den Artikel
Hinter dem schönen Klang der Theologensprache verbergen sich nicht selten höchst irdische Fragen. Am 4. Oktober 2015 beginnt die mit Spannung erwartete XIV. Ordentliche Generalversammlung der Bischofssynode unter dem Thema „Die Berufung und Sendung der Familie in Kirche und Welt von heute“. Nicht nur, dass kaum ein Brautpaar bei der Eheschließung eine unmittelbare persönliche Berufung und Sendung empfunden haben dürfte; nach Kennenlernen und Verliebtsein gilt die Eheschließung eher als Besiegelung der Liebe in der Hoffnung, sie möge ein Leben lang halten. Auch die alltäglichen Probleme und Fragen, denen sich einfache Eheleute ausgesetzt sehen, angefangen von der Sorge um die Kinder, über die Frage, warum am Ende des Geldes noch so viel Monat übrig ist, bis hin zu den vielen kleinen und großen Krisen und Konflikten, denen Menschen ausgesetzt sind, wenn sie eng zusammen leben, lassen nur in den seltensten Fällen den Wunsch aufkommen, die eigene Berufung und Sendung in Kirche und Welt explizit zu verwirklichen.
Barmherzigkeit vs. Lehre?
Tatsächlich sind die Fragen, die auf der XIV. Generalversammlung der Bischofssynode wohl verhandelt werden, wesentlich konkreter. Der dritte Teil der Lineamenta1), also dem vom Vatikan veröffentlichten Dokument, das die Bischofssynode vorbereitet, beschäftigt sich dann auch mit sehr alltäglichen Fragen, wie etwa der Seelsorge für jene, die in einer Zivilehe oder ohne Trauschein zusammen leben, der Frage nach den wiederverheiratet Geschiedenen, den Alleinerziehenden, aber auch der pastoralen Aufmerksamkeit gegenüber Personen mit homosexueller Orientierung.
Die Spannung, die sich zwischen der theologisch und sprachlich überhöhten Perspektive der Ehe und der alltäglichen, menschlich gelebten Wirklichkeit auftut, schlägt sich auch in den Diskussionen nieder, die bereits die dritte außerordentliche Generalversammlung der Bischofssynode geprägt hatten, die im Oktober 2014 in Rom tagte. Im Wesentlichen geht es um die Frage, wie sich Barmherzigkeit (griechisch ἐλεημοσύνη – gesprochen: eleemosyne) und kirchliche Lehre zueinander verhalten.
Nun aber hat Papst Franziskus in einem an den Präsidenten des Päpstlichen Rats zur Förderung der Neuevangelisierung, Erzbischof Rino Fisichella, gerichteten Brief vom 1. September 2015 verschiedene Punkte in den Blick genommen,
„damit die Feier des Heiligen Jahres für alle Gläubigen ein echter Moment der Begegnung mit der Barmherzigkeit Gottes sein kann“2).
Er schreibt weiter:
„Denn mein Wunsch ist es, dass das Jubiläum eine lebendige Erfahrung der Nähe des Vaters sei, seine Zärtlichkeit gleichsam mit Händen greifen zu können, damit der Glaube aller Gläubigen gestärkt und so das Zeugnis stets wirksamer werde.“3)
Die Äußerungen Papst Franziskus’ beziehen sich auf das Heilige Jahr, das im Dezember 2015 beginnt und unter dem besonderen Thema der Barmherzigkeit steht.
Wechselwirksamkeit
Die Barmherzigkeit selbst wird zu einem leitenden Motiv. Sie ist es schon deshalb, weil sie eine zentrale Rolle in den acht Seligpreisungen spielt. Sie stellen am Beginn der Bergpredigt des Jesus von Nazareth eine Art „Leseanweisung“ dar. Dort heißt es in der fünften Seligpreisung:
Selig die Barmherzigen; denn sie werden Erbarmen finden.
