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Ecclesiastica·Pastoralia

Nicht ganz dicht im Dach Neutestamentliche Überwindungen einer ekklesialen Bunkermentalität


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Man weiß immer seltener, ob man lachen oder weinen soll. Die Kirche der Gegenwart macht einfach keine gute Figur. Sie taugt dabei nicht als Narr vor der Welt, der fröhlich die Wahrheit sagt; auch als moralisches Gewissen hat sie abgewirtschaftet. Sie ist einfach nicht mehr des Glaubens würdig angesichts der heiligen Heuchelei, die nicht nur, aber in besonderer Weise im Umgang mit von Klerikern Missbrauchten immer offenbarer wird. In einer modernen Welt, deren zivilisatorische Errungenschaften sich in besonderer Weise in den Menschenrechten zeigen, mutet manche Verlautbarung – und kommen diese selbst vom Papst – unfreiwillig komisch an. Wenn etwa eine weltweit längst bestehende Praxis wie die, das Frauen natürlich und selbstverständlich als Lektorinnen und Kommunionhelferinnen tätig sind, vom Papst daselbst nun durch eine Änderung des Kirchenrechtes goutiert wird1), dann weiß man in der Tat nicht, ob man lachen oder weinen soll. Sicher, die Änderung des can. 230 §1 im Canon Iuris Canonici (CIC) von 1983 geht tiefer als die Anerkennung einer längst gelebten liturgischen Praxis, die sich in der Regel auf zeitlich mehr oder weniger begrenzte Beauftragungen auswirkt. Die nun mit dem Motu Proprio „Spiritus Domini“ vom 10.1.20212) bewirkte Änderung macht nun auch die dauerhafte Beauftragung von Frauen möglich, war sie doch bisher ausschließlich männlichen Laien vorbehalten. Angesichts dieses sensationellen Fortschritts weiß man in der Tat nicht, ob man lachen oder weinen soll. Er erinnert an das Hin und Her bei den Messdienerinnen, die es längst vielerorts gab. Manch ein Pfarrer weigerte sich beharrlich mit Verweis auf hemmende päpstliche Verlautbarungen, bis endlich Papst Johannes Paul II erkannte, dass nicht jeder Messdiener den Weg ins Priesteramt anstrebte und deshalb schon ein Minikleriker wäre.

Mit Pinzetten statt mit Schaufeln

Ob dieser kirchenrechtlich kleine Schritt tatsächlich ein großer Schritt für die Menschheit ist? Manch einer jubelt angesichts dieser sensationellen Nachricht: Frauen werden immer gleichberechtigter. Hurra! Dabei stellt sich eher die Frage, wieviel männliche Laien bisher überhaupt in den Genuss der Privilegien nach can 230 § 1 CIC 1983 gekommen sind. In der Regel wurde die dauerhafte Institutio zum Lektoren- und Akolythendienst eher als Zwischenschritt noch Theologie studierender Priesteramtskandidaten wahrgenommen. Daraus könnte man natürlich zweifelsohne schließen, dass die Änderung dieses Canons nun tatsächlich ein weiterer Schritt in Richtung klerikaler Ämter für Frauen wäre. Berücksichtigt man allerdings, dass auch der Autor des Motu Proprio wie seine beiden Vorgänger auf dem Stuhl Petri betont hat, die Tür zum Priesteramt für Frauen sei zu und ein Diakonat für Frauen sei, wenn überhaupt, anders ausgestattet als der männliche Diakonat, dann wird man hier alle vorschnelle Hoffnung fahren lassen müssen. Eher wird man anzweifeln dürfen, ob diese epochale Änderung in der Praxis überhaupt Auswirkungen hat. Die gelebte Praxis temporaler Beauftragungen ist davon nämlich überhaupt nicht berührt. Ob aber dauerhafte Beauftragungen im Sinne des can 230 § 1 CIC 1983 überhaupt praxisrelevant sind, wird sich erst zeigen müssen. Nach gegenwärtig gelebter Praxis darf man daran eher zweifeln.

