den Artikel
Wenn sich Eigeninteresse und Gemeinschaftswohl als Perspektiven konträr gegenüberstehen, läuft dies häufig und schnell auf ein Entweder-oder hinaus. Im Falle der Frage nach dem sogenannten „Brexit“ kulminierte der Kontrast in einem Schuss und dem Ruf „Britain First, Britain First“.1) Im Kern dieser überhitzten Debatte geht es nicht darum, was ökonomisch sinnvoll für Großbritannien ist. In dieser Frage sind sich die Wirtschaftsexperten uneinig: Der Austritt könnte die britische Wirtschaftleistung im besten Fall um 1,6 Prozent steigern oder im schlimmsten Fall um 2,2 Prozent niederdrücken.2) In der Brexit-Debatte erhitzt sich vielmehr die Frage, die in ganz Europa lodert: Ist das Nationalstaatsinteresse und die eigene nationale Identität mit der europäischen Gemeinschaftsidee kompatibel?
In den vergangenen Jahren hat es sich bereits zu einer festen Tradition entwickelt, dass während der jährlichen Verhandlungen über den EU-Haushalt die Briten lautstark darüber diskutieren, ob sich die Mitgliedschaft in der Europäischen Union finanziell überhaupt lohnt. Der Finanzstandort London ist stabil und die Wirtschaft entwickelt sich gut. Bei einer solchen Ausgangssituation wirkt die europäische Vision, die im Endeffekt ein gemeinsamer Weg ist, beschwerlich und wie ein Klotz am Bein – in den Worten Magaret Thatchers: Europas Wirtschaftspolitik ist „unwieldy, inefficient and grossly expensive“ [„schwerfällig, ineffizient und in krasser Weise kostspielig“].3) Aber das Gemeinschaftswohl muss dem Eigeninteresse nicht im Wege stehen.
Das Eigeninteresse
Auf dem Weg ins verheißene Land konfrontieren zwei der zwölf Stämme Israels die Volksgemeinschaft mit ihrem Eigeninteresse. Die Gaditen und Rubeniten gehören zu Israel, aber wollen nicht ins verheißene Land ziehen und sagen zu Mose:
Nimm uns nicht über den Jordan mit!
In der erzählten Zeit befindet sich Israel noch im Ostjordanland und erkämpft sich seinen Weg zum Jordan, um ihn zu überqueren, in das von Gott verheißene Land einzuziehen und es in Besitz zu nehmen. Die beiden Stämme, so berichtet es der Erzähler am Anfang von Numeri 32, erkannten, dass das Ostjordanland sich zur Viehzucht eignet – und da die Gaditen und Rubeniten große Herden hatten, wirkte das Land auf sie verheißungsvoll und gut geeignet sich darin niederzulassen (Numeri 32,1).
Die Gefahr
Die Bitte der beiden Stämme, nicht mit dem restlichen Volk ins verheißene Land zu ziehen, steht dem Auftrag Gottes entgegen und gefährdet das gesamte Projekt. Mose kritisiert das Anliegen der Gaditen und Rubeniten dementsprechend mit zwei vorwurfsvollen Fragen:
Sollen eure Brüder in den Krieg ziehen, während ihr hier sitzenbleibt? Warum wollt ihr den Israeliten den Mut nehmen, in das Land hinüberzuziehen, das der Herr für sie bestimmt hat?
Mose thematisiert die fehlende Solidarität und die entmutigende Wirkung, die die Bitte der beiden Stämme auf das restliche Volk hat. Warnend verweist er in Num 32,8-15 zurück auf die Kundschafter, die nach Kanaan ausgesendet worden waren und deren Berichte über die dort lebenden Völker, das Volk ängstigten (siehe Numeri 13). In Numeri 14 reagiert das Volk auf den Bericht der Kundschafter mit großer Verzweiflung:
Warum nur will uns der Herr in jenes Land bringen? Etwa damit wir durch das Schwert umkommen und unsere Frauen und Kinder eine Beute der Feinde werden? Wäre es für uns nicht besser, nach Ägypten zurückzukehren?
Gegen den Zweifel des Volkes berichten zwei der Kundschafter, Josua und Kaleb, von der Schönheit des Landes und verweisen gegen die Ängste auf Gott als Garanten für die Landnahme:
Das Land, das wir durchwandert und erkundet haben, dieses Land ist überaus schön. Wenn der Herr uns wohlgesinnt ist und uns in dieses Land bringt, dann schenkt er uns ein Land, in dem Milch und Honig fließen. Lehnt euch nur nicht gegen den Herrn auf!
