch so ein Zauberwort der Pastoraltheologie. Was aber soll sich entwickeln, wenn die, die vorgeben, Verantwortung zu tragen, so offenkundig nicht dem Wort Gottes folgen. All die tollen Zukunftskonzepte und -projekte werden scheitern, wenn die Taten den Worten widersprechen. Auch das ist ein Sauerteig, der wirkt – aber nicht zum Leben, sondern zum Verderben. Der Umkehrruf gilt heute wieder aktuell:
Die Zeit ist erfüllt, das Reich Gottes ist nahe. Kehrt um und glaubt an das Evangelium!
Oder glaubt ihr selbst nicht mehr daran? Falls doch: Sinnt nach über die Weisung des Herrn und geht den Weg der Gerechtigkeit (vgl. Psalm 1). Es ist Zeit! Nicht in ferner Zukunft, sondern jetzt!
Bildnachweis
Titelbild: Spreu (Hans) – Quelle: Pixabay – lizenziert mit Pixabay-Lizenz.
Bild 1: Verschimmeltes Brot (Shutterbug75) – Quelle: Pixabay – lizenziert mit Pixabay-Lizenz.
Einzelnachweis
1. | ↑ | MHG, Forschungsprojekt: Sexueller Missbrauch an Minderjährigen durch katholische Priester, Diakone und männliche Ordensangehörige im Bereich der Deutschen Bischofskonferenz, Mannheim/Heidelberg/Gießen 2018 – Quelle: https://www.dbk.de/fileadmin/redaktion/diverse_downloads/dossiers_2018/MHG-Studie-gesamt.pdf [Stand: 27. September 2020]. |
2. | ↑ | Vgl. hierzu Pressebericht des Vorsitzenden der Deutschen Bischofskonferenz, Bischof Dr. Georg Bätzing, anlässlich der Pressekonferenz zum Abschluss der Herbst-Vollversammlung der Deutschen Bischofskonferenz am 24. September 2020 in Fulda, Pressemitteilungen der Deutschen Bischofskonferenz, 24.9.2020, S. 6 – Quelle: https://www.dbk.de/fileadmin/redaktion/diverse_downloads/presse_2020/2020-150-HVV-Fulda-Pressebericht.pdf [Stand: 27. September 2020]. |
3. | ↑ | Pressebericht des Vorsitzenden der Deutschen Bischofskonferenz, Bischof Dr. Georg Bätzing, anlässlich der Pressekonferenz zum Abschluss der Herbst-Vollversammlung der Deutschen Bischofskonferenz am 24. September 2020 in Fulda, Pressemitteilungen der Deutschen Bischofskonferenz, 24.9.2020, S. 6 – Quelle: https://www.dbk.de/fileadmin/redaktion/diverse_downloads/presse_2020/2020-150-HVV-Fulda-Pressebericht.pdf [Stand: 27. September 2020]. |
4. | ↑ | Vgl. hierzu den fatal an dieses Gedankenspiel erinnernden Vorgang: Raoul Löbbert und Georg Löwisch im Gespräch mit Stefan Heße, Haben Sie Angst um Ihr Amt?, Zeit online (Christ&Welt), 23.9.2020 – https://www.zeit.de/2020/40/stefan-hesse-missbrauchsfaelle-vertuschung-katholische-kirche/komplettansicht [Stand: 27. September 2020]. |