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Eheleute kennen diese verfluchte und von vorneherein zur Erfolglosigkeit verdammte Versuchung, den Ehepartner ändern zu wollen. Der Mensch neigt dazu, sich selbst im Mittelpunkt der Welt zu wähnen. Er kann auch gar nicht anders, ist er doch die einzige Referenz, von der aus er oder sie in Relation zur Umwelt treten kann. Das ist an sich auch kein Problem, sofern die naturgegebene Selbstreferenzialität mit einer Fähigkeit zur gesunden Selbstkritik korreliert, in der sich das einzelne Subjekt selbst relativiert, weil es erkennt, dass es da noch viele andere Mittelpunkte der Welt gibt. Fehlt aber diese Fähigkeit, sind die Anderen in ihrem Anspruch, selbst Mittelpunkt ihrer Umwelt zu sein, immer eine potentielle Gefahr, ja Ketzer selbstgemachter Wahrheiten. Ehen scheitern regelmäßig an diesem Phänomen: Weil der oder die andere es einfach nicht schafft, mir den Himmel auf Erden zu bereiten und sich endlich den eigenen Wünschen gemäß zu ändern, kann eine solche Beziehung einfach keine Zukunft mehr haben.
Beziehungsdefinitionen
Was in zwischenmenschlichen Beziehungen täglich vielfach reüssiert und grassiert, betrifft auch die Beziehung zwischen Mensch und Gott. Die religio, die Rückbindung des Menschen an Gott sollte eigentlich von einer eindeutigen Beziehungsdefinition gekennzeichnet sein, wie sie beim Propheten Hosea angesichts der Unfähigkeit Israels zum Ausdruck kommt, seinem Gott treu zu sein:
Ich will meinen glühenden Zorn nicht vollstrecken und Efraim nicht noch einmal vernichten. Denn ich bin Gott, nicht ein Mensch, der Heilige in deiner Mitte. Darum komme ich nicht in der Hitze des Zorns. Hinter dem HERRN werden sie hergehen.
Gott ist also nicht nur kein Mensch; anders als das Verhalten der Menschen, ist er absolut treu:
Gott ist kein Mensch, der lügt, kein Menschenkind, das etwas bereut. Spricht er etwas und tut es dann nicht, sagt er etwas und hält es dann nicht?
Es ist diese absolute Treue, die trotz des ständigen Versagens die Menschen nicht fallenlässt, so dass Paulus feststellt:
Noch ist keine Versuchung über euch gekommen, die den Menschen überfordert. Gott ist treu; er wird nicht zulassen, dass ihr über eure Kraft hinaus versucht werdet. Er wird euch mit der Versuchung auch einen Ausweg schaffen, sodass ihr sie bestehen könnt.
Paulus kennt den Gedanken, dass Versuchungen (πειρασμοί – gesprochen: peirasmoí) über die Menschen kommen – und offenkundig schließt er nicht aus, dass diese Versuchungen ihre Ursache in Gott haben können, der gleichzeitig einen Weg aus der Versuchung weist. Die Versuchung erweist sich damit als Erprobung, verstanden als Ertüchtigung im Glauben zum Leben. Für Paulus würde der Glaube ohne solche Ertüchtigungen klein bleiben und nicht erwachsen werden. Ein reif Glaubender weiß eben, wo sein Platz ist: Sie oder er ist Mensch und Gott ist der Schöpfer – eine Platzanweisung, die auch Hiob erfahren muss, als er mit dem rechtet, der mit sich rechten lässt, aber eben auch antwortet.
