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Die Empörung ist groß. Die Meisten reagieren entsetzt über die hohe Zahl entdeckter Fälle von sexuellem Missbrauch durch Priester und Ordensleute, die ein als MHG-Studie bekannt gewordener Report einer Gemeinschaft von Forschern der Universitäten Mannheim, Heidelberg und Gießen ans Tageslicht gebracht hatte. 3.677 Fälle wurden entdeckt, begangen von 1.670 Priestern. Diese Zahl betrifft freilich nur die Diözesanpriester, während die Ordensangehörigen hier noch gar nicht im Blick sind. Sie dürfte auch noch um ein Vielfaches größer sein dürfte, wenn man die Dunkelziffer berücksichtigt. 3.677 Fälle – diese Zahl hat Empörung verdient! Empört reagierte auch der Trierer Bischof Dr. Stefan Ackermann – freilich über die Indiskretion, die dazu führte, dass die Studie nicht unter der Kontrolle der Deutschen Bischofskonferenz als Auftraggeberin wie geplant am 25.9.2018 bei einer Pressekonferenz in Fulda der Öffentlichkeit vorgestellt werden konnte, sondern bereits am Vormittag des 12.9.2018 in den Internetportalen Spiegel-online1) und Zeit-online2) publik wurde. Noch bevor er auf die Ergebnisse und die Folgen für die Betroffenen sexuellen Missbrauchs zu sprechen kommt – wobei nicht klar ist, ob damit die Täter oder Opfer gemeint sind –, eröffnet er sein Statement mit den Worten:
„Ich bedauere, dass die bisher vertraulich gebliebene Studie und somit das Ergebnis vierjähriger Forschungsarbeit zur Thematik ‚Sexueller Missbrauch an Minderjährigen durch katholische Priester, Diakone und männliche Ordensangehörige im Bereich der Deutschen Bischofskonferenz‘ durch das Forschungskonsortium um Prof. Dr. Harald Dreßing (Verbundkoordinator, Zentralinstitut für Seelische Gesundheit Mannheim) heute durch Medien veröffentlicht worden ist. Der Vorgang ist umso ärgerlicher, als bislang noch nicht einmal den Mitgliedern der Deutschen Bischofskonferenz die Gesamtstudie bekannt ist.“3)
Der Kontrollverlust erweist sich damit als total – und das nicht ohne Grund, wie Evelyn Finger und Veronika Völlinger als Autorinnen des Zeit-online Beitrages „Das Ausmaß des Verbrechens“ vom 12.9.2018 als Grund für ihre Vorabveröffentlichung angeben:
„Für den 25. September hat die Deutsche Bischofskonferenz unter Leitung von Kardinal Marx die Veröffentlichung ihrer Missbrauchsstudie geplant. Die ZEIT hat beschlossen, über einige Ergebnisse vorab zu berichten. Dazu hat uns auch die Vertuschung der Verbrechen bewogen: Die Kirche nutzte ihre Macht, um die Täter zu schützen, sie kontrollierte die Akten zuungunsten der Opfer.