So nimmt sich denn die angebliche Reform aus wie das Werk eines Baumeisters, der den Grund für den Weiterbau einer Kathedrale nicht mit Hacke und Schaufel aushebt, sondern mit Pinzette und Pinselchen arbeitet, auf dass es ja keine allzu großen Erschütterungen gibt. Alleine: So wird der Bau wohl nie weitergebaut werden. Es bleiben nur ekklesiale Baustellen. Die Kirche selbst ist ein altes Haus, das immer mehr leer steht, weil es nicht weitergebaut und modernisiert wird. Wer wollte heute in zugigen Palästen wohnen, wenn es Wohnungen mit Zentralheizung gibt? Auch hier bewahrheitet sich, dass, wer nicht mit der Zeit geht, mit der Zeit gehen muss …

Aus Überzeugung unbeweglich

Papst Johannes XXIII rief noch ein lautes „Aggiornamento“ aus. Die Kirche sollte sich verheutigen. Dazu bedarf es der Bewegung, denn die Zeiten ändern sich – ständig. Und tatsächlich: das von ihm einberufene Zweite Vatikanische Konzil machte sich auf den Weg. Noch heute werden mit einer Mischung aus Nostalgie, Beschwörung und der Lust von Visionären, die Änderung gerne von den jeweils anderen erwarten. Die Texte des Konzils werden rauf- und runterzitiert. Vor allem der Beginn der Pastoralkonstitution „Gaudium et spes“ gehört dazu:

„Freude und Hoffnung, Trauer und Angst der Menschen von heute, besonders der Armen und Bedrängten aller Art, sind auch Freude und Hoffnung, Trauer und Angst der Jünger Christi. Und es gibt nichts wahrhaft Menschliches, das nicht in ihren Herzen seinen Widerhall fände.
Ist doch ihre eigene Gemeinschaft aus Menschen gebildet, die, in Christus geeint, vom Heiligen Geist auf ihrer Pilgerschaft zum Reich des Vaters geleitet werden und eine Heilsbotschaft empfangen haben, die allen auszurichten ist.
Darum erfährt diese Gemeinschaft sich mit der Menschheit und ihrer Geschichte wirklich engstens verbunden.“3)

Ob das Menschliche und die Geschichte der Menschheit aber tatsächlich bei den großen und kleinen pastoralen Entscheidungen handlungsleitend ist, darf füglich bezweifelt werden. Immer noch weigert sich der Vatikan – und damit indirekt auch die römisch-katholische Kirche –, die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte, die von der Generalversammlung der Vereinten Nationen am 10. Dezember 1947 in Paris verabschiedet wurden4), anzuerkennen. Der Trierer Kirchenhistoriker Bernhard Schneider sieht als Grund, dass

„Rechte wie die Religions-, Presse- und Meinungsfreiheit (…) zudem als Gegensatz zum kirchlichen Wahrheitsanspruch aufgefasst worden (seien) (…). Dahinter stehe der Gedanke, dass es eine von Gott geoffenbarte Wahrheit gebe, die allein der Kirche anvertraut sei. In diesem System brauche es keine Meinungs- oder Religionsfreiheit.“5)

Ein solches System, in dem es die Dynamik einer Wahrheitsfindung durch streitbaren Austausch nicht geben darf, weil es nur die eine geoffenbarte Wahrheit gibt, die wie in weißen Carrara-Marmor gemeißelt ist, mag von geradezu übernatürlicher Ästhetik sein, wie die Pietà von Michelangelo im Petersdom. Freilich ist sie ebenso unbeweglich wie diese. Da mögen die Falten noch so fließen. Letztlich ist sie so eingefroren und erstarrt wie die zur Salzsäule gewordene Frau Lots, die den Blick nicht von dem wenden konnte, was hinter ihr lag. Die Warnung des Engels Gottes war eindeutig:

Rette dich, es geht um dein Leben! Sieh dich nicht um und bleib im ganzen Umkreis nicht stehen! Rette dich ins Gebirge, sonst wirst du weggerafft! Genesis 19,17

Lots Frau aber kann den Blick nicht von dem Zurückliegenden abwenden und erstarrt dadurch als dauerhaft Zurückgebliebene:

Als sich aber seine Frau hinter ihm umblickte, wurde sie zu einer Salzsäule. Genesis 19,26

Ihr Schicksal, das aus dem Verhaften an Vergangenem erwächst, wird schließlich auch von Jesus selbst aufgegriffen, der seine Jünger – und mit Sicherheit auch die Jüngerinnen – mit Blick auf den „Tag des Herrn“ ermahnt:

Es wird ebenso sein, wie es in den Tagen des Lot war: Sie aßen und tranken, kauften und verkauften, pflanzten und bauten. Aber an dem Tag, als Lot Sodom verließ, regnete es Feuer und Schwefel vom Himmel und vernichtete alle. Ebenso wird es an dem Tag sein, an dem der Menschensohn offenbar werden wird. Wer an jenem Tag auf dem Dach ist und seine Sachen im Haus hat, soll nicht hinabsteigen, um sie zu holen, und wer auf dem Feld ist, soll sich ebenfalls nicht zurückwenden. Denkt an die Frau des Lot! Wer sein Leben zu bewahren sucht, wird es verlieren; wer es dagegen verliert, wird es erhalten. Lukas 17,28-33

Wider die Besitzstandswahrung

Das Sehnen nach Bewahrung führt in den Verlust. Bewahren aber heißt auf lateinisch „conservare“. Ein Konservatismus, der nur zurückblickt und sich nicht in das Kommende hinein verliert, wird untergehen, erstarren und erlahmen. Ist die Kirche der Gegenwart nicht längst ein blockierter Riese oder eine lahme Braut geworden? Sie hat den Kontakt zur Menschheit und ihrer Geschichte längst verloren. Weiß sie noch, was Freude und Hoffnung, Trauer und Angst der Menschen von heute sind? Ist sie im, am und mit dem Leben der Menschen unterwegs oder hält sie eine Wahrheit bereit, die schön anzuschauen, aber letztlich für eben dieses Leben der Menschen in ihrer erstarrt-kühlen Schönheit irrelevant ist? Was ist Wahrheit, wenn sie nicht lebendig ist? Vielleicht ist die Zeit des Aufbruchs längst verstrichen und es ist Zeit, vieles aufzubrechen, damit überhaupt noch Rettung möglich ist. In der apokalyptischen Mahnung Jesu hieß es ja:

Wer an jenem Tag auf dem Dach ist und seine Sachen im Haus hat, soll nicht hinabsteigen, um sie zu holen, und wer auf dem Feld ist, soll sich ebenfalls nicht zurückwenden. Lukas 17,31

Wie aber soll eine erlahmte Kirche sich überhaupt noch retten können, wenn sie längst erstarrt ist?

Dachluke-mit-Frau
Wer über den Dachrand schaut, hat schon den ersten Schritt getan. Es müssen weitere folgen.

Der Aufbruch

Der Aufbruch wird allenthalben und wohlfeil beschworen … um sich dann wieder zu setzen und im ewigen Stuhlkreis zu beraten, wie man aufbrechen könnte, wenn man nur dürfte, wie man wollte. Dieser Conjunctivus revolutionis ist eine Steigerung des Conjunctivus irrealis. Hat man je Revolutionäre gesehen, die die Obrigkeit um Erlaubnis gefragt hätten? Hat es je eine Revolution von oben gegeben? So wird das nichts mit einem Aufbruch der Kirche in die Welt von heute. Jahr für Jahr bleibt sie sitzen. Um im Sitzenbleiben erlahmen die Beine immer mehr. Sie schafft es nicht mehr, aufzustehen und mitzugehen, diese lahme Braut Christi … Ach, hätte sie doch kräftige Helfer wie jener Lahme, den man im Kapharnaum zu Jesus bringt:

Als er nach einigen Tagen wieder nach Kafarnaum hineinging, wurde bekannt, dass er im Hause war. Und es versammelten sich so viele Menschen, dass nicht einmal mehr vor der Tür Platz war; und er verkündete ihnen das Wort. Da brachte man einen Gelähmten zu ihm, von vier Männern getragen. Weil sie ihn aber wegen der vielen Leute nicht bis zu Jesus bringen konnten, deckten sie dort, wo Jesus war, das Dach ab, schlugen die Decke durch und ließen den Gelähmten auf seiner Liege durch die Öffnung hinab. Als Jesus ihren Glauben sah, sagte er zu dem Gelähmten: Mein Sohn, deine Sünden sind dir vergeben! Einige Schriftgelehrte aber, die dort saßen, dachten in ihrem Herzen: Wie kann dieser Mensch so reden? Er lästert Gott. Wer kann Sünden vergeben außer dem einen Gott? Jesus erkannte sogleich in seinem Geist, dass sie so bei sich dachten, und sagte zu ihnen: Was für Gedanken habt ihr in euren Herzen? Was ist leichter, zu dem Gelähmten zu sagen: Deine Sünden sind dir vergeben! oder zu sagen: Steh auf, nimm deine Liege und geh umher? Damit ihr aber erkennt, dass der Menschensohn die Vollmacht hat, auf der Erde Sünden zu vergeben – sagte er zu dem Gelähmten: Ich sage dir: Steh auf, nimm deine Liege und geh nach Hause! Er stand sofort auf, nahm seine Liege und ging vor aller Augen weg. Da gerieten alle in Staunen; sie priesen Gott und sagten: So etwas haben wir noch nie gesehen. Markus 2,1-12 parr

Offene Häuser

Die Überlieferung von der Heilung eines Gelähmten findet sich auch in den anderen synoptischen Evangelien. Matthäus 9,1-8 erzählt sie eher episodisch ohne kontextuelle Angaben, während sie in Lukas 5,17-26 erzählerisch ausgeschmückt und stärker an die Markusversion berichtet wird6). Während dort die Männer aber die Ziegel des Daches jenes Hauses, in dem sich Jesus befindet, fast behutsam abdecken, greift Markus zu drastischeren narrativen Mitteln. Hier wird das Dach nicht einfach nur abgedeckt (ἀπεστέγασαν τὴν στέγην – gesprochen: apestégasan tèn stégen), sondern sogar aufgegraben oder besser: aufgeschlagen (ἐξορύξαντες – gesprochen: exoryxantes). Konkret bedeutet das, dass man den Lehm, mit dem das Dach bedeckt war, herausgegraben oder auch -geschlagen hat, um eine Öffnung zu erzielen. Das ist nichts, was schnell geschieht. Es braucht eine Weile, macht Lärm und wird auch in der Etage darunter nicht ohne Folgen geblieben sein. Kann es sein, dass Jesus da einfach stehen bleibt und nicht nachsieht oder wenigstens nachsehen lässt, was da über ihm geschieht?

Betrachtet man die Szene als Ganze, fällt auf, dass am Beginn eine temporale und eine lokale Einordnung zu finden ist: „Nach einigen Tagen“ kehrt Jesus nach Kapharnaum zurück und begibt sich in ein Haus. Es wird nicht näher beschrieben, um welches Haus es sich handelt. Vermutlich handelt es sich dabei um das Haus des Simon (Petrus), das als einziges Haus (οἰκία – gesprochen: oikía) in Markus 1,29 vorher erwähnt wurde. Hier ist zwar von einem οἶκος (gesprochen: oîkos) die Rede. Trotzdem liegt die Vermutung nahe, dass Jesus sich im Haus des Petrus befindet, das für ihn offenbar zu einem „Hauptquartier“ in der Zeit des Anfangs der Bewegung in Galiläa dient. Dorthin begibt er sich nach „einigen Tagen“, in denen sich auch einiges zugetragen hat. Schon vor seinem Aufbruch aus Kapharnaum (vgl. Markus 1,35-39) ist es zu aufsehenerregenden Ereignissen gekommen. Erwähnt seien nur die Heilung der Schwiegermutter des Petrus (vgl. Markus 1,29-34) oder die Heilung des Besessenen in der Synagoge von Kapharnaum (Markus 1,21-28). Aber auch nach seinem Aufbruch wird von der Heilung eines Aussätzigen berichtet (vgl. Markus 1,40-45). Dieser Jesus von Nazareth verkündet nicht nur mit Worten ewige Wahrheiten. Er ruft nicht nur