Da antwortete der HERR dem Ijob aus dem Wettersturm und sprach: Wer ist es, der den Ratschluss verdunkelt mit Gerede ohne Einsicht? Auf, gürte deine Lenden wie ein Mann: Ich will dich fragen, du belehre mich! Wo warst du, als ich die Erde gegründet? Sag es denn, wenn du Bescheid weißt! Wer setzte ihre Maße? Du weißt es ja. Wer hat die Messschnur über sie gespannt? Wohin sind ihre Pfeiler eingesenkt? Oder wer hat ihren Eckstein gelegt, als alle Morgensterne jauchzten, als jubelten alle Gottessöhne? Wer verschloss das Meer mit Toren, als schäumend es dem Mutterschoß entquoll, als Wolken ich zum Kleid ihm machte, ihm zur Windel dunklen Dunst, als ich ihm ausbrach meine Grenze, ihm Tor und Riegel setzte und sprach: Bis hierher darfst du und nicht weiter, hier muss sich legen deiner Wogen Stolz? Hast du je in deinem Leben dem Morgen geboten, der Morgenröte ihren Ort bestimmt, dass es der Erde Säume fasse und die Frevler von ihr abgeschüttelt werden?
So erfährt schon Hiob, was Meinungsfreiheit bedeutet: Wer alles sagen darf, muss sich auch alles sagen lassen. Es gibt keine Meinungsfreiheit ohne Widerspruchsfreiheit!
Gemachter Glaube
Angesichts der klaren Verhältnisbestimmungen, die die Beziehung zwischen Gott und Mensch, zwischen Schöpfer und Geschöpf klar definieren, ist es immer wieder erstaunlich, wie Menschen imstande sind, die Dinge auf den Kopf zu stellen. Das gilt insbesondere auch für das Wort Gottes. Was wird da nicht alles von denen, die sich insbesondere Nähe Gottes wähnen, interpretiert, gemeint, was das Wort Gottes eigentlich meint, oder konstatiert, was der eigentlichen Intention des Gesagten entspräche, obwohl der Wortlaut des Wortes Gottes unzweifelhaft etwas anderes sagt. Da wird Glaube gemacht – und zwar nicht nur von römischen Altbischöfen, die im Wort Gottes ein neubundliches Kultpriestertum begründet sehen, das nicht nur erst in nachbiblischer Zeit entsteht, sondern auch mit der kultkritischen Haltung Jesu selbst nur schwer in Einklang zu bringen ist1), sondern immer wieder auch von Bischöfen, die als Nachfolger der Apostel doch eigentlich deren Lehre treu zu bewahren hätten. So hat nach den französischen Bischöfen nun auch der italienische Episkopat beschlossen, die Übersetzung der sechsten Bitte des Vaterunser den eigenen Wünschen anzupassen, so dass man dort nun nicht mehr betet „und führe uns nicht in Versuchung“, sondern „überlasse uns nicht der Versuchung“2). Die Macht der Bischöfe reicht offenkundig soweit, dass sie den Glauben macht. Kirche macht Glaube! Hat man etwa das Wort des Paulus vergessen, der vor soviel unaufrichtiger Schacherei mit dem Wort Gottes warnt:
Wir sind nicht wie die vielen anderen, die mit dem Wort Gottes Geschäfte machen. Wir verkünden es aufrichtig, von Gott her und vor Gott in Christus.
Nicht dass man nicht beten könnte, Gott möge die Menschen nicht der Versuchung überlassen. Das kann man freilich tun. Wenn man aber nun so tut, man hätte den Menschen ein „neues“ Vaterunser gegeben, dann ist das eben nicht aufrichtig. Der Wortlaut des jesuanischen Vaterunsers ist in der sechsten Bitte unzweifelhaft3):
Und führe uns nicht in Versuchung (καὶ μὴ εἰσενέγκῃς ἡμᾶς εἰς πειρασμόν – gesprochen: kaì mè eisenénkes hemâs eis peirasmón)
Es gibt an dieser Stelle weder textkritische Varianten noch andere Übersetzungsmöglichkeiten. Wortwörtlich heißt es sogar:
Und hineinführe uns nicht in Versuchung!
