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Der Mensch ist von Natur aus ein Gemeinschaftswesen. Er braucht die Gesellschaft, die soziale Nähe, die Herde. Allerdings ist nicht ganz klar, welche prähistorischen Wurzeln das Herdenbedürfnis hat. Schlummert da im limbischen System des Menschen noch der Instinkt des Säbelzahntigers, der das Mammut als fette Beute nur im Teamwork erlegen konnte? Oder reüssiert im menschlichen Herdendrang eher das Verhalten der Lemminge? Die neigen zwar erwiesenermaßen nicht zum Massenselbstmord; ihrem ausgeprägten Wanderdrang folgend bleiben aber immer wieder viele Tierchen auf der Strecke. Vielleicht hat der Mensch aber auch gar kein Bedürfnis nach der Herde, sondern ist eher ein Schwarmwesen. Im Schwarm kann man das Denken ganz ausschalten. Der Schwarm bestimmt dann das Bewusstsein. Blöd nur, wenn es dem Schwarm an Intelligenz mangelt. Gehäufte Dummheit wird dann auch im Schwarm nicht intelligent …
Schwarmdummheiten
Dem 2015 verstorbenen Helmut Schmidt verdankt die Menschheit eine Reihe von Sentenzen. Dass man sie ihm zuschreibt und auch dann überliefert, wenn seine Autorenschaft gar nicht sicher ist, hebt den Alt-Bundeskanzler über alles bloße Schwarmbewusstsein hinaus. Menschen wie er passen in keinen Schwarm, sie leiten und führen die Herde, ohne ihrer Teil zu sein. Sie sind eher Schäferhund als Leithammel; die Herde und ihr Wohl haben sie aber so oder so im Blick. Eine der viel zitierten Sentenzen in jenem Jahr 2020, als ein kleines Virus namens SARS-CoV-2 eine Pandemie verursachte, die sich spätestens im Herbst zu einer manifesten Krise entwickelt, ist jener Satz, den Helmut Schmidt als Krisenmanager wohl schon im Februar 1962 gesprochen hat, als Hamburg im Wasser der Sturmflut versank:
„In der Krise beweist sich der Charakter.“ (Helmut Schmidt)
Nun sind solche Sentenzen in sich immer ambivalent. Sie beweisen an sich ja nichts, sondern bemühen lediglich die Autorität dessen, dem sie sich verdanken. Und trotzdem ist dieser Sentenz eine eigene Weisheit zu eigen. Das liegt an dem Wort „Krise“. Es geht auf das griechische κρίσις (gesprochen: krísis) zurück, das soviel wie „Gericht“ heißt, aber auch im Sinne des „Urteils“ verwendet werden kann. Dabei bleibt die Ambivalenz, dass es sich bei diesem Urteil um eine „Strafe“, aber auch um die Verschaffung von „Recht“ zur Wiederherstellung der Gerechtigkeit handeln kann. So oder so: eine κρίσις führt zu einer Entscheidung, einer Offenlegung eines Sachverhaltes und dessen Beurteilung. Damit wird klar, worauf Helmut Schmidt anspielt: Eine krisenhafte Situation legt den Charakter der Menschen offen. Sind sie krisenfest oder ignorant. Erweisen sie sich als soziale Wesen, die die Herde schützen oder als Teile eines dummen Schwarms, in dem jedes Mitglied glaubt, nach eigenem Gutdünken nach dem bisschen Beute schnappen zu können, das ihm oder ihr vor das gierige Mäulchen schwimmt, dabei aber den schützenden Schwarm verlässt und Teil der Nahrungskette wird. Wenn nun eine kritische Masse an Schwarmgliedern an dieser schwärmerischen Dummheit partizipiert und – wie Schwärme halt so sind – einfach das tut, was alle tun, dann geht der Schwarm an sich selbst zugrunde und reißt sogar noch die mit, deren Intelligenz der gehäuften Dummheit machtlos gegenüber steht.