Die Zeit ist erfüllt, das Reich Gottes ist nahe. Kehrt um und glaubt an das Evangelium! Markus 1,15

Er lässt seinen heiligen Worten auch heilende Taten folgen. Das ist es, was die Menschen bewegt und einnimmt. Schöne Worte machen können viele; den schönen Worten auch Taten folgen lassen eben nur wenige. So hat sich der Ruf Jesu nicht nur in Galiläa verbreitet – auch und vor allem in Kapharnaum. Man kannte diesen Mann doch aus der Synagoge. Die Nachricht einer neuen Anwesenheit verbreitet sich wie ein Lauffeuer. Die Menschen wollen ihn sehen, ihn vielleicht berühren, so wie man heute noch Idole zu berühren versucht. Das Haus ist zu klein für die Menge, sodass sich die Menschen auch vor der Tür versammeln.

Schlagt auf und reißt ab!

Auch ein Gelähmter aus Kapharnaum hört wohl davon. Dieser Jesus ist seine vielleicht letzte Chance. Er hat von den Heilungen gehört. So lässt er sich zu ihm tragen. Der Rest ist Geschichte …, weil schon vor dem Haus kein Platz ist, geht man auf das Dach, reißt es auf und lässt den gelähmten Mann zu Jesus hinunter. Das Haus ist beschädigt, nicht mehr dicht am Dach, aber der Mann erfährt … ja, was eigentlich?

Bevor Jesus den Mann heilt, vergibt er ihm die Sünden. Ist es das, was der Gelähmte will? Wohl kaum! Die Heilung des Gelähmten aber wird zum Lehrstück für die Anwesenden. Die Vergebung der Sünden ist allein Gottes Sache. Kein Mensch ist dazu fähig, nur Gott kann das, was die Menschen von ihm trennt, überwinden und so Versöhnung, die Wiederherstellung der Kindschaft und damit der Beziehung zwischen Mensch und Gott bewirken. Man kann Gott Vergebung der Sünden bitten, wie es in den Sühnopfern im Tempel geschieht. Dieser Jesus von Nazareth aber überschreitet das Althergebrachte. Er vergibt die Sünde direkt, unmittelbar und konkret. Da ist kein Konjunktiv, sondern ein apodiktischer Indikativ:

Kind, deine Sünden sind dir vergeben! Markus 2,5b

Da ist beides enthalten, was nur Gott kann: Die Wiederherstellung der Kindschaft durch Vergebung. Der innere Aufruhr der Schriftgelehrten ist nur allzu verständlich. Hier wird deutlich eine Grenze überschritten. Jesus aber lässt den heiligen Worten wieder heilende Taten folgen. Zweifelsohne – und wer wollte das bezweifeln – ist physische Heilung schwerer zu bewirken als das Aussprechen von Versöhnung. Jetzt – erst jetzt! – befiehlt er dem Gelähmten, seine Liege zu nehmen und nach Hause zu gehen.