Die Seligpreisung beschreibt eine Wechselwirksamkeit der Barmherzigkeit. Nur wer barmherzig ist, wird selbst Barmherzigkeit erfahren. Dabei ist ein wichtiger sprachlicher Aspekt zu beachten. Die Barmherzigkeit der fünften Seligpreisung, ist eine von Gott stammende Barmherzigkeit. Nur diese wird mit dem griechischen Begriffsfeld ἐλεημοσύνη (gesprochen: eleemosyne) bzw. ἐλεεῖν (gesprochen: eleeîn) angesprochen. Die rein menschliche Barmherzigkeit wird als εὐσπλαγχνία (gesprochen: eusplangchnía) bezeichnet. Das Wort kommt als Adjektiv (εὔσπλαγχνος – gesprochen: eusplangchnos) allerdings nur zweimal im Neuen Testament vor. So heißt es im Epheserbrief:
Seid gütig zueinander, seid barmherzig (εὔσπλαγχνοι), vergebt einander, weil auch Gott euch durch Christus vergeben hat.
Und der Autor des 1. Petrusbriefes schreibt:
Endlich aber: seid alle eines Sinnes, voll Mitgefühl und brüderlicher Liebe, seid barmherzig (εὔσπλαγχνοι) und demütig!
Keine Gerechtigkeit ohne Barmherzigkeit
Die Barmherzigkeit, von der im Neuen Testament sonst die Rede ist, ist dagegen gottgewirkte Barmherzigkeit. Die fünfte Seligpreisung deutet allerdings an, dass diese Barmherzigkeit nicht vom Himmel fällt. Sie ereignet sich im menschlichen Handeln. Freilich ist es kein bloßes Handeln aus menschlichem Antrieb. Vielmehr handelt Gott durch den Menschen hindurch am Menschen barmherzig. Wie konkret das im Alltag wird, zeigt die Fortführung der Bergpredigt. Dort heißt es über das Almosengeben:
Hütet euch, eure Gerechtigkeit vor den Menschen zur Schau zu stellen; sonst habt ihr keinen Lohn von eurem Vater im Himmel zu erwarten. Wenn du Almosen gibst, lass es also nicht vor dir herposaunen, wie es die Heuchler in den Synagogen und auf den Gassen tun, um von den Leuten gelobt zu werden. Amen das sage ich euch: Sie haben ihren Lohn bereits erhalten. Wenn du Almosen gibst, soll deine linke Hand nicht wissen, was deine rechte tut. Dein Almosen soll verborgen bleiben, und dein Vater, der auch das Verborgene sieht, wird es dir vergelten.
Dreimal kommt in der Einheitsübersetzung von 1975 in diesem Abschnitt das Wort „Almosen“ vor. Es gibt das griechische Wort ἐλεημοσύνη (gesprochen: eleemosyne) wieder, das wörtlich eben „Barmherzigkeit“ heißt. Das Almosen ist in sich ein Akt göttlicher Barmherzigkeit. Im Almosen erweist sich diese göttliche Barmherzigkeit. Dessen muss sich der Geber bewusst sein. Es ist an sich eigentlich nicht seine Gabe. In seiner Gabe verwirklicht sich die Barmherzigkeit Gottes, die die Gerechtigkeit (δικαιοσύνη – gesprochen: dikaiosyne) zum Ziel hat. Weil es sich eben um die Gerechtigkeit Gottes handelt, mahnt der erste Vers des Abschnittes, sich davor zu hüten, die vermeintlich eigene Gerechtigkeit vor den Menschen zur Schau zu stellen.
Barmherzigkeit als Paradigma des Volkes Gottes
Die Wechselwirksamkeit der Barmherzigkeit, die in der fünften Seligpreisung festgestellt wird, hat Auswirkungen auch auf das Selbstverständnis des Volkes Gottes. So stellt der Autor des 1. Petrusbriefes unumwunden fest:
Euch, die ihr glaubt, gilt diese Ehre. Für jene aber, die nicht glauben, ist dieser Stein, den die Bauleute verworfen haben, zum Eckstein geworden, zum Stein, an den man anstößt, und zum Felsen, an dem man zu Fall kommt. Sie stoßen sich an ihm, weil sie dem Wort nicht gehorchen; doch dazu sind sie bestimmt. Ihr aber seid ein auserwähltes Geschlecht, eine königliche Priesterschaft, ein heiliger Stamm, ein Volk, das sein besonderes Eigentum wurde, damit ihr die großen Taten dessen verkündet, der euch aus der Finsternis in sein wunderbares Licht gerufen hat. Einst wart ihr nicht sein Volk, jetzt aber seid ihr Gottes Volk; einst gab es für euch kein Erbarmen, jetzt aber habt ihr Erbarmen gefunden.