Das doppelte εἰς (gesprochen: eis) im Präfix des Verbs und in der Präposition verstärkt den Aspekt des potentiellen Hineinführens in eine Versuchung (oder besser: Erprobung) durch den Vater als Adressat des Gebetes sogar noch. Wie man da von einer „besseren“ Übersetzung durch „überlasse uns nicht“ oder „führe uns durch“ sprechen kann, bleibt aus exegetischer Sicht ebenso unverantwortlich und irreführend, wie die gut gemeinten, letztlich aber fehlleitenden Versuche wie vermeintliche Rückübersetzungen aus dem Aramäischen, mit denen Franz Alt (und später auch Wim Wenders) wissen wollen, was Jesus wirklich gesagt zu haben hat, oder an ultimative Eingebung erinnernde Einlassungen, die neuen „Übersetzungen“ träfen besser die Intention Jesu, wie es jüngst Paul Zulehner feststellte und hinzufügte, ihm gefalle die neue „Übersetzung“4). Ob sich Gottes Wort im Internetmodus des „Gefällt mir/gefällt mir nicht“ auslegen lässt? Wer bist Du Mensch, dass Du mit des Schöpfers Wort rechtest?
Halbfettmilchtrinker
All die hübschen Ausflüchte, die es besser wissen wollen, als der überlieferte Text, tragen keine wirkliche argumentative Kraft in sich. Wenn Jesus es wirklich anders gesagt hätte, hätten dann nicht die frühen Christen gegen die bei Matthäus und Lukas wortwörtlich übereinstimmende Überlieferung revoltiert? Wäre es dann nicht zu erwarten gewesen, dass es variae lectiones, andere Lesarten gäbe? Die Überlieferung aber ist eindeutig und unzweifelhaft. Da erweisen sich alle vermeintlichen Versuche, irgendwelche aramäischen Varianten zu rekonstruieren, die ihrerseits zwar der eigenen Vorannahme entsprechen, nicht aber dem heute noch von den aramäisch sprechenden Christen gebetenen aramäischen Vaterunser, das in der Übersetzung dem im Neuen Testament überlieferten Text entspricht, als reines Wunschdenken.
Wäre des Weiteren nicht zu erwarten, dass Jesus, wenn seine Intention eine andere als die des offenkundig treu überlieferten Textes, der gerade hier mit hoher Wahrscheinlichkeit sogar eine ipsissima vox, also die ureigenste Stimme Jesu weitergibt, sich dann auch klar und deutlich anders ausgedrückt hätte?
Man kann nur vor all jenen warnen, die wissen wollen, was Jesus eigentlich gemeint hat. Sie müssen die Frage beantworten, warum er es dann nicht auch so gesagt hat! Nein: solche Interpreten – und seien es, was noch bedenklicher ist, Nachfolger der Apostel – betreiben keine Exegese, sondern Eisegese; sie legen den Text nicht aus, sondern legen ihre Vorannahmen in den Text hinein. Sie schleifen ihn, bis er in ihr Denken passt, bis alles, was stört, weggefeilt ist, bis der Schöpfer sein Geschöpf nicht mehr stört. So passend gemacht, passt der Allmächtige in jede Hosentasche … Nein: Wer so vorgeht, macht sich den Glauben zurecht. Er reicht kein Schwarzbrot, sondern verleitet die Menschen dazu, Halbfettmilch zu trinken, die nicht nährt. So kann der Glaube nicht reifen, sondern bleibt klein. Man kann die Befürchtungen des Schreibens an die Hebräer hier nur laut dazwischenrufen:
Darüber hätten wir viel zu sagen; es ist aber schwer verständlich zu machen, da ihr träge geworden seid im Hören. Denn obwohl ihr der Zeit nach schon Lehrer sein müsstet, braucht ihr von Neuem einen, der euch in den Anfangsgründen der Worte Gottes unterweist; und ihr seid solche geworden, die Milch nötig haben, nicht feste Speise. Denn jeder, der noch mit Milch genährt wird, ist unerfahren im richtigen Reden; er ist ja ein unmündiges Kind; feste Speise aber ist für Erwachsene, deren Sinne durch Gebrauch geübt sind, Gut und Böse zu unterscheiden.
