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Vor vier Jahren war es das Hashtag „Aufschrei“ (#aufschrei), heute ist es „Me too“ (#MeToo) mit dem tausende von Frauen aufmerksam auf ihre Erfahrungen mit sexuellen Belästigungen machen. Ausgelöst durch die Enthüllungen über Harvey Weinstein, einem US-amerikanischen Filmproduzenten, dem eine Vielzahl von sexuellen Belästigungen und Vergewaltigungen vorgeworfen werden,1) schrieb die Schauspielerin Alyssa Milano auf Twitter: „Wenn alle Frauen, die sexuellen Übergriffen ausgesetzt oder belästigt worden sind, ‚ich auch‘ als Statusmeldung schreiben, können wir vielleicht allen verständlich machen, welches Ausmaß das Problem hat.“2) Die Resonanz auf diesen Tweet ist groß und die Allgegenwärtigkeit von sexuelle Gewalt wird sichtbar. Die Artikel über Harvey Weinstein und die prominenten Opfer seiner unterdrückenden sexuellen Exzesse sind nicht nur eine Promistory über die Schattenseiten des glänzenden Hollywoods. Alyssa Milanos Reaktion und die folgenden tausenden von Statusmeldungen von Frauen zeigen, wovor die Gesellschaft immer wieder die Augen verschließt. Opfer von sexueller Gewalt sind nicht nur auf der Leinwand oder in Zeitungen zu finden, sondern sexuelle Übergriffe gegen Frauen finden im Alltag statt, an öffentlichen und privaten Orten.
#metoo für namenlose Frauen
Solange Männer vermeinen, mächtiger als Frauen zu sein und sie gar als Objekte behandeln zu dürfen, ist sexuelle Gewalt allgegenwärtig. Ein erster wichtiger Schritt ist die Selbstreflektion. Als Reaktion auf Alyssa Milanos Tweet schreiben Männer unter dem Hashtag „HowIWillChange“ (#HowIWillChange), wie sie in Zukunft verhindern wollen, dass Frauen von männlicher Lust zu Verfügungsgegenständen degradiert werden.3) Ein Perspektivwechsel ist notwendig.
Die falsche Sichtweise tritt bereits im Buch der Richter deutlich zutage. In Richter 19 wird die Geschichte eines Israeliten aus dem Stamm Efraim erzählt, vor dem seine Nebenfrau zurück ins eigene Elternhaus geflohen war. Er holt seine Nebenfrau zurück – ob gegen ihren Willen oder unter ihrem Einverständnis erzählt die Geschichte nicht.4) Auf dem Rückweg von Betlehem, der Heimatstadt der Nebenfrau, entschließt sich ihr Mann bewusst nicht in Jerusalem zu übernachten, wo zur damaligen Zeit noch das Volk der Jebusiter herrschte, sondern bis nach Gibea zu ziehen, wo die Benjaminiter, ein Stamm Israels wohnte. In Gibea wird ihnen von einem alten Mann Gastfreundschafts gewährt.
Während sie ihr Herz froh sein ließen, siehe, da umringten die Männer aus der Stadt, übles Gesindel, das Haus, schlugen an die Tür und sagten zu dem alten Mann, dem Besitzer des Hauses: Bring den Mann heraus, der in dein Haus gekommen ist, damit wir ihn erkennen! Richter 19,22
Die eigenen Volkgenossen versammeln sich, um dem Gastfreundschaft Gewährten zu vergewaltigen. Jemanden zu erkennen, bedeutet in der Sprache des Alten Testaments Geschlechtsverkehr mit jemandem zu haben. Das versammelte Gesindel beabsichtigt den Mann zu vergewaltigen.