Der letzte Vers weist die Barmherzigkeit als Paradigma des Volkes Gottes aus:
Einst wart ihr nicht sein Volk, jetzt aber seid ihr Gottes Volk; einst gab es für euch kein Erbarmen (ἠλεημένοι), jetzt aber habt ihr Erbarmen (ἐλεηθέντες) gefunden.
Ob man Volk Gottes (λαὸς θεοῦ – gesprochen: laòs theoû) ist oder nicht, erweist sich in der Barmherzigkeit. Barmherzigkeit – und damit verbunden Gerechtigkeit – empfängt man aber eben nicht bloß. Man erhält sie gemäß der fünften Seligpreisung, wenn man sie selbst vollzieht.
Wer unbarmherzig ist, ist in sich gerichtet
Wie bedeutsam dieses Selbstverständnis für das Volk Gottes in all seinen Gliedern ist, wird im Matthäusevangelium ausgeführt. In der großen Rede vom Weltgericht (Matthäus 25,31-46) kommt das Wort Barmherzigkeit (ἐλεημοσύνη) zwar nicht vor. Der Sache nach prägt es aber die dargestellten Handlungen, wenn Jesus spricht:
Ich war hungrig und ihr habt mir zu essen gegeben; ich war durstig und ihr habt mir zu trinken gegeben; ich war fremd und obdachlos und ihr habt mich aufgenommen; ich war nackt und ihr habt mir Kleidung gegeben; ich war krank und ihr habt mich besucht; ich war im Gefängnis und ihr seid zu mir gekommen.
Die Folgen dieses Handelns werden so zusammengefasst:
Amen, ich sage euch: Was ihr für einen meiner geringsten Brüder getan habt, das habt ihr mir getan.
Die Folgen des unbarmherzigen Handelns werden ebenfalls festgestellt:
Amen, ich sage euch: Was ihr für einen dieser Geringsten nicht getan habt, das habt ihr auch mir nicht getan.
Es ist also keinesfalls egal, ob man handelt oder nicht. Die Verantwortung bleibt. Man kann sich nicht auf einen Lehrnotstand oder ähnliches berufen. An der Barmherzigkeit oder Unbarmherzigkeit des Handelns entscheidet sich das Geschick des Menschen:
Und sie werden weggehen und die ewige Strafe erhalten, die Gerechten aber das ewige Leben.
Die Barmherzigkeit selbst wird zum Ort des Gerichtes. Das Gericht ereignet sich nicht irgendwann in der Zukunft. Es ereignet sich jetzt und hier, in diesem Moment, in dem ich eben barmherzig oder unbarmherzig handle.
Ehelehre und Barmherzigkeit
Gerhard Ludwig Kardinal Müller, der Präfekt der Glaubenskongregation, warnt immer wieder davor, Barmherzigkeit gegen die Reinheit der kirchlichen Lehre auszuspielen. So sei die „Lebenswirklichkeit“ zwar ein soziologischer Begriff, aber eben keine Offenbarungsquelle4). Mit Blick auf das Heilige Jahr, das Papst Franziskus vor allem als Jahr der Barmherzigkeit ausgerufen hat, stellt er fest:
„Das Heilige Jahr soll dazu dienen, die Menschen daran zu erinnern, dass die Barmherzigkeit nicht ohne die Wahrheit sein kann.“5)
Weil ohne Zweifel die Heilige Schrift als das nach Menschart gesprochene Wort Gottes das von Gott Geoffenbarte enthält6), lohnt sich also ein besonderer Blick auf die in der Bibel enthaltene Wahrheit. Dort wird unter anderem die Begegnung Jesu mit einer Ehebrecherin geschildert, der nach jüdischem Gesetz die Steinigung droht:
Jesus aber ging zum Ölberg. Am frühen Morgen begab er sich wieder in den Tempel. Alles Volk kam zu ihm. Er setzte sich und lehrte es. Da brachten die Schriftgelehrten und die Pharisäer eine Frau, die beim Ehebruch ertappt worden war. Sie stellten sie in die Mitte und sagten zu ihm: Meister, diese Frau wurde beim Ehebruch auf frischer Tat ertappt. Mose hat uns im Gesetz vorgeschrieben, solche Frauen zu steinigen. Nun, was sagst du? Mit dieser Frage wollten sie ihn auf die Probe stellen, um einen Grund zu haben, ihn zu verklagen. Jesus aber bückte sich und schrieb mit dem Finger auf die Erde. Als sie hartnäckig weiterfragten, richtete er sich auf und sagte zu ihnen: Wer von euch ohne Sünde ist, werfe als Erster einen Stein auf sie. Und er bückte sich wieder und schrieb auf die Erde. Als sie seine Antwort gehört hatten, ging einer nach dem anderen fort, zuerst die Ältesten. Jesus blieb allein zurück mit der Frau, die noch in der Mitte stand. Er richtete sich auf und sagte zu ihr: Frau, wo sind sie geblieben? Hat dich keiner verurteilt? Sie antwortete: Keiner, Herr. Da sagte Jesus zu ihr: Auch ich verurteile dich nicht. Geh und sündige von jetzt an nicht mehr!