Am Anfang und am Ende steht damit die Erwähnung eines Hauses. Am Beginn ist es das Haus, in dem Jesus sich befindet – vielleicht das Haus des Petrus. Der nun ehemals Gelähmte geht am Schluss seiner Wege in sein Haus. Dieses Haus ist noch intakt, das Haus, in dem Jesus sich befindet, aber ist defekt. Es ist nicht mehr dicht im Dach – weil die Helfer des Gelähmten es aufgerissen und -geschlagen haben. Dieses Haus hat jetzt einen Dachschaden – und zwar einen menschengemachten. Während man im Advent noch Jesus flehentlich ansingt, er möge als Heiland den Himmel aufreißen, sind es hier einfache Menschen, die dazu in der Lage waren, ein Dach aufzureißen, um vom Himmel her den Gelähmten einzulassen, auf dass er den Himmel auf Erden erfährt – an der Seele und (!) am Leib!

Dachschaden

Diese Erzählung ist gerade in der markinischen Version eine, bei der man lachen und weinen muss. Man muss lachen über die belämmerten Schriftgelehrten, deren religiöses Wissen und einfach gestrickte Weisheit Jesus hier zum ersten Mal vorführt … es wird nicht das letzte Mal sein. Lachen muss man über den naiven, aber zielstrebigen Eifer jener Männer, die das Dach eines fremden Hauses aufreißen – ohne dass irgendwo erwähnt würde, wie der Dachschaden repariert oder reguliert würde. Lachen darf man über die erstaunten und erregten Gesichter derer im Haus, von denen nirgends erzählt wird, die man sich aber vorstellen darf – vor allem des Petrus, wenn es denn das Haus des Simon Petrus ist, dessen Eigentum hier beschädigt wird. Mit ihm wird man auch weinen können, denn er bleibt auf dem Schaden sitzen. Er ist es letztlich, der den irdischen Preis für das Heil des Gelähmten bezahlt. Hat er hier seine erste Lektion erfahren für das, was ihm immer wieder in der Nachfolge Jesu begegnen wird?

Jesus jedenfalls handelt hier nicht bloß in göttlicher Vollmacht. Er handelt an Gottes statt, er handelt als der Sohn, der mit dem Vater eins ist. So gesehen wird in diesem Moment das Haus des Petrus zum Haus und Tempel Gottes. In ihm geschieht das Heil. Und dieses Haus hat um des Heiles willen nun einen Dachschaden …

Da ist aber noch mehr. Es ist wohl mehr als ein Zufall, dass hier das Wort οἶκος (gesprochen: oîkos – Haus) am Beginn und am Schluss der Perikope zu finden ist. Das eine Haus ist aufgerissen, in das andere kehrt der Gelähmte, der nun wieder gehen kann, zurück. Er geht in ein intaktes Haus – er kann es tun, weil das andere beschädigt wurde. Ihm wurden wieder Beine gemacht.

Der Kirche Beine machen

Die Kirche der Gegenwart erscheint eher als lahm gewordene Braut Christi. Es ist längst über der Zeit, dass ihr wieder Beine gemacht werden. Selbst wird sie es nicht schaffen. Sie braucht wie der Gelähmte von Kapharnaum Helfer und Helferinnen, die sie zur Heilung tragen; Helferinnen und Helfer, die bereit sind, wenn es sein muss, Hindernisse niederzureißen, um den Weg zum Heil freizumachen. Die Wahrheit ist im Haus, das Haus aber ist nicht die Wahrheit. Der, von dem Christinnen und Christen glauben, dass er der Weg, die Wahrheit und das Leben ist (vgl. Johannes 14,6), ist nur erreichbar, wenn man die Mauern, die man um ihn baut, niederreißt. Das erscheint den Frommen möglicherweise genauso absurd wie jenen, die zuschauen, wie da einige Männer in Kapharnaum ein Dach eines Hauses, das ihnen nicht gehört, einreißen. Aber es muss sein. Es muss unterschieden werden zwischen dem, der heilig ist und dem, was den Heiligen umhüllt. Letzteres ist eine Hülle, die man zur Not niederreißen muss.