Der Besitzer des Hauses ging zu ihnen hinaus und sagte zu ihnen: Nein, meine Brüder, so etwas Schlimmes dürft ihr nicht tun. Dieser Mann ist als Gast in mein Haus gekommen; darum dürft ihr keine solche Schandtat begehen. Richter 19,23
Im Buch Genesis wird eine ähnliche Geschichte erzählt. Lot gewährt zwei Engeln in Sodom Gastfreundschaft. Auch sie wurden von den Bewohnern des Ortes bedrängt (vgl. Genesis 19). In beiden Fällen, im Buch Genesis und im Buch Richter, werden Frauen als Ersatz für die Unversehrtheit des männlichen Gastes angeboten. Lot spricht zu dem wütenden Mob vor seiner Tür:
Meine Brüder tut doch nicht das Böse! Seht doch, ich habe zwei Töchter, die noch nicht mit keinem Mann verkehrt haben. Ich will sie zu euch herausbringen. Dann tut mit ihnen, was euch gefällt. Genesis 19,7-8
Und im Buch Richter sagt der Gastgeber zu dem lustgierenden Gesindel vor seiner Tür:
Siehe, da sind meine jungfräuliche Tochter und seine Nebenfrau. Sie will ich zu Euch herausbringen; vergewaltigt sie und macht mit ihnen, wie es gut in euren Augen. Richter 19,24
Aus der Perspektive der Gastgeber ist die Vergewaltigung eines Mannes eine größere Schandtat als die Vergewaltigung einer Frau. Das Leben eines Mannes zählt mehr als das Leben einer Frau. Doch am Ende der Geschichte im Buch Genesis geschieht göttliche Gerechtigkeit: Die Engel retten Lot und seine Töchter und schlagen den Mob mit Blindheit. Im Buch der Richter obsiegt männliche Ungerechtigkeit.
Doch die Männer wollten nicht auf ihn hören. Da ergriff der Levit [der Mann aus Ephraim] seine Nebenfrau und brachte sie zu ihnen auf die Straße hinaus. Sie erkannten sie und trieben die ganze Nacht hindurch bis zum Morgen ihren Mutwillen mit ihr. Sie schickten sie erst fort, als die Morgenröte heraufzog. Richter 19,25
Auch Abraham gab seine Frau einem Fremden, um sein eigenes Leben zu schützen: Als er mit Sarah nach Ägypten ging, gab er sie als seine Schwester aus, damit sie ihn um ihretwillen nicht umbringen. Im Gegensatz zum Verhalten des Mannes gegenüber seiner Nebenfrau redet er mit ihr, erklärt sich:
Als er sich Ägypten näherte, sagte er zu seiner Frau Sarai: Ich weiß du bist eine Frau großer Schönheit. Wenn dich die Ägypter sehen, werden sie sagen: Das ist seine Frau! Und sie werden mich töten, dich aber am Leben lassen. Sag doch, du seiest meine Schwester, damit es mir deinetwegen gut geht und ich um deinetwillen am Leben bleibe. Genesis 12.11-13
Das Handeln Abrahams wird von Gott nicht gutgeheißen, aber er und Sarah werden im Folgenden von Gott beschützt und der Pharao bestraft. Der Mann im Buch Richter hingegen gibt seine Nebenfrau wortlos als Opfer dahin. Erst als sie tot ist, spricht er zu ihr:
Als der Morgen anbrach, kam die Frau zurück; vor der Tür des Mannes, bei dem ihr Herr wohnte, brach sie zusammen und blieb dort liegen, bis es hell wurde. Ihr Herr stand am Morgen auf, öffnete die Haustür und ging hinaus, um seine Reise fortzusetzen. Und siehe, die Frau, seine Nebenfrau, lag am Eingang des Hauses, die Hände auf der Schwelle. Er sagte zu ihr: Steh auf, wir wollen gehen! Doch niemand antwortete. Da lud er sie auf den Esel, machte sich auf und ging an seinen Ort. Richter 19,26-28
Die Frau hatte sich mit letzter Kraft zur Türschwelle geschleppt. An der Türschwelle, ihre Hand darauflegend, dem Ort, der eigentlich Sicherheit verspricht, bricht sie zusammen. Der Text sagt nicht, ob sie bereits tot ist, als der Mann am Morgen sozusagen auf dem Weg nach draußen über sie stolpert. Er beabsichtigt seine Reise fortzusetzen. Der Autor suggeriert sogar, dass er ohne seine Nebenfrau nach Hause zurückzukehren beabsichtigt. Das Opfer soll in seine angestammte Rolle zurückkehren, so tun als wäre nichts gewesen – einfach aufstehen und weitergehen. Es ist nichts passiert, dem Mann geht es gut. Und der Leser und die Leserin erfahren nicht, ob die Frau noch lebt oder tot ist. Der Erzähler berichtet nur ganz trocken, dass sie dem Mann nicht antwortete und dieser sie daher einfach auf seinen Esel lud und sich auf den Heimweg machte. Am Ende der Geschichte ist die Frau tot, aber der Leser und die Leserin erfahren nicht, ob sie durch die Vergewaltigung gestorben ist oder ob gar ihr Ehemann sie umbringt (siehe aber Richter 20,4).