Die reine Lehre fordert den Tod der Frau. Aber Jesus ist barmherzig. In der Barmherzigkeit ereignet sich das Gericht – hier und jetzt.
Der Vorrang der Barmherzigkeit
Das Lehrstück aus dem Johannesevangelium zeigt den Vorrang der Barmherzigkeit vor der Befolgung der reinen Lehre. Es gibt eben keine Wahrheit ohne Barmherzigkeit. Das Verhältnis ist nicht austauschbar; es ist nicht kommutativ. Trotz ihrer Verfehlung verurteilt Jesus die Ehebrecherin nicht. Er lässt sie ziehen. Aber er gibt ihr mit auf den Weg, von jetzt an nicht mehr zu sündigen.
Die Sünde – das ist keine Tat, sondern ein Zustand. Es ist der Zustand des Getrenntseins von Gott. Es ist der Zustand der Unbarmherzigkeit. Als Ehebrecherin war die Frau unbarmherzig. Die Unbarmherzigkeit manifestierte sich im Betrug an ihrem Ehemann. Die Aufforderung Jesu, von jetzt an nicht mehr zu sündigen, heißt konkret in der Liebe Gottes zu bleiben, der Liebe Gottes gemäß zu handeln, Barmherzigkeit zu üben, so wie sie selbst von Jesus Barmherzigkeit empfangen hat.
Paradigmenwechsel – Keine Wahrheit ohne Barmherzigkeit
Der Vorrang der Barmherzigkeit muss in jeder Zeit neu ausgelotet werden. Auch Gerhard Ludwig Kardinal Müller scheint dem Paradigmenwechsel nicht ausweichen zu können, wenn er mit Blick auf das der Barmherzigkeit gewidmete Heilige Jahr feststellt:
„Die Liebe lässt Gott und auch uns Menschen Mitleid haben mit einem verlassenen oder verratenen Ehepartner, mit den Kindern, die zu Scheidungswaisen wurden, und mit all der Tragik, die mit einer zerbrochenen Familie verbunden ist.“7)
Die Frage ist nur, ob das rigide Festhalten an der Ehe in diesen Fällen immer barmherzig ist: Ist es für den verlassenen Partner immer nur ein Glück, wenn die Ehe aufrecht erhalten bleibt? Wird es nicht zur Qual, mit den Scheidungswaisen alleine bleiben zu müssen, weil die Kirche den Segen für eine mögliche neue Liebe schuldig bleibt? Jetzt gilt es, die Mahnung Jesu zu beherzigen:
Amen, ich sage euch: Alles, was ihr auf Erden binden werdet, das wird auch im Himmel gebunden sein, und alles, was ihr auf Erden lösen werdet, das wird auch im Himmel gelöst sein.
Der Satz manifestiert scheinbar die Reinheit und Ausnahmslosigkeit von der Unauflöslichkeit der Ehe. Tatsächlich aber sagt Jesus ihn im Zusammenhang mit geschwisterlichen Zurechtweisung streitender Gemeindemitglieder (vgl. Matthäus 18,15-17). Und schließlich mündet die Mahnung in das Gleichnis vom unbarmherzigen Gläubiger (vgl. Matthäus 18,21-35).