Herausforderungen
In der Tat: Das Vaterunser ist ein herausforderndes Gebet – und das in jeder Hinsicht. Allein die Bitte
Dein Reich komme
konnte zeitgenössisch als Hochverrat empfunden werden5), ist doch hier im Wortlaut von der βασιλεία (gesprochen: basileía) die Rede, also einem Königreich, das nicht zwingend spirituell aufgefasst werden muss und wohl auch nicht worden ist, wenn man daran denkt, dass selbst im Zwölferkreis schon über die Rangfolge innerhalb der Regierung dieses Königreiches spekuliert wurde (vgl. Mk 9,33-37 parr). Die sogenannte sechste Bitte ist also nicht die einzige Stolperstelle und Herausforderung im Vaterunser. Das Vaterunser ist in jeder Hinsicht ein herausforderndes Gebet, das sich näher zu betrachten lohnt.
Gott die Ehre!
Das Vaterunser ist sowohl im Matthäus- als auch im Lukasevangelium überliefert. In wesentlichen Punkten stimmt die Überlieferung überein – an einzelnen Stellen gibt es aber auch signifikante Unterschiede, die sich aus der Orientierung an den Erstadressaten ergeben. So bittet Matthäus um das
Brot, das wir heute (σήμερον – gesprochen: sémeron) brauchen,
während es bei Lukas heißt:
Gib uns täglich (τὸ καθ´ ἡμέραν – gesprochen: tò kath‘ heméran) das Brot, das wir brauchen.
Darin kommt die unterschiedliche Denkweise der Erstadressaten zu Ausdruck: Matthäus schreibt an eine judenchristliche Gemeinde, die noch jüdisch und wahrscheinlich damit sprachlich semitisch denkt. In den semitischen Sprachen gibt es aber keine Tempora wie in den indogermanischen Sprachen, denen auch das Deutsche oder Altgriechische Angehören. Das Reden und Denken ist präsentischer. Deshalb spricht Matthäus von „Heute“, den morgen ist ein neues „Heute“. Lukas hingegen schreibt an eine heidenchristliche Gemeinde, die hellenistisch geprägt ist. Hier spricht und denkt man (alt-)griechisch – und da ergibt sich aus einem täglichen Heute eben ein „täglich“. Das lukanische „täglich“ entspricht also dem matthäischen „heute“. In der liturgischen Fassung verschmelzen beide Überlieferungen zu
Unser tägliches Brot gib uns heute.
Daneben hat es die Brotbitte als solches aber in sich – und das ist bedeutsam für das Verständnis der Versuchungsbitte. Die ersten Bitten im Vaterunser geben sowohl in der lukanischen als auch der matthäischen Textüberlieferung Gott die Ehre:
Vater (unser in den Himmeln)6),
geheiligt werde dein Name,
dein Königreich komme,
(dein Wille geschehe wie im Himmel und auf der Erde).
Auch hier fallen die Unterschiede zwischen der lukanischen und der (in Klammern ergänzten) matthäischen Version auf, die sich – was die ergänzende Anrede „in den Himmeln“ bei Matthäus angeht – aus dem spezifischen Welt- und Gottesbild der jüdischen Mystik ergibt, nachdem mit Bezug auf die sieben himmlischen Sphären Gott im siebten Himmel wohnt. Die Hellenisten der lukanischen Gemeinde kannten zwar den Mythos des Olymp, aber eben keinen göttlichen Himmel.