Me, Myself and I
Genau dieses Schwarmverhalten egomanischer Sozialbedürftiger konnte man zwischen Weihnachten 2020 und dem beginnenden Jahr 2021 beobachten, als trotz zahlreicher Warnungen die Ski- und Rodelgebiete Deutschlands in den Mittelgebirgen und den bayrischen Alpen trotz aller Warnungen vor drohender Ansteckungsgefahr überlaufen waren und sich kilometerlange Staus bildeten. Mag man für ein solches Verhalten am 1. Weihnachtstag noch Verständnis für die Ahnungslosen aufgebracht haben, kann man angesichts der konkreten Erfahrungen und Warnungen aber vom 2. Weihnachtstag an nur noch von ignoranter Dummheit sprechen. Für ein Anhalten dieses Triebes bis in den ersten Januartagen des Jahres 2021, als sich Städte wie Winterberg und Willingen im Sauerland dem Ansturm nur durch konsequentes Abriegeln erwehren konnten1), gibt es in der deutschen Sprache bisher keine adäquaten Lexeme, die den Zustand nur annähernd in Worte fassen könnten. Was alle tun, tue auch ich! Frische Luft schadet nicht und ist gesund! Nach Quarantäne und überstandener Covid-Erkrankung musste man halt mal raus. Solche Sprachblüten lassen sich in drei Worten zusammenfassen, worum es denen geht, die in blechernen Schwärmen durch die verschneiten Täler kriechen: Me, Myself and I – Ich, ich und ich! Das ist das, was zählt. Allein: Wie kann ein Schwarm Ichlinge überleben? Wohl kaum – jedenfalls nicht, wenn man sich die Worte des Paulus vom Leib Christi vor Augen führt. Er beschreibt in 1 Korinther 12,12-30 die Gemeinde als Organismus, in dem jedes Glied seinen Platz und seine Aufgabe hat:
Ihr aber seid der Leib Christi und jeder Einzelne ist ein Glied an ihm.
Dabei betont er – und dies angesichts der streng hierarchisch gegliederten römischen Ständegesellschaft, die ihrerseits von Livius mit der Metapher vom Leib umschrieben wurde2) – die besondere Bedeutung der vermeintlich niederrangigen Glieder:
Im Gegenteil, gerade die schwächer scheinenden Glieder des Leibes sind unentbehrlich. Denen, die wir für weniger edel ansehen, erweisen wir umso mehr Ehre und unseren weniger anständigen Gliedern begegnen wir mit umso mehr Anstand, während die anständigen das nicht nötig haben. Gott aber hat den Leib so zusammengefügt, dass er dem benachteiligten Glied umso mehr Ehre zukommen ließ, damit im Leib kein Zwiespalt entstehe, sondern alle Glieder einträchtig füreinander sorgen. Wenn darum ein Glied leidet, leiden alle Glieder mit; wenn ein Glied geehrt wird, freuen sich alle Glieder mit.
Eine Gemeinschaft – sei es eine pagane, sei es eine christliche – kann daher nur überleben, wenn sie organisch ist. Jedes Glied erfüllt seine Aufgabe – aber nicht für sich! Das ist das Entscheidende. In gesunden sozialen Organismen arbeiten die Einzelnen für die Anderen. Das ist es, was den Wert der Einzelnen begründet, dass sie eben für die Anderen und damit für den Organismus wirken. Das gilt insbesondere für die schwächsten Glieder, die von den Anderen eben besondere Aufmerksamkeit und gegebenenfalls Unterstützung verdienen. Wo aber das „Me, Myself and I“ herrscht, stirbt der Organismus. Er stirbt, weil einzelnen Zellen wuchern und wachsen. Sie nehmen sich und wollen nichts mehr geben. So stirbt der Organismus des Ganzen – und mit ihm auch jene, die für sich nur wollten, was vermeintlich alle taten. Wie konnte es dazu kommen?
Egoshooter
Das Leben scheint für viele ein Spiel zu sein. Da wird nicht mehr nach links und nach rechts gesehen. Im Spiel des eigenen Lebens zählt nur eine Figur: Me, Myself and I! Das Ich ist das Zentrum, von dem aus die Welt betrachtet wird. Dementsprechend steht im Mittelpunkt der Welt: Me, Myself an I! Darum dreht sich alles. Hartmut El Kurdi bringt es in einem TAZ-Kommentar auf den Punkt:
„Vielen erging es im Pandemiejahr schlecht. Allen voran den an Covid-19 Erkrankten und Verstorbenen. Aber auch Menschen, die vorher schon wenig hatten und plötzlich gar nichts mehr verdienten. Oder Frauen und Kindern, die mit gewalttätigen Männern in Wohnungen eingesperrt waren. Oder den psychisch Kranken. Aber sonst?