Der Kirche müssen wieder Beine gemacht werden, damit sie bei den Menschen sein kann, um Freude und Hoffnung, Trauer und Angst mit ihnen zu teilen. Minimalinvasive Eingriffe wie die Änderung des can. 230 § 1 dürften da wohl kaum ausreichen; viel eher braucht es wohl Hammer, Hacke und Schaufel um den morschen Bau aufzureißen und neu zu errichten. Die Kirche kann nur heilig sein, wenn sie nicht nur redet, sondern auch an und mit den Menschen handelt. Marmorne Herzen mögen schön anzusehen sein. Sie bleiben aber trotzdem kalt und steinern. Ihr Männer und Frauen in der Nachfolge Christi, ihr, die ihr ein Herz aus Fleisch habt, macht der Kirche Beine – um der Wahrheit jenes Wortes Gottes willen, das nicht in Stein gemeißelt, sondern Fleisch geworden ist7)! Lasst nicht nach, grabt, reißt auf. Eine Kirche mit Dachschaden, die Heiligkeit verströmt, ist besser als eine Kathedrale, vor deren Türen die Erwartung verreckt.

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Bildnachweis

Titelbild: Loch im Dach (Paul Sousa – Ausschnitt: Werner Kleine) – Quelle: Photocase – lizenziert mit der Photocase Basislizenz 6.0.

Bild 1: Dachluke mit Frau (Leanne J) – Quelle: flickr – lizenziert als CC BY-NC-ND 2.0

Einzelnachweis   [ + ]

1. Vgl. hierzu die Meldung bei katholisch.de vom 11.1.2021 – Quelle: https://www.katholisch.de/artikel/28291-papst-oeffnet-lektorendienst-endgueltig-ganz-auch-fuer-frauen [Stand 17. Januar 2021].
2. Vgl. hierzu http://www.vatican.va/content/francesco/it/motu_proprio/documents/papa-francesco-motu-proprio-20210110_spiritus-domini.html [Stand: 17. Januar 2021] – eine deutsche Übersetzung lag bei der Abfassung dieses Beitrages noch nicht vor.
3. Zweites Vatikanisches Konzil, Pastoralkonstitution „Gaudium et spes“ über die Kirche in der Welt von heute, Nr. 1 – Quelle: http://www.vatican.va/archive/hist_councils/ii_vatican_council/documents/vat-ii_const_19651207_gaudium-et-spes_ge.html [Stand: 17. Januar 2021].
4. Der Text der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte ist unter https://www.un.org/depts/german/menschenrechte/aemr.pdf [Stand: 17. Januar 2021] verfügbar.
5. Anna Fries, Warum die Kirche gegen die Menschenrechtserklärung war, katholisch.de, 10.12.2018 – Quelle: https://www.katholisch.de/artikel/19912-warum-die-kirche-gegen-die-menschenrechtserklaerung-war [Stand: 17. Januar 2021].
6. Man kann hier sehr schön die Tendenz zur Vereinfachung erkennen. die textkritische Regel der lectio difficilior lässt darauf schließen, dass der “schwierigere” Text oder der, der sperriger bzw. herausfordernder ist, der ursprüngliche ist.
7. Vgl. Johannes 1,14.
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1 Reply

  1. Grüss Gott Herr Kleine

    Heute warf ich wieder einmal einen Blick auf Ihre Homepage. Danke für den interessanten Beitrag.

    Stimmt es das Jesus KEINE Frauen als Apostel folgten? Oder wurden diese Frauen in einem Juni Gewittersturm aus der Tradition hinweg geschwemmt?

    Ein interessanter Beitrag zu Frauen in höchsten Kirchenämtern:

    https://www.youtube.com/watch?v=1OIiBdxGHNY

    Die Äbtissin – Eine Frau kämpft um die Macht

    Noch im 19. Jahrhundert sollen Frauen in der katholischen Kirche höchste Ämter bekleidet haben. Ihre bischöfliche Macht stand unter dem direkten Schutz von Kaisern, Königen und Päpsten. Es sind Äbtissinnen der reichsfreien Klöster und Stifte in ganz Europa. Hubert Wolf, katholischer Theologe und Autor, macht sich exklusiv für das ZDF auf die Suche nach der verlorenen Macht der Äbtissinnen und entdeckt dabei Erstaunliches.