Nun versucht sie auch die Aufklärung des Missbrauchs zu kontrollieren. Wir möchten ihr die Deutungshoheit nicht allein überlassen.“4)
Wenn es vom Kopf her stinkt
Menschenfischer sollten die Apostel sein (vgl. Matthäus 4,19). Aus Handwerkern, die ihr Brot mit harter Arbeit erwerben mussten, sind im Laufe der Geschichte Eminenzen und Exzellenzen geworden, die sich vom Kirchenvolk oder sogar vom Staat alimentieren lassen. Das mag dazu beigetragen haben, dass im Laufe der Jahrhunderte der klerikale Kontakt zum Volke Gottes verloren gegangen ist. Man thronte heilsgewiss über den Nöten der Welt und verteilt huldvoll die Gnadengaben aus dem Schatz der Kirche an das heilsbedürftige Volk. So hatte man die Heilsvermittlung unter Kontrolle. In dieser klerikalistischen Entwicklung erscheint nicht mehr Jesus Christus als Mittler zum Vater, sondern der „in der Person Christi handelnde“ (in persona Christi agere) Priester selbst. Der sich hier andeutende anthropologische Quantensprung bedeutet für die Geweihten ohne Frage eine ontologische Erhöhung, eine wesensmäßige Superiorität, die sie über die Normalsterblichen erhebt – eine Haltung, die sich auch in der autosuggestiven Rechtfertigung eigenen, ethisch noch so fragwürdigen Handelns auswirkt, wie der Grazer Pastoraltheologe Rainer Bucher in seinem Beitrag „Das Übel des Klerikalismus ist etwas sehr Hässliches.“5) für das Portal feinschwarz.net herausarbeitet. Dabei stellt sich ihm grundlegend die Frage, als welcher Christus denn ein Geweihter handelt, wenn er in der Person Christi agiert:
„Als erhöhter Weltentriumphator oder als der leidende Gekreuzigte, der Diener aller?“6)
Vor allem aber stellt sich die Frage, warum die, die vorgeben, in der Person Christi zu handeln, so selten seine Worte beherzigen. All seinen Worten voran gilt das in diesen Tagen, in denen so viel Leid offenbar wird, das durch den sexuellen Missbrauch von Priestern und Ordensleuten begangen wurde, wohl für eine nicht schön zu exegetisierende Mahnung Jesu:
Wer ein solches Kind in meinem Namen aufnimmt, der nimmt mich auf. Wer einem von diesen Kleinen, die an mich glauben, Ärgernis gibt, für den wäre es besser, wenn ihm ein Mühlstein um den Hals gehängt und er in der Tiefe des Meeres versenkt würde.
Was für eine Schande!
Stärker als in der lukanischen Überlieferung (vgl. Lukas 17,2) stellt Matthäus den warnenden Satz über das Schicksal derer, die Kindern zum Ärgernis werden – besser: sich an Kindern vergreifen – eben in den Zusammenhang mit der Aufnahme von Kindern. Sie sind wehr- und arglos. Gerade diese Wehr- und Arglosigkeit der Kinder macht den Missbrauch um so schändlicher. Es ist eine ehrlose Tat Feiger, die – gerade wenn und weil sie vorgeben, in persona Christi zu handeln – um so perfider erscheint. Gerade deshalb spricht Jesus die Mahnung ja aus. Das Urteil ist mit der Tat selbst schon gesprochen – und gilt auch nach moderner Rechtsauffassung auch all jenen, die Beihilfe zur Tat leisten, und sei es dadurch, dass sie vorgeblich Barmherzigkeit walten ließen und um der Heiligkeit einer Kirche willen, die sie durch ihr Handeln selbst immer wieder in den Schmutz treten, vertuscht haben. Barmherzigkeit kann nie ungerecht sein, sonst ist sie keine Barmherzigkeit. Wer die Barmherzigkeit der Täter vor die Barmherzigkeit der Opfer stellt, ist eben nicht barmherzig, sondern ein ungerechter Beihelfer. Das sagt auch der, in dessen Person so viele zu handeln vorgeben:
Wehe der Welt wegen der Ärgernisse! Es muss zwar Ärgernisse geben; doch wehe dem Menschen, durch den das Ärgernis kommt!
Was für eine Schande haben die Täter und Beihelfer in den schwarzen, violetten und purpurfarbenen Talaren über ihre Opfer gebracht. Was für ein Ärgernis bieten sie der Welt. Wehe denen, die solches ermöglicht haben! Hättet ihr doch auf Jesus Christus gehört, ihr hättet gewusst, was ihr zu tun habt:
Wenn dir deine Hand oder dein Fuß Ärgernis gibt, dann hau sie ab und wirf sie weg! Es ist besser für dich, verstümmelt oder lahm in das Leben zu gelangen, als mit zwei Händen und zwei Füßen in das ewige Feuer geworfen zu werden. Und wenn dir dein Auge Ärgernis gibt, dann reiß es aus! Es ist besser für dich, einäugig in das Leben zu kommen, als mit zwei Augen in das Feuer der Hölle geworfen zu werden. Hütet euch davor, einen von diesen Kleinen zu verachten! Denn ich sage euch: Ihre Engel im Himmel sehen stets das Angesicht meines himmlischen Vaters.