Angesichts der Bildungsbürger und Eso-Hippies, die gemeinsam mit Rechtsradikalen gegen die vermeintliche Einschränkung ihrer Freiheit protestierten, gern auch mal mit gelbem Stern an der Brust, dachte ich oft an die weisen Worte meines Onkels Kalle: ‚Euch verwöhnten Arschgeigen geht es einfach zu gut!‘
Und ich füge hinzu: Und zwar schon immer. Und stets auf Kosten anderer. (…) Jetzt ist mal kurz Pause mit eurer Personality-Show, und wie es sich für dreijährige Egomonster gehört, werft ihr euch auf den Boden und schreit und strampelt wild mit Armen und Beinen herum. Und kaum einer nimmt euch ernst.“3)
Dabei gibt es eine fatale biblische Parallel. Selbst im Kreis der Jünger Jesu – noch weit davon entfernt, seine Zeugen sein zu können – gab es dieses kindische Streben des Habenwollens:
Sie kamen nach Kafarnaum. Als er dann im Haus war, fragte er sie: Worüber habt ihr auf dem Weg gesprochen? Sie schwiegen, denn sie hatten auf dem Weg miteinander darüber gesprochen, wer der Größte sei. Da setzte er sich, rief die Zwölf und sagte zu ihnen: Wer der Erste sein will, soll der Letzte von allen und der Diener aller sein. Und er stellte ein Kind in ihre Mitte, nahm es in seine Arme und sagte zu ihnen: Wer ein solches Kind in meinem Namen aufnimmt, der nimmt mich auf; und wer mich aufnimmt, der nimmt nicht nur mich auf, sondern den, der mich gesandt hat.
Selbst im Zwölferkreis scheint man schon um Posten gerungen zu haben, wo es noch nichts zu verteilen gab:
Damals kam die Frau des Zebedäus mit ihren Söhnen zu Jesus, fiel vor ihm nieder und bat ihn um etwas. Er fragte sie: Was willst du? Sie antwortete: Versprich, dass meine beiden Söhne in deinem Reich rechts und links neben dir sitzen dürfen! Jesus erwiderte: Ihr wisst nicht, um was ihr bittet. Könnt ihr den Kelch trinken, den ich trinken werde? Sie sagten zu ihm: Wir können es. Da antwortete er ihnen: Meinen Kelch werdet ihr trinken; doch den Platz zu meiner Rechten und zu meiner Linken habe nicht ich zu vergeben; dort werden die sitzen, für die es mein Vater bestimmt hat. Als die zehn anderen Jünger das hörten, wurden sie sehr ärgerlich über die beiden Brüder. Da rief Jesus sie zu sich und sagte: Ihr wisst, dass die Herrscher ihre Völker unterdrücken und die Großen ihre Vollmacht gegen sie gebrauchen. Bei euch soll es nicht so sein, sondern wer bei euch groß sein will, der soll euer Diener sein, und wer bei euch der Erste sein will, soll euer Sklave sein. Wie der Menschensohn nicht gekommen ist, um sich dienen zu lassen, sondern um zu dienen und sein Leben hinzugeben als Lösegeld für viele.
Der Mensch scheint also nicht nur ein soziales Wesen zu sein; konträr dazu eignet ihm ein starker Selbsterhaltungstrieb. Sozialität und Egomanie, Altruismus und Ich-Bewusstsein liegen offenkundig in einem ständigen Spannungsverhältnis. Das ist an sich für das Überleben selbst nicht ohne Bedeutung. Nur der überlebt, der zu nehmen weiß. Wo aber nur auf Kosten anderer genommen wird, verliert das soziale Gefüge seine Stabilität – und der einzelne ist schutzlos den Unbilden der Welt ausgeliefert. Es kommt also auf die richtige Balance an – und genau darauf weist Jesus selbst mit einem Paradox hin: Groß ist nur der, der den anderen dient. Nur so kann der Organismus einer Gemeinschaft lebendig bleiben.
O Erde, straffe dich! Keiner ist so groß wie ich! (arabisches Sprichwort)
Das Machtparadox des Dienens
Nun führen vor allem kirchliche Kleriker in eitler Demut die Behauptung vor sich her, ihre Macht sei ein Dienst. Das ist solange wohlfeil, als sich das Dienen nicht in Taten erweist. Jesus selbst macht deshalb nicht nur in der eben zitierten Perikope aus dem Matthäusevangelium darauf aufmerksam, dass
der Menschensohn nicht gekommen ist, um sich dienen zu lassen, sondern um zu dienen und sein Leben hinzugeben als Lösegeld für viele.