Das Gleichnis erzählt von einem Mann, der seinem König eine schier unglaubliche Summe Geld schuldete. Weil er die Schuld nicht zurückzahlen kann, bittet er seinen Herrn um Geduld. Aus Mitleid erlässt dieser ihm die Schuld. Der so barmherzig Begnadete geht nun aber hin und fordert von einem seiner Schuldnern eine vergleichsweise mehr als geringe Summe unbarmherzig zurück. Darauf hin lässt ihn der König schwer bestrafen. Dazu führt das Matthäusevangelium folgenden Grund an:
Hättest nicht auch du mit jenem, der gemeinsam mit dir in meinem Dienst steht, Erbarmen haben müssen, so wie ich mit dir Erbarmen hatte?
Erbarmen – der griechische Text ist hier eindeutig: ἐλεῆσει (gesprochen: eleêsei) bzw. ἠλέσα (gesprochen: elésa). Beide Verben signalisieren wie die deutsche Übersetzung: Barmherzigkeit setzt Barmherzigkeit voraus.
Nach dem Gleichnis macht Jesus sich auf den Weg nach Jerusalem (vgl. Matthäus 19,1). Dort wird er, der die Barmherzigkeit verkündet, in Konflikt mit den Vertretern der reinen Lehre geraten.
Keine Frage der Lehre
Die Binde- und Lösegewalt, die Jesus seinen Jüngern im Matthäus 18,18 überträgt, beinhaltet keinen Auftrag der Selbstermächtigung. Es ist eher eine Warnung. Wie sehr Barmherzigkeit und Vergebung eine conditio sine qua non derer ist, die Jesus nachfolgen, zeigt der vor dem Gleichnis vom unbarmherzigen Gläubiger stehende Einschub:
Da trat Petrus zu ihm und fragte: Herr, wie oft muss ich meinem Bruder vergeben, wenn er sich gegen mich versündigt? Siebenmal? Jesus sagte zu ihm: Nicht siebenmal, sondern siebenundsiebzigmal.
Vergebung und Barmherzigkeit sind Pflicht. Wer die Lösung von der Schuld verweigert, handelt entsprechend unbarmherzig. Er stellt sich zwischen Gott und den um Vergebung Bittenden. Wer dermaßen unbarmherzig handelt, handelt sich das Gericht ein.
Barmherzigkeit ist Pflicht
Lehre ist notwendig. Denn Lehre enthebt den Glauben der Beliebigkeit. Und doch muss sich jede Lehre an der Barmherzigkeit messen lassen. Das Wort Gottes ist eindeutig: Wahrheit gibt es nicht ohne Barmherzigkeit. Und Barmherzigkeit ist kein Bekenntnis, sondern ein Tatwort. Barmherzigkeit drängt zur Wirklichkeit. Das gilt es für Christen gerade in diesen Tagen immer wieder neu umzusetzen. Die Herausforderungen der Gegenwart sind groß. Die Begegnung mit den aus der Heimat vertriebenen Flüchtlingen, der Umgang mit den Nächsten und Armen in Land und Stadt, aber auch der Umgang mit den vielen, deren Lebensträume ohne eigenes Zutun zerplatzt sind.