Darüber hinaus enthält Matthäus die zusätzliche dritte Bitte, der Wille des Vaters möge im Himmel und auf Erden geschehen. Bei Lukas fehlt sie, findet sich aber bei relevanten Textzeugen. Die textkritische Regel der lectio brevior führt dazu, dass sie bei Lukas als spätere Einfügung und Angleichung an die matthäische Version gewertet werden – gerade, weil es Textzeugen gibt, bei denen die Worte fehlen. Die lukanische Überlieferungssituation ist an dieser Stelle disparat; dass die Worte sich ursprünglich auch bei Lukas gefunden haben, ist damit nicht ausgeschlossen, aber eben auch nicht sicher. In jedem Fall aber kennt Lukas wie die anderen Synoptiker die Tradition der Bitte Jesu im Gebet im Garten Gethsemane im Angesicht seines bevorstehenden Todes:
Vater, wenn du willst, nimm diesen Kelch von mir! Aber nicht mein, sondern dein Wille soll geschehen.
Mit dem Vaterunser auf Augenhöhe
Mit der vierten Bitte ergibt sich nun allerdings ein bemerkenswerter Perspektivwechsel, der auch für die folgenden Bitten relevant ist:
Unser tägliches Brot gib uns heute.
Man muss hier genau schauen – und sich klar machen, was Brot ist. Was Brot ist, das kommt in den an die jüdischen ברכות (gesprochen: brachot), also Segensgebeten angelehnten Lobpreisung wieder, die der Priester in der römisch-katholischen Eucharistiefeier nach der Gabenbereitung über Brot und Wein spricht. Das Brotgebet lautet:
Gepriesen bist du, Herr, unser Gott, Schöpfer der Welt. Du schenkst das Brot, die Frucht der Erde und der menschlichen Arbeit. Wir bringen dieses Brot vor dein Angesicht, damit es uns das Brot des Lebens werde.
Hier wird deutlich, dass Brot nicht vom Himmel fällt. Im Brot kommt das Geschenk göttlicher Gabe als Frucht der Erde und das Werk menschlicher Arbeit zusammen.
Es ist ja bemerkenswert, dass die vierte Bitte nur um Brot und nicht auch um flüssige Nahrung, derer der Mensch ja genauso bedarf, bittet. Es geht eben nicht um eine Versorgung wie im Schlaraffenland. Die vierte Bitte aktiviert die Selbstermächtigung des Menschen mit den ihm von Gott zur Verfügung gestellten Gaben sein Leben zu bewältigen. Ähnlich verhält es sich ja schon am Ursprung der Menschheitsgeschichte, als der Mensch – endlich durch den Erwerb der Erkenntnis von Gut und Böse erwachsen geworden – von Gott mit einer Grundausstattung versehen ins Leben geschickt wird, auf das er sein Leben eigenhändig gestalte:
Gott, der HERR, machte dem Menschen und seiner Frau Gewänder von Fell und bekleidete sie damit. Dann sprach Gott, der HERR: Siehe, der Mensch ist wie einer von uns geworden, dass er Gut und Böse erkennt. Aber jetzt soll er nicht seine Hand ausstrecken, um auch noch vom Baum des Lebens zu nehmen, davon zu essen und ewig zu leben. Da schickte Gott, der HERR, ihn aus dem Garten Eden weg, damit er den Erdboden bearbeite, von dem er genommen war.
Die Brotbitte hat es also in sich! Gott bringt den Menschen hier gewissermaßen auf Augenhöhe. Er will mit dem Menschen zusammenarbeiten. Der Mensch aber muss das Seine dazu beitragen. Gott gibt die Frucht der Erde; Brot entsteht erst durch menschliches Zutun!
Wechselwirkungen
Diese Wechselwirkung führt sich auch – ungeachtet der semantischen und erstadressatenbedingten Differenzen (Matthäus verwendet hier Begriffe des Wortfeldes ὀφειλή – gesprochen: opheilé/Schuld, während Lukas von ἁμαρτία – gesprochen: hamartía/Sünde oder besser: Fehler7) – spricht) – in der fünften Bitte fort:
Und vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unseren Schuldigern.