Als er nach Hause gekommen war, nahm er das Messer, ergriff seine Nebenfrau, zerschnitt sie in zwölf Stücke, Glied für Glied, und schickte sie in das ganze Gebiet Israels. Richter 19,29
Selbst nach ihrem Tod wird der geschundenen Frau nicht die Grabesruhe gewährt, sondern ihr Körper wird zur Kriegserklärung. Die restlichen Stämme Israels ziehen daraufhin in den Krieg gegen Benjamin, den Stamm zu dem Gibea gehört und aus dem das vergewaltigende Gesindel stammte. Und die Verlierer des Krieges sind am Ende wieder andere Frauen. Der Stamm der Benjaminiter, also auch seine Frauen und Kinder wurden fast vollständig ausgerottet. Nur 600 Männer blieben am Leben – und damit diese Männer den Fortbestand des Stammes Benjamin sichern konnten, beschließt Israel die Einwohner von Jabesch-Gilead, außer 400 jungfräulichen Mädchen, die in den Besitz der Benjaminiter übergeben werden (siehe Richter 21,10-14), auszurotten – und noch weitere Frauen sollten sich die Benjaminiter von den Töchtern Schilos rauben (siehe Richter 21,15-23).
#HowIWillChange, die notwendige Kritik
Wenn Gott nicht rettend eingreift, wenn seine Engel den lustgierenden Mob nicht mit Blindheit schlagen und wenn er nicht selbst die als Besitz behandelte Frau befreit, dann sind Menschen zum Schlimmsten fähig. Die Geschichte im Buch Richter zeigt Abgründe einer möglichen männlichen Perspektive auf. Das Leben eines Mannes ist nicht mehr wert als das Leben einer Frau. Eine Frau ist nicht der verfügbare Besitz eines Mannes. Frauen sind kein Objekt, das einfach zur Fortpflanzung und Befriedigung sexueller Lust dient. In Richter 19 wartet man vergeblich auf die göttliche Rettung. Die damalige männliche Perspektive auf die Welt zeigt ihr erschreckendes Antlitz. Weder mit dem Gesindel vor der Tür, noch dem Gastgeber oder dem Mann, möchte man sich identifizieren. Man will aufschreien und die Stimme für die stimmlose Frau erheben. Man kann die Aussage des Bibeltextes hart kritisieren und aus heutiger Perspektive verurteilen. Wo war Gott in dieser Geschichte? Wo waren die Männer, die auch in der Frau das Ebenbild Gottes gesehen haben? Was hat sich heute im Gegenteil zur damaligen Perspektive geändert?
Bildnachweis
Titelbild: Metoo,, von surdumihail. Lizenz: gemeinfrei.
Einzelnachweis
1. | ↑ | Vgl. „Polizei in Los Angeles ermittelt gegen Harvey Weinstein“, ZEIT online, 20.10.2017 [Stand: 20. Oktober 2017]. |
2. | ↑ | Siehe den Tweet [Stand: 20. Oktober 2017]. |
3. | ↑ | Vgl. „‘This Can’t Be Women Just Speaking Up’: Men Respond to #MeToo, Pledging #HowIWillChange“, Schachar Peled, Haaretz, 19.10.2017 [Stand: 20. Oktober 2017]. |
4. | ↑ | Nur in Vers 3 wird die Intention des Mannes angedeutet, seine Nebenfrau zu überzeugen, dass sie zu ihm zurückkehrt. |