Tatsächlich lässt er dem auch Taten folgen – und zwar nicht nur durch seinen Tod am Kreuz, sondern schon vorher durch einen echten Dienst an seinen Jüngern. Die bei Johannes 13,1-20 beschriebene Fußwaschung ist mehr als eine Symbolgeste. Sie ist ein Beispiel, ein ὑπόδειγμα (gesprochen: hypódeigma), also ein Vorbild, das der Nachahmung harrt. Mit Nachahmung ist dabei nicht das liturgische Spiel gemeint, dass sich in vielen Kirchen am Gründonnerstag ereignet, wenn die Zelebranten ausgewählten Mitfeiernden die Füße sanft abtupfen. Jesus geht viel weiter:
Ich habe euch ein Beispiel gegeben, damit auch ihr so handelt, wie ich an euch gehandelt habe.
Das geht an sich über das konkrete Beispiel der Fußwaschung hinaus und betrifft das ganze Handeln Jesu, das in dem Beispiel der Fußwaschung konkret kulminiert. Deshalb ist hier auch von einem ὑπό-δειγμα (gesprochen: deîgma) die Rede, einem „konkreten Beweis“.
In einem frühchristlichen Hymnus wird Bezug auf dieses – dann eben nicht mehr unmittelbar konkret, sondern überlieferte Beispiel Jesu genommen, das es immer noch nachzuahmen gilt. Dann aber ist konsequenter Weise von ὑπογραμμός (gesprochen: hypogrammós) die Rede, wobei sich das Wortteil γραμμός (gesprochen: grammós) sich rein semantisch auf „das Geschriebene“ und damit auf das Überlieferte bezieht. Das Beispiel Jesu kann nach seiner Auferstehung vom Kreuzestod und seiner Himmelfahrt eben nicht mehr unmittelbar erlebt werden, sondern ist in der Überlieferung wirksam – und bedarf eigentlich der umfassenden Konkretion im Leben derer, die sich auf ihn berufen. So überliefert es auch der 1. Petrusbrief in hymnischer Weise:
Dazu seid ihr berufen worden; denn auch Christus hat für euch gelitten und euch ein Beispiel gegeben, damit ihr seinen Spuren folgt. Er hat keine Sünde begangen und in seinem Mund war keine Falschheit. Als er geschmäht wurde, schmähte er nicht; als er litt, drohte er nicht, sondern überließ seine Sache dem gerechten Richter. Er hat unsere Sünden mit seinem eigenen Leib auf das Holz des Kreuzes getragen, damit wir tot sind für die Sünden und leben für die Gerechtigkeit. Durch seine Wunden seid ihr geheilt. Denn ihr hattet euch verirrt wie Schafe, jetzt aber habt ihr euch hingewandt zum Hirten und Hüter eurer Seelen.
Wirksam – und damit voll des Machenkönnens – ist nur der, der dem Beispiel Jesu existentiell dienend folgt, und eben nicht nur mit Worten.
Lebenslos
Was aber hat das mit dem Charakter derer zu tun, die sich selbst in der Corona-Krise als ignorante Egomanen entlarven, denen eigenes Erleben über das Lebenermöglichen der vielen geht? Der Hinweis liegt im letzten Satz des Zitates aus dem 1. Petrusbrief:
Denn ihr hattet euch verirrt wie Schafe, jetzt aber habt ihr euch hingewandt zum Hirten und Hüter eurer Seelen.
Dort ist von einer Verirrung die Rede, die sich dann auflöst, wenn man sich zum Hirten der Seelen wendet. Wohlgemerkt – hier ist von „dem Hirten“ im Singular die Rede. Es gibt überhaupt nur diesen einen Hirten, der wahrer Priester und König ist (vgl. auch Hebräer 5,1-10). Das Ziel des Jesus von Nazareth aber ist klar:
Amen, amen, ich sage euch: Ich bin die Tür zu den Schafen. Alle, die vor mir kamen, sind Diebe und Räuber; aber die Schafe haben nicht auf sie gehört. Ich bin die Tür; wer durch mich hineingeht, wird gerettet werden; er wird ein- und ausgehen und Weide finden. Der Dieb kommt nur, um zu stehlen, zu schlachten und zu vernichten; ich bin gekommen, damit sie das Leben haben und es in Fülle haben. Ich bin der gute Hirt. Der gute Hirt gibt sein Leben hin für die Schafe. Der bezahlte Knecht aber, der nicht Hirt ist und dem die Schafe nicht gehören, sieht den Wolf kommen, lässt die Schafe im Stich und flieht; und der Wolf reißt sie und zerstreut sie. Er flieht, weil er nur ein bezahlter Knecht ist und ihm an den Schafen nichts liegt.