Gottes schuldvergebendes Handeln zeitigt eine entsprechende Haltung auf menschlicher Seite. Das eine bedingt das andere. Auch hier zeigt sich wieder, dass das Vaterunser eine Ermächtigung des Menschen zu mündigem und erwachsenem Handeln zeitigt. Gott wirkt durch den Menschen hindurch in die Welt. Er schafft die Voraussetzungen, die sich im Handeln und Reden derer konsequent auswirken, die so beten. Das Vaterunser ist eben kein Kindergebet, bei dem ein lieber Gott alles wunschgemäß bereitet. Nein! Der Mensch wird selbst ermächtigt und so in die Pflicht genommen!
Nicht gemachter, sondern ermächtigter Glaube
Genau darauf hebt dann in der inneren Logik des Vaterunsers wohl auch die sechste Bitte ab:
Und führe uns nicht in Versuchung!
Die Bitte muss wohl auf dem Hintergrund der beiden vorhergehenden Bitten der Ermächtigung der Beterinnen und Beter verstanden werden. Auf diesem Hintergrund wird klar, worin die Versuchung bestehen kann, von der hier die Rede ist: Es ist die Versuchung, der eigenen Ermächtigung zu entsagen und alles nach Kinderart von Gott zu erwarten. Das aber ist nicht das Bild, dass Gott von seinem Menschen hat, den er nach seinem Ebenbild erschaffen hat (vgl. Genesis 1,26). Das ist die größte Versuchung des Menschen, sich zurückzulehnen und darauf zu warten, dass Gott es schon richten werden und, wenn Gott eben nicht so handelt, redet und wirkt, wie man es sich erhofft, trotzig zu klagen und zu lamentieren. Dazu gehört dann auch wohl, das Wort Gottes so zu verdrehen, dass es den eigenen Bedürfnissen entspricht. Ein altes arabisches Sprichwort hierzu sagt:
O Erde, straffe dich! Keiner ist so groß wie ich!8)
Es ist die Versuchung dieser Selbstüberhöhung, die einer kindlichen Allmachtsphantasie gleichkommt, die Gott in eine Pflicht nehmen will, die sich selbst aller Sorgen ledig machen möchte. Es ist eben genau das, was in der „neuen“ Übersetzung zum Ausdruck kommt, Gott möge durch die Versuchung führen, anstatt die Erprobung als Ertüchtigung zu begreifen, an der und durch die der Glaube reifen kann. Noch einmal sei an Paulus erinnert:
Noch ist keine Versuchung über euch gekommen, die den Menschen überfordert. Gott ist treu; er wird nicht zulassen, dass ihr über eure Kraft hinaus versucht werdet. Er wird euch mit der Versuchung auch einen Ausweg schaffen, sodass ihr sie bestehen könnt.
Diese Gewissheit, dass Gott den Ausweg aus den (notwendigen) Erprobungen und Ertüchtigungen, die zu einem ermächtigten, aber eben keinem gemachten Glauben führen, kommt dann bei Matthäus in der siebten Bitte, die sich bei Lukas wiederum in textkritischen Varianten finden lässt, in den Blick:
Und erlöse uns von dem Bösen!
Gott wird retten, dazu aber den Menschen zur Mitarbeit ertüchtigen. Gott will erwachsene Menschen, die eines Ebenbildes würdig, das Leben schaffen!