Rechenschaftspflichten
Wie oft haben die farbentragenden Geweihten ihren Schäfchen gepredigt, dass Gott alles sieht. Offenkundig haben sie das aber selbst vergessen. Oder meinen sie ihr Predigen gar nicht ernst? Nähmen sie wenigstens den ernst, in dessen Auftrag zu handeln sie vorgeben, sie hätten den Weg für den Umgang mit Missbrauch nicht erst in langen kirchen- und personalrechtlichen Konsultationen erarbeiten müssen. Die Botschaft Jesu in diesem Zusammenhang ist klar: Wer sich an den Kleinen vergreift, muss ausgesondert werden. Er gehört nicht mehr in den Kirchendienst. Er hat seine persönliche Unfähigkeit durch sein verwerfliches Handeln unter Beweis gestellt. Er muss in jeder Form zur Rechenschaft gezogen werden – kirchlich, vor allem aber auch weltlich, denn auch Geweihte sind zuerst Menschen. Sie stehen nicht über dem Gesetz. Jeder, der das Verbrechen des Missbrauchs begangen hat und jeder, der es durch Versetzung, Verschweigen, Vertuschen begünstigt oder sogar Beihilfe geleistet hat, muss zu Rechenschaft gezogen werden.
Dazu braucht es Ankläger. In diesen Tagen, in denen angesichts der offenbar werdenden Ungeheuerlichkeiten um das „Wir“ und das „Ich“ gestritten wird, also um die Frage, inwieweit das Kirchenvolk mit in die Verantwortung für den Umgang mit dem Klerikalismus und den durch ihn begünstigten sexuellen Missbrauch durch Priester und Ordensleute, wird der Ruf laut, die Täter und Beihelfer mögen doch bitte „Ich war das!“ sagen. So etwa Christian Florin am 12.9.2018 in einem im Deutschlandfunk gesendeten Kommentar:
„‚Wir‘. Dabei wäre ‚Ich‘ das Wort der Stunde. Ich übernehme die Verantwortung. Ich war Täter. Ich war Vertuscher. Ich habe Akten verschwinden lassen. Ich habe mich für die betroffenen Kinder und Jugendlichen keinen Deut interessiert. So etwas von einem geweihten Mann ausgesprochen – das wäre ein Schock. Vermutlich ein heilsamer.“7)
Man kann das Anliegen verstehen – und doch ist es wohlfeil. Einmal abgesehen davon, dass auch in unserem Rechtssystem für die Täter keine Geständnispflicht besteht – zumal dann nicht, wenn sie sich selbst belasten … – kann man von Feiglingen und Ehrlosen solch ein Selbstbewusstsein erwarten? Wohl kaum. Hätten sie Ehre im Leib, sie hätten nie missbraucht. Wären sie nicht feige, sondern echte Männer, sie hätten sich nicht an Kindern vergangen. Sie sind aber feige und ehrlos – warum sollten sie jetzt anders handeln? Es braucht also Ankläger von außen, Menschen, die sich der Kontrolle entziehen und ihrem Gewissen folgen.
Die Pflicht der Spatzen
Die Veränderung fängt deshalb unten an – bei der Solidarität mit den Opfern, bei der Aufdeckung der Täter, bei Eltern, die ihren Kindern glauben, bei Gemeindemitgliedern, die nicht vor lauter Ehrfurcht erstarren, wenn Herr Pastor über die Straße läuft, allen, die anfangen, Priester als Menschen zu sehen, und sich für die Wahrnehmung missbräuchlicher Situationen sensibilisieren lassen. Die Veränderung nur von „denen da oben“ zu erwarten, stabilisiert hingegen nur ein krankes System.
