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Freital – der Name dieser Ortschaft klingt wie eine Verheißung. Für die Flüchtlinge, die dort in einer Erstaufnahmestelle für Asylbewerber eine Unterkunft finden, verbindet sich das Wort „frei“ in dem Ortsnamen mit dem Ende der Todesangst, dem Ende der Kriegsgewalt und dem Ende einer kräftezehrenden Flucht. Sie sind an einem Ort angekommen, an dem sie sicher sind. Aber sie geraten mitten in einen „Stellungskrieg“, wie es ZEIT Online in einem Artikel vom 25. Juni beschreibt: „Zwei Lager stehen sich gegenüber, die halbe Nacht, es fliegen Parolen, Schimpfwörter, manchmal auch Eier und Flaschen hin und her. Die einen sagen ‚Nein zum Heim‘, die anderen ‚Ja zu Flüchtlingen‘.“1) Nun haben sich beide Seiten darauf geeinigt, dass vorerst keine Demonstrationen mehr direkt vor der Asylbewerberunterkunft stattfinden sollen. Die Flüchtlinge werden sozusagen aus der Schusslinie genommen – der Konflikt aber bleibt bestehen.2) Es geht um die Frage, wen man in Deutschland willkommen heißt und wen man nicht in Deutschland haben möchte – es geht darum, wie man das Wort „Willkommenskultur“ mit Bedeutung füllt. Während 2006 in Deutschland die Fußballweltmeisterschaft mit dem Motto „Zu Gast bei Freunden“ gefeiert wurde, sagt ein Teil der Gesellschaft heute: Nicht jeder Gast ist willkommen, für Asylbewerber gilt keine Gastfreundschaft.
Der Gast als Engel
Es gibt diese Angst vor dem Fremden, der das Vertraute zu bedrohen scheint. Der Fremde wird von manchen zuerst als potentieller Islamist, Sozialschmarotzer oder Wohlstandsbedroher gesehen, anstatt ihn als einen hilfsbedürftigen Menschen aufzunehmen. Der Angst vor dem Fremden stellt der Hebräerbrief die Forderung nach der Gastfreundschaft entgegen:
Vergesst die Gastfreundschaft nicht; denn durch sie haben einige, ohne es zu ahnen, Engel beherbergt.
Diese Forderung könnte einfach abgewunken und ad acta gelegt werden. Das deutsche Wort „Gast“ verbindet man heute eher mit einem bezahlenden Hotelgast oder einer lieben Person, die man selbst eingeladen hat. Aber das Wort Gastfreundschaft hat eine andere Bedeutung. Das griechische Wort für Gastfreundschaft lautet φιλοξενία (gesprochen: philoxenia) und bedeutet wörtlich „Liebe (zum) Fremden“, „Fremdenliebe“. Gastfreundschaft bedeutet, den Fremden aufzunehmen. Es geht darum, denjenigen den man nicht kennt, trotzdem willkommen zu heißen und ihn zu beherbergen. Genau darum geht es dem Hebräerbrief.
Die Begründung für diesen Rat zur Gastfreundschaft wirkt beinahe mystisch:
… denn durch sie [die Gastfreundschaft] haben einige, ohne es zu ahnen, Engel beherbergt.
Diese Begründung verweist zurück in das Alte Testament, in dem Abraham und Lot in Genesis 18-19 als Paradebeispiele für Gastfreundschaft dargestellt werden.
Abrahams Gastfreundschaft
Die Erzählung in Genesis 18 ist durchaus verwirrend. Sie berichtet von einer Gotteserscheinung. In Vers 1a heißt es:
Der Herr erschien Abraham bei den Eichen von Mamre.
Im nächsten Vers wird jedoch berichtet, dass Abraham nicht Gott sondern drei Männern begegnet:
Er [Abraham] blickte auf und sah vor sich drei Männer stehen. Als er sie sah, lief er ihnen vom Zelteingang aus entgegen, warf sich zur Erde nieder und sagte: Mein Herr, wenn ich dein Wohlwollen gefunden habe, geh doch an deinem Knecht nicht vorbei!
Drei fremde Männer kommen zu Abraham. Er begrüßt sie, indem er ihnen entgegengeht und sich vor ihnen demütig niederwirft. Er bietet ihnen Wasser an, damit sie ihre Füße waschen können. Er lässt Brot für sie backen und lässt ein Kalb für sie zur Stärkung zubereiten. Ganz absichtslos gewährt Abraham seine Gastfreundschaft.
Die Anrede Abrahams an die drei Männer in V 3, „mein Herr“, führt den Leser der Einheitsübersetzung bereits auf die Fährte, dass diese drei Männer nicht einfach irgendwelche Fremde sind. Wie die weitere Erzählung offenbart, handelt es sich zumindest bei einem der drei Gestalten um Gott selbst (Genesis 18,10). Im Hebräischen Text gilt es jedoch zu unterscheiden zwischen der Anrede in V 3 „mein Herr“ (אדני– gesprochen: adonai)3) und der Verwendung des Gottesnamens JHWH ab V 13, der in der Einheitsübersetzung ebenso mit „Herr“ übersetzt wird. Die Szene in Genesis 18,2-9 stellt zuerst einmal Abraham als ein Paradebeispiel für Gastfreundschaft dar.