Aber der Zweifel war größer als das Vertrauen und aufgrund der Skepsis gegenüber Gott, bestraft dieser das gesamte Volk und lässt die zweifelnde Generation das verheißene Land nicht sehen, sondern es irrt 40 Jahre durch die Wüste, bis nur noch ihre Kinder lebten.
Die Lösung – „so Gott will“
Mit dem Verweis auf die Kundschaftererzählung skizziert Mose gegenüber der Bitte der Gaditen und Rubeniten eine mögliche dramatische Konsequenz: Das Volk könnte entmutigt werden, der Glaube an Gott in Zweifel gezogen werden und dies zu einer Gottesstrafe führen. Diese Geschichtsstunde Moses funktioniert und sie funktioniert zugleich auch nicht. Einerseits bieten die beiden Stämme die Unterstützung bei der Landnahme an, aber andererseits bestehen sie darauf das Ostjordanland als Besitz zu erhalten und nicht mit dem restlichen Volk im verheißenen Land zu siedeln:
Doch sie traten noch näher an Mose heran und sagten: Wir errichten hier Pferche für unser Vieh, unsere Schafe und Ziegen, und bauen Städte für unsere Kinder. Wir selbst aber rüsten uns und ziehen bewaffnet vor den Israeliten her, bis wir sie in ihr Land gebracht haben. Unterdessen werden unsere Kinder in den Städten wohnen, die zum Schutz gegen die Einwohner des Landes befestigt sind. Wir kehren nicht in unsere Häuser zurück, bevor jeder Israelit seinen Erbbesitz erhalten hat. Wir verlangen auf der anderen Seite des Jordan keinen Erbbesitz wie sie, wenn wir diesseits, östlich des Jordan, unseren Erbbesitz bekommen.
Die beiden Stämme stimmen den vorherigen Worten Mose nicht einfach zu, sondern in einem ersten Schritt betonen sie ihren Anspruch. Sie verlangen nicht mehr nur, dass Mose ihnen das Land überlässt, sondern sie sprechen bereits davon sich in dem Land einzurichten. Erst nachdem sie diese Forderung betont haben, versichern sie den Israeliten ihre Solidarität in der Landnahme. Sie bieten sogar an, die Leitung zu übernehmen, die Israeliten anzuführen und die Verantwortung dafür zu übernehmen, dass Kanaan in israelitischen Besitz gelangt. Die wiederholte und nun zugespitzte Forderung der beiden Stämme ist eine zielgerichtete, intelligente Unverschämtheit, die trotz ihrer Dreistigkeit, durchaus berechtigt ist und daher auch von Mose nicht einfach abgewiesen werden kann. In ihrer Bitte am Anfang der Erzählung hatten die beiden Stämme nämlich darauf hingewiesen, dass es sich bei dem erbetenen Land, um von Gott erobertes Gebiet handelt:
Atarot, Dibon, Jaser, Nimra, Heschbon, Elale, Sibma, Nebo und Beon, das Land, das der Herr für die Gemeinde Israel erobert hat, ist gut geeignet für die Viehhaltung, und deine Knechte haben Viehherden.
Es geht um das Land, das gemäß Numeri 21,21-31 mit Hilfe Gottes erobert worden war und das gemäß dem Recht des Eroberers Gott beziehungsweise Israel gehörte. Über dieses „israelitische“ Land außerhalb des verheißenen Landes hat das Volk Verfügungsgewalt und den Besitzanspruch, den die beiden Stämme für sich nun beanspruchen. Die Gaditen und Rubeniten handeln geschickt: Sie beanspruchen den Besitz des Ostjordanlandes und bieten dafür vollständige Solidarität bei der Landnahme. Ihre Strategie geht auf. Mose stimmt ihrer Forderung und ihrem Angebot zu:
Mose antwortete ihnen: Wenn ihr das tut, wenn ihr euch also vor den Augen des Herrn zum Kampf rüstet und jeder von euch, der sich gerüstet hat, vor den Augen des Herrn den Jordan überschreitet und kämpft, bis er seine Feinde vertrieben hat und das Land dem Herrn unterworfen ist, dann dürft ihr nachher umkehren, und ihr seid gegenüber dem Herrn und Israel frei von weiteren Verpflichtungen. Dann soll dieses Land vor den Augen des Herrn euch als Eigentum gehören. Wenn ihr das aber nicht tut, versündigt ihr euch gegen den Herrn. Dann habt ihr die Folgen für eure Sünde zu tragen; das müsst ihr wissen. Baut euch Städte für eure Kinder, und errichtet Pferche für eure Schafe und Ziegen! Aber haltet auch, was ihr versprochen habt.