Es ist nicht verwunderlich, dass angesichts des offenbar gewordenen Kontrollverlustes die Tränen salziger als sonst schmecken. Die Welt lässt sich nicht mehr einschüchtern. Die hohe Würde ist dahin. Unter den Soutanen, Talaren und Colaren, die für manchen wohl eher Exoskelette sind, die eine Haltung vorgeben, die nicht gedeckt ist, findet man eben auch nur Menschen, denen es bisweilen sogar an Reife mangelt. Dieses Selbstverständnis ist tragisch – aber nicht neu. Haben die Kirchenoberen wirklich gedacht, dass sie in Zeiten, in denen selbst Staatsgeheimnisse geleakt werden, die Veröffentlichung der MHG-Studie unter alleiniger Kontrolle haben? Jesus selbst mahnt die Selbstsicheren seiner Zeit doch schon, dass ihnen die Kontrolle über seine Botschaft längst entglitten ist:
Hütet euch vor dem Sauerteig der Pharisäer, das heißt vor der Heuchelei! Nichts ist verhüllt, was nicht enthüllt wird, und nichts ist verborgen, was nicht bekannt wird. Deshalb wird man alles, was ihr im Dunkeln redet, im Licht hören, und was ihr einander hinter verschlossenen Türen ins Ohr flüstert, das wird man auf den Dächern verkünden.
Das Unerhörte wird also immer offenbar. Die Spatzen pfeifen es von den Dächern. Und wenn sie es nicht tun, werden die Steine schreien und anklagen:
Als er sich schon dem Abhang des Ölbergs näherte, begann die Schar der Jünger freudig und mit lauter Stimme Gott zu loben wegen all der Machttaten, die sie gesehen hatten. Sie riefen: Gesegnet sei der König, der kommt im Namen des Herrn. Im Himmel Friede und Ehre in der Höhe! Da riefen ihm einige Pharisäer aus der Menge zu: Meister, weise deine Jünger zurecht! Er erwiderte: Ich sage euch: Wenn sie schweigen, werden die Steine schreien.
Gerade deshalb ist den Journalisten von Spiegel online und Zeit online Respekt zu zollen. Sie haben nicht einfach nur ihren Job gemacht. Sie wollten verhindern, dass die Kirche wie üblich mit Gebet und Buße, Beratungstelefonen oder episkopalen Betroffenheits-Videos, in denen Bischöfe nun nüchtern-sachlich und wenig wirklich betroffen und emotional von Scham reden, reagiert – placebohaften Deckmäntelchen, die ein „Wir tun was“ vorgeben, aber doch nicht an die Wurzel des Übels greifen. Jeder Täter und jeder Beihelfer gehört heute noch gestellt. 3.677 Fälle wurden entdeckt – auch durch das Studium von Personal- und Handakten. Die Namen müssen also bekannt sein. Schützt die Opfer, nicht immer noch die Täter! Sofern die Taten nicht verjährt sind, müssen sie heute noch zur Anzeige gebracht werden. Eine Institution hingegen, die vorgibt, mit dem Ewigen umzugehen, sollte bei einer Tat, die in den Augen Jesu selbst zu dem wohl Verwerflichsten gehört, was man sich vorstellen kann, keine Verjährungen kennen.
Die Zeit des Schweigens ist vorbei. Die Spatzen pfeifen es von den Dächern. Betet nicht, handelt! Jetzt! Ihr habt schon die Kontrolle verloren. Merkt ihr nicht, dass das Leben selbst euch Lügen straft? Um Gottes und der Opfer willen: Klagt die Täter endlich an! Ihr wisst doch, wer es war …
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