Das Rätsel, wie Abraham in Genesis 18 Gott in drei Männern begegnen konnte, wird am Anfang des Folgekapitels aufgelöst. Genesis 18 schließt mit dem Satz:
Nachdem der Herr das Gespräch mit Abraham beendet hatte, ging er weg und Abraham kehrte heim.
Das folgende Kapitel, Genesis 19 schließt direkt daran an und beginnt mit dem Satz:
Die beiden Engel kamen am Abend nach Sodom.
Die drei Männer, die Abraham in seiner Gastfreundschaft aufgenommen hat, waren somit Gott und zwei Engel. Gestärkt durch Abraham ziehen die Engel weiter nach Sodom und treffen dort auf Lot, der unter Einsatz seines Lebens und dem Leben seiner Familie seine Gastfreundschaft anbietet und aufrechterhält (Genesis 19).
Ob Abraham am Anfang der Geschichte wusste, dass die drei Männer nicht nur einfach drei Fremde sind und ob Lot wusste, dass es zwei Engel waren, die er aufnahm, erzählen die beiden Geschichten nicht. Im Vordergrund steht die Handlung der absichtslosen Gastfreundschaft.
Gastfreundschaft als Kriterium für das gute Handeln
Im Neuen Testament wird die Gastfreundschaft zum allgemeinen Maßstab, wer ein guter Mensch ist. In der von Jesus in Matthäus 25,31-46 beschriebenen Weltgerichtszene werden die Gerechten gesegnet und der Menschensohn4), der als König zur Gericht sitzt, begründet dies unter anderem mit folgenden Worten:
Denn ich war hungrig und ihr habt mir zu essen gegeben; ich war durstig und ihr habt mir zu trinken gegeben; ich war fremd und obdachlos und ihr habt mich aufgenommen …
Aber keiner der Gerechten hat dem Menschensohn je direkt zu essen oder zu trinken gegeben oder ihn gar aufgenommen unter seinem Dach. Das Kriterium des Gerichts ist in den Worten Jesu nicht das Handeln gegenüber Gott sondern das Handeln gegenüber dem Mitmenschen:
Amen, ich sage euch: Was ihr für einen meiner geringsten Brüder getan habt, das habt ihr mir getan.
Willkommenskultur
Für die Bibel ist Gastfreundschaft eine ethische Verpflichtung. Es geht darum, in dem Fremden den Mitmenschen zu sehen und diese Person als Bruder oder Schwester zu behandeln. Im Angesicht des Anderen soll Gott gesehen werden. Es geht darum, den Fremden mit Abraham entgegenzugehen und mit Lot für den Gast einzustehen. Dem, der hungrig ist, zu essen zu geben, dem der durstig ist, zu trinken zu geben, dem der fremd und hilflos ist, aufzunehmen – das ist Gastfreundschaft. Dem der Frieden und Freiheit sucht, Frieden und Freiheit zu schenken – das wäre eine angemessene Willkommenskultur.5)
Bildnachweis
„Refugees Welcome.“ von blu-news.org. Eigenes Werk. Lizenziert unter CC BY-SA 2.0 über Wikimedia Commons.
Einzelnachweis
1. | ↑ | „Rassismus als Happening“, ZEIT online, 25. Juni 2015 (Stand: 3. Juli 2015). |
2. | ↑ | „In Freital soll nicht mehr demonstriert werden“, Matthias Meisner, tagesspiegel.de, 02.07.2015 (Stand: 3. Juli 2015). |
3. | ↑ | Hebräisch ist eine Konsonantenschrift, der später – um den Textbestand zu sichern – eine Vokalisation hinzugefügt wurde. Etwa ab dem 6. Jahrhundert n. Chr. entwickelten jüdische Gelehrte, die sogenannten Masoreten, ein System für Vokal- und Betonungszeichen, das die Aussprache und damit die Bedeutung des hebräischen Bibeltextes endgültig festlegte. Der Konsonantenbestand in Genesis 18,3 ermöglicht drei Verständnisvarianten. Man kann אדני als Anrede im Singular „mein Herr“, im Plural „meine Herren“ oder als Gottesanrede „mein HERR“ lesen. Am unwahrscheinlichsten ist das Verständnis „meine Herren“, da sich das Verb in Genesis 18,3 im Singular befindet. Die von den Masoreten eingefügte Vokalisation legt das Verständnis „mein HERR“ nahe. Allerdings wäre eine solche Gottesanrede im Buch Genesis einmalig. Vom Kontext legt es sich eher nahe mit „mein Herr“ zu übersetzen. Die Masoreten haben wohl von Genesis 18,1 her, bereits in Genesis 18,3 theologisch betonen wollen, dass es sich um Gott handelt, der zu Abraham kommt. Der Text offenbart dies aber bewusst erst in Genesis 18,13 durch die Verwendung des Gottesnamens. |
4. | ↑ | Zur Erklärung der Bezeichnung “Menschensohn” s. den Artikel im Online-Lexikon WibiLex zu “Menschensohn“ |
5. | ↑ | Zur Flüchtlings-Thematik aus biblischer Perspektive vgl. auch den Blogbeitrag “Du sollst den Flüchtling lieben“. |
Die Deutsche Bischofskonferenz hat ein Internetdossier zur Flüchtlingshilfe der katholischen Kirche veröffentlicht: http://www.dbk.de/presse/details/?presseid=2861&cHash=37e2cad8eb34081defea088efb62ad7d