Mose verpflichtet die beiden Stämme auf ihr zugesicherte Solidarität und entspricht ihrer Bitte. Das Eigeninteresse und das Gemeinwohl sind versöhnt. Allerdings unterscheiden sich die Perspektiven auf diese Einigung. Während zuvor die Gaditen und Rubeniten in einer fast gönnerischen Haltung ihre leitende Verantwortung bei der Landnahme zugesichert haben, fügt Mose in seiner Wiederholung ihrer Worte jeweils einen bedeutenden Zusatz hinzu: לפני יהוה (gesprochen lifnei adonaj). In der Einheitsübersetzung ist dieser hebräische Ausdruck mit „vor den Augen des Herrn“ wiedergegeben. Alles Handeln der beiden Stämme wird in Beziehung zu Gott gesetzt. In zwei Psalmstellen (Psalm 56,14 und Psalm 116,9) zeigt sich, dass mit dem Ausdruck לפני יהוה eine Handlung als dem Willen Gottes entsprechend qualifiziert wird. Das Handeln soll also nicht rein aus Eigeninteresse geschehen – auch wenn es dem Eigeninteresse dient –, sondern es soll in Entsprechung zum Willen Gottes getan werden. Denn von Gottes Willen ist der Besitz des Ostjordanlands für die beiden Stämme abhängig. Mose setzt also zu den Forderungen und Zusagen der Gaditen und Rubeniten die Einschränkung „so Gott will“ hinzu. Diese Perspektive teilen die Gaditen und Rubeniten im Anschluss an die Worte Moses und wiederholen ihre Zusage mit dem Zusatz לפני יהוה, „im Angesicht Gottes“ beziehungsweise „so Gott will“ (siehe Num 32,25-27).
Gemeinsam
Die Europäische Union ist nicht Gott, nicht das verheißene Land und keine göttliche Pflicht. Sie ist wie das Volk Israel eine Gemeinschaft, die aus vielen Teilen besteht. Sozusagen ein großes Puzzle, in dem die Eigeninteressen der Nationen und die europäische Idee zusammengefügt werden müssen. Die Gaditen und Rubeniten haben auch außerhalb des Landes, in dem Milch und Honig fließen Anteil an der Verheißung. Sie haben ihr eigenes Wohl im Blick und sichern sich am Ende das, was für sie aus ihrer Perspektive am besten ist. Aber sie opfern dafür nicht die Verheißung, die hinter der Wüstenwanderung steht. Der Glaube an die europäische Idee, die hinter dem bürokratischen Koloss der Europäischen Union steht, darf nicht das Opfer einer Kosten-Nutzen-Analyse werden. Zugleich darf eine übergeordnete Idee das Wohlergehen und das Eigene nicht mindern. In der britischen Debatte über den sogenannten „Brexit“ und in der Erzählung in Numeri 32 zeigt sich, dass es, um ein höheres Ziel zu erreichen und einer Verheißung gerecht zu werden, einen Ausgleich von Eigeninteresse und Gemeinwohl geben muss. Dazu gehört, auf der einen Seite auf sein Recht zu pochen, aber sich auch selbst zurücknehmen zu können. Auf der anderen Seite gehört dazu, das Ziel vor Augen den Weg gemeinsam kreativ zu gestalten – so Gott will.
Bildnachweis
Titelbild: „Brexit / EU / Quit Scrabble“, fotografiert von Jeff Djevdet. Lizenziert unter CC BY-SA 2.0.
Bild im Textverlauf: „ Gebiete der 12 Stämme Israels“, erstellt von Janz. Lizenziert unter CC BY-SA 2.5.
Einzelnachweis
1. | ↑ | Die Entscheidung darüber, ob Großbritannien in der Europäischen Union verbleiben oder aus ihr austreten will, war für die britische Parlamentarierin und Brexit-Gegnerin Jo Cox lebensentscheidend für ihr Land. Ihre Position hat sie das Leben gekostet. Siehe „What happened to Jo Cox? Eyewitness claims attacker shouted ‘Britain First’ before shooting her three times“, Chloe Glover, Examiner, 16.06.2016 [Stand 17. Juni 2016]. |
2. | ↑ | „Brexit: Eine Rechnung, viele Unbekannte, große Risken“, DiePresse.com, 23.03.2015 [Stand: 17. Juni 2016]. |
3. | ↑ | „Speech to the College of Europe (‘The Bruges Speech’)”, Magaret Thatcher, gehalten am 20. September 1988 [Stand: 17. Juni 2016]. |