Das Ziel ist das Leben in Fülle. Wenn Jesus selbst davon spricht, dass er für dieses Ziel sein eigenes Leben hingibt, dann wird die Mehrdimensionalität des Lebens deutlich. Die Hingabe des eigenen Lebens für ein Leben in Fülle macht nur Sinn, wenn es das Leben in Vollendung über den Tod hinaus gibt. Leben in Fülle ist aber auch diesseitig gemeint, denn das wird durch die Hingabe des einen erst möglich. Leben ist der Sinn an sich – vor und nach dem Tod. Leben ist das Los des Seins. Alles hat der Ermöglichung gelingenden Lebens – sicher nach, ganz besonders aber eben vor dem Tod. Wie sehr es sich hier eben nicht um eine Vertröstung auf das Jenseits handelt, wird bei Paulus deutlich:
Wir sind also immer zuversichtlich, auch wenn wir wissen, dass wir fern vom Herrn in der Fremde leben, solange wir in diesem Leib zu Hause sind; denn als Glaubende gehen wir unseren Weg, nicht als Schauende. Weil wir aber zuversichtlich sind, ziehen wir es vor, aus dem Leib auszuwandern und daheim beim Herrn zu sein. Deswegen suchen wir unsere Ehre darin, ihm zu gefallen, ob wir daheim oder in der Fremde sind. Denn wir alle müssen vor dem Richterstuhl Christi offenbar werden, damit jeder seinen Lohn empfängt für das Gute oder Böse, das er im irdischen Leben getan hat.
Das Leben ist umfassend. Was hier getan wird, hat eschatologische Relevanz. Wer hier nur an sich denkt, wird dort das Leben nicht umfassend genießen können – oder, wie Paulus es an anderer Stelle in der ihm eigenen Weise ausdrückt:
Einen anderen Grund kann niemand legen als den, der gelegt ist: Jesus Christus. Ob aber jemand auf dem Grund mit Gold, Silber, kostbaren Steinen, mit Holz, Heu oder Stroh weiterbaut: Das Werk eines jeden wird offenbar werden; denn der Tag wird es sichtbar machen, weil er sich mit Feuer offenbart. Und wie das Werk eines jeden beschaffen ist, wird das Feuer prüfen. Hält das Werk stand, das er aufgebaut hat, so empfängt er Lohn. Brennt es nieder, dann muss er den Verlust tragen. Er selbst aber wird gerettet werden, doch so wie durch Feuer hindurch. Wisst ihr nicht, dass ihr Gottes Tempel seid und der Geist Gottes in euch wohnt? Wer den Tempel Gottes zerstört, den wird Gott zerstören. Denn Gottes Tempel ist heilig und der seid ihr.
Perspektivwechsel
Als sich die Jüngerinnen und Jünger nach der Auferstehung Jesu und seiner Himmelfahrt daran machten, seinem Beispiel zu folgen, restituierten sie als organisatorische Basis nach dem Ausscheiden des Judas Ischarioth den Zwölferkreis. Nur zwei Kandidaten erfüllten die Bedingung,
dass einer von den Männern, die mit uns die ganze Zeit zusammen waren, als Jesus, der Herr, bei uns ein und aus ging, angefangen von der Taufe durch Johannes bis zu dem Tag, an dem er von uns ging und in den Himmel aufgenommen wurde – einer von diesen muss nun zusammen mit uns Zeuge seiner Auferstehung sein.
