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Flüchtlinge und sexualisierte Gewalt Die sexuellen Übergriffe in der Silvesternacht und die Schandtat von Gibea (Richter 19)


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Der Aufschrei nach den sexuellen Übergriffen in der Silvesternacht ist groß. Kanzlerin Angela Merkel will eine striktere Abschiebepraxis. Justizminister Heiko Maas verlangt die Ausweisung straffällig gewordener Flüchtlinge. Vizekanzler Sigmar Gabriel sagt klipp und klar: „Null Toleranz gegenüber Kriminalität und sexuellen Übergriffen“ – es gehe nun darum „kriminelle Asylbewerber in ihre Heimat zurückzuschicken“.1)
Alle diese Forderungen sind eine Reaktion darauf, dass unter den Verdächtigen, die sich je in verschiedenen Städten zu einem kriminellen und sexuell übergriffigen Mob zusammenschlossen auch(!) Flüchtlinge befanden.2) Dass sich nicht nur Staatsbürger an das im Land geltende Recht zu halten haben, sondern jeder – dies ist eine Selbstverständlichkeit. Die Politiker, die sich in ihren Reden nun auf diese Selbstverständlichkeit versteifen, verdecken das eigentliche Problem: Wie konnte es mitten in der Gesellschaft zu diesen massenhaften sexuellen Übergriffen kommen? Die Debatte auf die Flüchtlingsthematik zu beschränken, verdeckt das eigentliche Problem.

Das Gesetz gilt für jeden

„Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich“, so heißt es im Grundgesetz in Artikel 3 Paragraph 1.3) Dies bedeutet zugleich, dass jeder sich an das Gesetz halten muss. Bei dieser Aussage handelt es sich nicht um eine moderne Pflicht, sondern um eine alte Gesetzestradition. Nach dem Einzug Israels in das verheißene Land Kanaan verliest Josua, das von seinem Vorgänger Mose verkündete Gesetz und setzt es damit in Kraft (siehe Josua 8,35). Er verliest es nicht nur vor den Stämmen Israels:

Ganz Israel und die Ältesten, die Listenführer und die Richter, standen zu beiden Seiten der Lade neben den levitischen Priestern, den Trägern der Bundeslade des Herrn, dazu Fremde und Einheimische. Die eine Hälfte von ihnen war dem Berg Garizim zugewandt, die andere dem Berg Ebal, wie es Mose, der Knecht Jahwes, für die Segnung des Volkes Israel früher angeordnet hatte. Josua 8,33

Josua verliest das Gesetz auch vor den Fremden, die mit den Israeliten gezogen waren, wie auch vor den in Kanaan einheimischen Menschen. Das Gesetz gilt für jeden.4)
Neben dieser Verständnismöglichkeit der Aussage über die Fremden und die Einheimischen gibt es eine zweite Lesemöglichkeit. Der Vers beginnt mit der Aussage, dass sich „ganz Israel“ versammelt hatte. Der hebräische Text ermöglicht es auch, die Fremden und Einheimischen als Selbstbezeichnung Israel zu deuten. Vor beiden Begriffen steht die Vergleichspartikel כְּ (gesprochen: ke). Somit ließe sich auch übersetzen: „Ganz Israel … als Fremder und als Einheimischer …“. Das Volk Israel ist im Land Israel selbst sowohl ein Fremder als auch ein Einheimischer – als Fremder gekommen und zum Einheimischen geworden. Als dem Land Fremder hat Israel das Gesetz verkündet bekommen und als Einheimischer hält Israel das Gesetz.

Die Pflicht gegenüber dem Gesetz

Die biblische Geschichte zeigt, dass das Volk immer wieder am Gesetz scheitert und gegen Gott sündigt. Eine der grausamsten Geschichte, die davon berichtet, ist die sogenannte Schandtat von Gibea. Ein Levit macht sich mit seiner Nebenfrau auf, um von Betlehem zurück nach Hause zu ziehen. Auf ihrem Weg schlägt ein Knecht des Leviten vor, Rast in der damaligen noch nicht israelitischen Stadt Jerusalem einzulegen. In der Zeit der Erzählung gehörte Jerusalem noch den Jebusitern.

Als sie dort waren, war der Tag schon fast zu Ende gegangen. Darum sagte der Knecht zu seinem Herrn: Komm, wir wollen in der Jebusiterstadt hier einkehren und übernachten. Sein Herr antwortete ihm: Wir wollen nicht in einer Stadt von Fremden, die nicht zu den Israeliten gehört, einkehren, sondern nach Gibea weiterziehen. Richter 19,11-12

In biblischer Zeit war man auf Reisen auf die Gastfreundschaft anderer angewiesen. Aber in Gibea nimmt niemand die Reisenden in seinem Haus auf. Gibea gehört in das Stammesgebiet der Benjaminiter. Aber keiner der Benjaminiter gewährt Gastfreundschaft, sondern nur ein alter Mann, der aus dem Gebirge Efraims stammte (Richter 19,16). Am Anfang der Erzählung wird berichtet, dass der Levit selbst als Fremder im Gebirge Efraims wohnte. Der Fremde gewährt dem Fremden Gastfreundschaft und zugleich sind alle Personen Israeliten. Diese Gastfreundschaft wird von dem folgenden Verhalten der Gibeaniter konterkariert:

Während sie sich’s nun wohl sein ließen, umringten plötzlich einige Männer aus der Stadt, übles Gesindel, das Haus, schlugen an die Tür und sagten zu dem alten Mann, dem Besitzer des Hauses: Bring den Mann heraus, der in dein Haus gekommen ist; wir wollen unseren Mutwillen mit ihm treiben. Richter 19,22

Wörtlich übersetzt, beabsichtigt der Mob die Gäste „zu erkennen“. Das Verb ידע (gesprochen: jada). Hat ein sehr breites Bedeutungsspektrum und kann unter anderem auch den Akt des Geschlechtsverkehrs bezeichnen (siehe zum Beispiel Genesis 4,1: „Adam erkannte Eva, seine Frau; sie wurde schwanger und gebar Kain.“). Dass der Mob beabsichtigt, die Gäste zu vergewaltigen, wird im Fortgang der Erzählung mehr als deutlich. Bedrängt von der pervertierten Masse stößt der Levit seine Nebenfrau vor die Tür. Er verachtet ihre Würde und opfert sie für sein Wohlergehen:

Doch die Männer wollten nicht auf ihn hören. Da ergriff der Levit seine Nebenfrau und brachte sie zu ihnen auf die Straße hinaus. Sie missbrauchten sie und trieben die ganze Nacht hindurch bis zum Morgen ihren Mutwillen mit ihr. Sie ließen sie erst gehen, als die Morgenröte heraufzog. Richter 19,25

Die Gewalt gegen die Frau, die Vergewaltigung löst die angespannte Situation auf. Die Frau wird missbraucht, zu Tode vergewaltigt und der Levit bleibt unberührt. Die Folge dieser Schandtat ist, dass der Levit ganz Israel zum Krieg gegen die israelitische Stadt Gibea aufruft (Richter 20).

Der Prophet Hosea bezeichnet das Auftreten des durch den sexuellen Trieb bestimmten Mobs als Beginn der Sündengeschichte des Volkes:

Seit den Tagen von Gibea dauert Israels Sünde, sie sind seither nicht anders geworden. Wird nicht wie in Gibea der Krieg über sie kommen wegen ihrer Verbrechen? Hosea 10,9

In diesem Prophetenspruch wird eine direkte Linie von der Schandtat von Gibea zur allgemeinen Abkehr Israels von Gott gezogen, die schlussendlich ins Exil führte. Es waren nicht nur „einige Männer aus der Stadt“, es war nicht nur ein „übles Gesindel“, das verantwortlich für das Geschehen ist, sondern es ist das Versagen der gesamten Stadt Gibea, die den Mob hat walten lassen. Für den Propheten Hosea ist die Schandtat von Gibea Ausdruck für das Versagen der gesamten Volksgemeinschaft. In Gibea hat sich die sexualisierte Gewalt gegen die Gesetzesordnung durchgesetzt. Der Mob hat obsiegt, die Mitbürgerlichkeit und Gastfreundschaft haben verloren. Die Gemeinschaft hat versagt.

Die eigentliche Frage

Flüchtlinge, die an den sexuellen Übergriffen in der Silvesternacht beteiligt waren, müssen bestraft werden. Aber im Endeffekt spielt es nur eine untergeordnete Rolle, ob an der sexualisierten Gewalt Flüchtlinge, Immigranten und/oder deutsche Staatsbürger beteiligt waren. Der eigentliche Skandal liegt darin, dass inmitten der Gesellschaft ein solcher Mob wüten kann. In der Erzählung über die Schandtat von Gibea gibt es eine Leerstelle: Warum hat der Großteil der Stadtbevölkerung Gibeas nichts getan?

Margarete Stokowski hat in ihrem Kommentar auf Spiegel Online den Finger in die „richtige“ Wunde gelegt: „Es hätte eine Debatte über sexualisierte Gewalt nach jedem verdammten Oktoberfest, nach jedem Karneval und jeder WM-Fanmeile geben können. Gab es aber nicht. Weil kaum jemand sich freiwillig mit so hässlichen Dingen beschäftigt und zugeben will, wie weitverbreitet Übergriffe dieser Art sind. In einer EU-weiten Studie gaben 55 Prozent der Frauen an, sexuelle Belästigung erlebt zu haben.“5)

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Bildnachweis

Titelbild: „Unterdrückung“, von isabellaquintana. Lizenziert unter CC0 1.0.

Einzelnachweis   [ + ]

1. Siehe „Reaktion auf Kölner Silvesternacht: Vizekanzler Gabriel fordert schnellere Abschiebungen“, Spiegel Online, 08.01.2016 [Stand: 8. Januar 2016].
2. Siehe „Übergriffe an Silvester: Wer sind die Verdächtigen von Köln?“, Spiegel Online, 07.01.2016 [Stand: 8. Januar 2016].
3. Siehe „Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland“ auf der Homepage des Deutschen Bundestages [Stand: 8. Januar 2016].
4. Vgl. den Beitrag „Du sollst den Flüchtling lieben“, in dem die Gesetze für Fremde im Land Israel behandelt werden.
5. Sexualisierte Gewalt: Des Rudels Kern“, Margarete Stokowski, Spiegel Online, 07.01.2016 [Stand: 08. Januar 2016]. Sie verweist dabei auf einen Bericht der Agentur der Europäischen Union für Grundrechte (FRA), der das Ausmaß der Gewalt gegen Frauen hervorhebt.
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