    Über Jahrhunderte schufen Äbtissinnen geistige und kulturelle Zentren, setzten Priester ein, vergaben Pfründe, ernannten Kirchenrichter, hielten Strafverfahren ab und richteten neue Pfarreien ein. Ohne ihre Erlaubnis durfte kein fremder Priester auf dem Gebiet der Abtei seelsorgerisch tätig werden. Sie nahmen sogar die Beichte ab und verkündeten das Evangelium. Aufgaben, die heute ausschließlich Bischöfen und Priestern vorbehalten sind.

    Die Äbtissinnen residierten in Quedlinburg, Gandersheim und Essen, um nur einige Orte in Deutschland zu nennen, in Fontevrault oder Remiremont in Frankreich.

    Zu den mächtigsten von ihnen gehörten die Äbtissinnen des königlichen Klosters von Las Huelgas in Spanien. Ihr Pilgerhospiz am Jakobsweg war das berühmteste und größte im Königreich Kastilien.

    Die Äbtissin von Las Huelgas war Herrscherin über ein eigenes Gebiet mit mehr als 60 Klöstern und Ortschaften. Den Bischöfen und selbst päpstlichen Gesandten war es verboten, Kirchen und kirchliche Einrichtungen zu visitieren, das heißt zu überprüfen. Immer wieder kam es deswegen zu Begehrlichkeiten und erbitterten Auseinandersetzungen mit den Bischöfen des benachbarten Burgos.

    Pius IX. beendete Frauenherrschaft
    So auch während der Regentschaft der Doña Catalina de Sarmiento, die im 16. Jahrhundert Äbtissin von Las Huelgas war und wiederholt ihre Unabhängigkeit gegenüber dem Bischof und späteren Kardinal Francesco de Mendoza y Bobadilla verteidigen musste.

    Bis zum Ende des 19. Jahrhunderts schafften es die Äbtissinnen von Las Huelgas, ihre bischöfliche Macht aufrechtzuerhalten. Sie überstanden Kriege, Revolutionen und sogar die Plünderung durch Napoleons Soldaten. Erst ein Dekret aus Rom von Papst Pius IX. beendete 1873 die letzte Frauenherrschaft in der katholischen Kirche.

    Interview mit Fachberater Hubert Wolf – Frauen mit bischöflichen Funktionen:

    Hubert Wolf ist Professor für Mittlere und Neue Kirchengeschichte an der Universität Münster. Er zählt zu den renommiertesten deutschen Historikern. Sein jüngst erschienenes Buch “Krypta” war Ideengeber für den Film “Die Äbtissin”.

    Warum ist “Die Äbtissin” für Sie ein Thema und wie sind Sie darauf gestoßen?

    Die Äbtissin von Las Huelgas steht für eine ganze Reihe von Frauen, die in der katholischen Kirche über rund Tausend Jahre hinweg bischöfliche Funktionen ausgeübt haben. Sie leiteten eine eigene Diözese, setzten Pfarrer ein und ab, errichteten Pfarreien und hoben sie wieder auf, sprachen Recht, erteilten die Vollmacht zum Messelesen … Manche von ihnen trugen sogar eine Mitra als Zeichen ihrer quasi bischöflichen Würde.

    Zum ersten Mal bin ich auf diese mächtigen Frauen 1978 gestoßen, bei einem Besuch im Benediktinerkloster Neresheim. In einem Gespräch darüber, dass Leitungsfunktionen in der Kirche nur Männern vorbehalten seien, gab mir der Bibliothekar augenzwinkernd eine Reihe von Büchern, die für Zisterzienserinnen und Benediktinerinnen das Gegenteil bezeugten. Das war für mich eine echte Überraschung. Seither hat mich dieses Thema nicht mehr losgelassen.