Papst Franziskus vollzieht diesen Paradigmenwechsel der Gegenwart in seinem schon erwähnten Schreiben an Erzbischof Fisichella ganz konkret, wenn er schreibt:
„Ein gravierendes Problem unserer Zeit ist sicherlich die veränderte Beziehung zum Leben. Eine sehr verbreitete Mentalität hat mittlerweile zum Verlust der persönlich und gesellschaftlich geschuldeten Sensibilität gegenüber der Annahme eines neuen Lebens geführt. Das Drama der Abtreibung wird von manchen mit einem oberflächlichen Bewusstsein erlebt, so dass sie sich über das schwerwiegende Übel, das ein solcher Akt mit sich bringt, fast nicht im Klaren sind. Viele andere dagegen, die diesen Moment zwar als Niederlage erleben, meinen, keinen anderen Ausweg zu haben. Ich denke vor allem an alle Frauen, die eine Abtreibung haben durchführen lassen. Ich weiß um den Druck, der sie zu dieser Entscheidung geführt hat. Ich weiß, dass dies eine existentielle und moralische Tragödie ist. Ich bin sehr vielen Frauen begegnet, die in ihrem Herzen die Narben dieser leidvollen und schmerzhaften Entscheidung trugen. Was geschehen ist, ist zutiefst ungerecht. Und doch: Nur wenn man es in seiner Wahrheit versteht, ist es möglich, die Hoffnung nicht zu verlieren. Die Vergebung Gottes für jeden Menschen, der bereut, kann diesem nicht versagt werden, besonders wenn er mit ehrlichem und aufrichtigem Herzen das Sakrament der Vergebung empfangen will, um Versöhnung mit dem Vater zu erlangen. Auch aus diesem Grund habe ich, ungeachtet gegenteiliger Bestimmungen, entschieden, für das Jubiläumsjahr allen Priestern die Vollmacht zu gewähren, von der Sünde der Abtreibung jene loszusprechen, die sie vorgenommen haben und reuigen Herzens dafür um Vergebung bitten.“8)
Abtreibung9) bleibt ein Unrecht. Aber die Barmherzigkeit gebietet Vergebung. Das ist eine neue Perspektive, die der Aufforderung, nicht mehr zu sündigen, nichts an Kraft nimmt. Im Gegenteil: Die erfahrene Barmherzigkeit wird zum Modell für die eigene Barmherzigkeit.
Auch wenn der Erlass des Papstes für das Heilige Jahr der Barmherzigkeit befristet ist, es zeigt eine neue Denkweise. Man darf gespannt sein, wie die Teilnehmer der XIV. Ordentlichen Generalversammlung der Bischofssynode angesichts dieses Blicks zurück auf das barmherzige Handeln Jesu den Weg nach vorn finden werden, in der sich die Wahrheit der Lehre in ihrer Barmherzigkeit erweist.
Bildnachweis
Titelbild: “Schwächstes Glied” von Baweg / photocase.de – Lizenziert unter Photocase Basislizenz.
Bild 1: “Schlüssel zum Wissen” – BMFGbR / photocase.de – Lizenziert unter Photocase Basislizenz
Bild 2: Schlussdialog aus dem Film “Matrix” – grafische Gestaltung: Christoph Schönbach
Video: metanoeîen – Katholische Citykirche Wuppertal (Quelle: https://vimeo.com/48651150)
Einzelnachweis
1. | ↑ | Die Lineameta zur XIV. Ordentlichen Generalversammlung der Bischofssynode können hier eingesehen werden: http://www.dbk.de/fileadmin/redaktion/diverse_downloads/dossiers_2015/2015-Bischofssynode-Lineamenta.pdf [Stand: 6. September 2015]. |
2. | ↑ | Papst Franziskus, Brief an Erzbischof Rino Fisichella (Präsident des Päpstlichen Rats zur Förderung der Neuevangelisierung) vom 1. September – http://www.im.va/content/gdm/de/giubileo/lettera.html [Stand: 6. September 2015]. |
3. | ↑ | Ebd. |
4. | ↑ | Vgl. hierzu http://www.kath.net/news/50039 [Stand: 6. September 2015]. |
5. | ↑ | Zitiert nach: http://www.katholisches.info/2015/03/31/keine-barmherzigkeit-ohne-wahrheit-kardinal-mueller-ueber-das-heilige-jahr-und-die-bischofssynode/ [Stand: 6. September 2015]. |
6. | ↑ | Vgl. Vaticanum II, Dogmatische Konstitution Die Verbum über die göttliche Offenbarung, Nr. 11f (http://www.vatican.va/archive/hist_councils/ii_vatican_council/documents/vat-ii_const_19651118_dei-verbum_ge.html [Stand: 6. September 2015]). |
7. | ↑ | Quelle: http://www.kath.net/news/50039 [Stand: 6. September 2015]. |
8. | ↑ | Papst Franziskus, a.a.O. |
9. | ↑ | Vgl. hierzu auch den Dei-Verbum-Beitrag von Till Magnus Steiner, Das ungeformte Leben im Mutterleib, http://www.dei-verbum.de/das-ungeformte-leben-im-mutterleib/. |