Das Los sollte entscheiden. Los heißt auf griechisch κλῆρος (gesprochen: klêros). Es fiel auf Matthias, der so zum ersten Ausgelosten, zum ersten Kleriker wurde. Ein Kleriker ist streng genommen ein Ausgeloster, nicht einer, der berufen wird, sondern den es trifft. Das mag man als Gottesurteil oder fatalistischer als puren Zufall betrachten. Wie auch immer – das Los entscheidet. Ob der so ausgeloste Matthias sein Los als Gewinn oder als Last betrachtet hat, kann man nicht sagen. Innerkirchlich jedenfalls scheinen sich viele Kleriker als Hauptgewinner zu fühlen, die sich durch ihr Los seinsmäßig oder – um es intelligenter klingend auszudrücken – ontologisch über die normalen Christen erhöht. Die haben zwar durch die Taufe Christus angezogen wie ein Kleid (vgl. Galater 3,27), wodurch eine existentielle Einheit, Gleichwürdig- und -wertigkeit aller begründet wird:
Es gibt nicht mehr Juden und Griechen, nicht Sklaven und Freie, nicht männlich und weiblich; denn ihr alle seid einer in Christus Jesus.
So ein Los, ein κλῆρος muss aber doch bedeuten, dass man dem noch einen Mehrwert hinzufügt, man also noch gleicher ist als alle anderen. Mächtig dienend muss man die eigene Erwähltheit auch zeigen. Schließlich thront Gott ja auch, während sein Sohn anderen die Füße wäscht. Was für alle gilt, gilt halt nicht für die Erwählten. Merkwürdig, wie darin die kirchlichen Kleriker jenen paganen Ignoranten ähneln, die für sich Sonderrechte beanspruchen, weil sie halt im Mittelpunkt ihrer eigenen Welt stehen. Der Gemeinschaft dient das nicht. Im Gegenteil. Hört ihr die Warnung Jesu wirklich nicht, die jenseits der Frage, ob ihr nun glaubt oder nicht, eine Frage ist, wie Leben gelingen kann?
Wenn einer hinter mir hergehen will, verleugne er sich selbst, nehme sein Kreuz auf sich und folge mir nach. Denn wer sein Leben retten will, wird es verlieren; wer aber sein Leben um meinetwillen verliert, wird es finden. Was nützt es einem Menschen, wenn er die ganze Welt gewinnt, dabei aber sein Leben einbüßt? Um welchen Preis kann ein Mensch sein Leben zurückkaufen? Der Menschensohn wird mit seinen Engeln in der Herrlichkeit seines Vaters kommen und dann wird er jedem nach seinen Taten vergelten. Amen, ich sage euch: Von denen, die hier stehen, werden einige den Tod nicht schmecken, bis sie den Menschensohn in seinem Reich kommen sehen.
Das Leben ist sein eigener Sinn. Entscheidet euch für das Leben. Das aber könnt ihr nur gewinnen, wenn ihr das Leben der anderen schützt. Achtet deshalb vor allem auf das Leben der anderen. Schütz ihr die, schützt ihr euch. Wahrlich: Auch in dieser Krise beweist sich der Charakter!
Bildnachweis
Titelbild: Frau-Gesicht-Gegenüber (Gerd Altmann) – Quelle: Pixabay – lizenziert mit Pixabay-License.
Einzelnachweis
1. | ↑ | Vgl. hierzu die Meldung „Sauerland völlig überlastet. Winterberg und Willingen für Touristen abgeriegelt“ des Redaktionsnetzwerkes Deutschland vom 3.1.2020 – Quelle: https://www.rnd.de/reise/sauerland-vollig-uberlastet-winterberg-und-willingen-fur-touristen-abgeriegelt-YS2TOFG46VFYRL3HW7OV5P6F5M.html [Stand: 3. Januar 2020]. |
2. | ↑ | Vgl. hierzu Livius, Ab urbe condita II, 32,9-12 – hier zitiert nach: https://www.bibelstudium.kaththeol.uni-muenchen.de/staatsexamen/mat_rep/gemeinde/gemeindevorstellung/leib_vergleich/index.html |
3. | ↑ | Hartmut El Kurdi, Verwöhnte Arschgeigen, TAZ online, 30.12.2020 – Quelle: https://taz.de/Die-Wahrheit/!5735565/ [Stand: 3. Januar 2020]. |
Vor Jahren gab’s noch allerorten den Egoismus rechtfertigen sollenden Spruch:
“Wenn jeder an sich denkt, ist (unterm Strich) an alle gedacht”.
Ein saudummes Mantra Neoliberaler und anderer unseligen Zeitgenossen, das aber von vielen kritiklos übernommen und gar geglaubt wurde…