Nicht Glauben machen, sondern aus Glauben machen
Das Wort Gottes ist herausfordernd. Der Drang zur Vereinfachung ist aber so alt, wie die Überlieferung des Wortes Gottes selbst. Deshalb kennt die Disziplin der Textkritik ja die Regel der lectio difficilior, die besagt, dass die Lesart die ursprünglichere ist, die schwieriger ist. Dass der Drang zur Vereinfachung immer wieder auch die befällt, die doch die apostolische Lehre treu überliefern sollen, ist höchst bedenklich, erliegen sie doch der Versuchung jener Vereinfachung, die nicht mehr das Ziel der Ertüchtigung eines erwachsenen Glaubens zum Leben hat, sondern in kindlicher Unmündigkeit die Hände in den Schoß legt. Dabei mahnt schon Jesus selbst:
Amen, ich sage euch: Bis Himmel und Erde vergehen, wird kein Jota und kein Häkchen des Gesetzes vergehen, bevor nicht alles geschehen ist. Wer auch nur eines von den kleinsten Geboten aufhebt und die Menschen entsprechend lehrt, der wird im Himmelreich der Kleinste sein. Wer sie aber hält und halten lehrt, der wird groß sein im Himmelreich.
Die Herausforderungen stellen sich den Glaubenden durch alle Zeiten. Für manches gibt es kein Wort des Herrn (vgl. 1 Korinther 7,12), dann sind die Glaubenden gerufen und ermächtigt im Geist Christi neue Antworten zu finden, die Problem zu lösen und sich in Treue an Gott zu binden (vgl. Matthäus 18,18). Wo es aber dezidiert ein Wort des Herrn gibt, kann es nicht darum gehen, dieses Wort des Herrn im „Gefällt mir/gefällt mir nicht“-Modus zu behandeln oder über eine „Meinen“ Jesu und seine eigentlichen Intentionen zu räsonieren. Was soll das Wort Gottes noch gelten, wenn man es nach eigenem Gutdünken verändert – sei es beim Vaterunser oder bei theologischen Vorannahmen, deren biblische Verifikation nicht ohne chirurgische oder kosmetische Eingriffe in den Text möglich ist? Bischöfe, die hier „bessere“ Übersetzung für ein eigentlich klares Wort Jesu zu finden glauben, erliegen jedenfalls genau der Versuchung, vor deren Bewahrung die sechste Bitte im Vaterunser fleht. Es ist die Versuchung, sich vor den Herausforderungen, die Glaube und Leben stellen, zu drücken und es sich in kindlicher, wenn nicht gar infantiler Haltung allzu einfach zu machen: Jesus wird es so dann wohl hoffentlich doch nicht gemeint haben … Konsequent jedenfalls wäre es, mit der „neuen“ Übersetzung auch die Gebetseinleitung zu verändern. Es sollte dann nicht mehr heißen: „Lasst uns beten, wie der Herr uns zu beten gelehrt hat“ – denn er hat ja etwas anderes zu beten gelehrt. Es sollte dann besser heißen: „Lasst uns beten, wie unsere Bischöfe es besser wissen, als der Herr“. Das wäre dann wenigstens ehrlich. So kann dann der Wille der Bischöfe und all deren auf Erden geschehen, die es gerne einfach haben. Ob das aber dem Vater in den Himmel gefällt? Sein Reich komme … sein Wille geschehe …
Bildnachweis
Titelbild: Brot und Milch (Pavolofox) – Quelle: Pixnio – lizenziert als CC0.
Bild 1: Teig kneten (Hans Braxmeier) – Quelle: Pixabay – lizenziert mit Pixabay license.
Einzelnachweis
1. | ↑ | Vgl. hierzu Werner Kleine, Ein allzu lautes Schweigen. Eine neutestamentliche Erwiderung auf den Einwurf Joseph Ratzingers, in: Dei Verbum, 21.1.2020, Quelle: https://www.dei-verbum.de/ein-allzu-lautes-schweigen/ [Stand: 2. Februar 2020]. |
2. | ↑ | Vgl. hierzu etwa https://www.sueddeutsche.de/panorama/katholische-kirche-vaterunser-1.4775909?fbclid=IwAR0fdTnsLzr5iI2Aq5ZzqivZbor5BfDqdGnItrIMSjbEHcLd_v_COrSM6C4 [Stand: 2. Februar 2020]. |
3. | ↑ | Vgl. hierzu Werner Kleine, Gestolpert? Hinschauen!. Betrachtungen zur sechsten Bitte im Vater-Unser „Und führe uns nicht in Versuchung“, in: Dei Verbum, 1.8.2017, Quelle: https://www.dei-verbum.de/gestolpert-hinschauen/ [Stand: 2. Februar 2020], sowie ders., Vom Glück der Versuchung. Neutestamentliche Reflexionen über ein korrumpiertes Phänomen, in: Dei Verbum, 12.12.2017, Quelle: https://www.dei-verbum.de/vom-glueck-der-versuchung/ [Stand: 2. Februar 2020]. |
4. | ↑ | Siehe hierzu https://www.domradio.de/themen/glaube/2020-01-31/mir-gefaellt-ueberlasse-uns-nicht-der-versuchung-theologe-zulehner-begruesst-geaendertes-vaterunser [Stand: 2. Februar 2020]. |
5. | ↑ | Vgl. hierzu auch Justus Bender/John Dominic Crossan, „Das Vaterunser war Hochverrat“, in: FAZ online, 24.12.2019, Quelle: https://www.faz.net/aktuell/politik/john-dominic-crossan-ueber-den-historischen-jesus-16547552.html?premium [Stand: 2. Februar 2020]. |
6. | ↑ | In Klammern steht die Übersetzung der matthäischen Version. |
7. | ↑ | Vgl. hierzu Werner Kleine: Error? Try!. Oder: Von der Gunst, Fehler machen zu dürfen, in: Dei Verbum, 7.1.2020, Quelle: https://www.dei-verbum.de/error-try/ [Stand: 2. Februar 2020]. |
8. | ↑ | Zitiert nach Osama Zayed, Nehmt die Weisheit aus dem Munde der Einfachen!. 180 volkstümliche Arabische Sprichwörter und Redewendungen aus der Levante, Wuppertal 2020, S. 43 – im Original: !يا أيرض اشتدي! ما حدا قدي (gesprochen: ya ´ard schtaddi! Ma hada ´addi!). |
Grüezi Herr Dr. Kleine
Wir das “Vater unser” in Deutschland, Österreich und Schweiz auch geändert?
Gruss Benno Fässler
Lieber Herr Fässler, derzeit sehe ich nicht, dass es da im deutschsprachigen Bereich entsprechende Tendenzen gibt. Bei einzelnen Glaubenden höre ich wohl immer wieder einmal, dass sie die sechste Bitte subjektiv ändern. Aber auch hier meine ich, dass man genauer hinsehen muss. Jede und jeder mag Betten wie er oder sie will. Das Gebet Jesu ist es dann aber nicht mehr …
Viele Grüße,
Dr. Werner Kleine
Ich gehe mit Ihrer Kritik bzgl. des Herummurksens am Vater unser völlig konform, Herr Kleine.
Danke auch für Ihre Auslegungen und Erklärungen im obigen Artikel. Sind mir sehr wertvoll – u.a. auch der Hinweis auf den Korintherbrief des Hl. Apostels Paulus bzgl. Versuchung!
Gerade solch zunächst etwas “sperrig” erscheinenden Texte wie die 6. Vaterunserbitte zeigen doch die Notwendigkeit und den Wert einer guten text- und sinntreuen Katechese, um die wir nicht herumkommen, wenn wir die Bibel, das Wort Gottes, recht verstehen und begreifen wollen, um es auch anderen gegenüber erklären zu können – und seien es z.B. die eigenen Kindern oder andere Familienangehörige.
Wenn Bischöfe hierzulande eine bei vielen bestehende Text-Verständnisschwierigkeit beseitigen wollen, so sei auf das altertümliche Wort “gebenedeit” im Gegrüßet-seist-du-Maria hingewiesen, dass man m.E. endlich durch “gesegnet” ersetzen sollte, wie es ja auch in der entsprechenden Bibelstelle Lk 1,42 in der Einheitsübersetzung steht, aus der ja der betr. Satz des Ave Maria entnommen ist.