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„Die Familie ist es, die unsren Zeiten nottut.“ – diesen Satz schrieb Adalbert Stifter bereits 1857 in seinem Roman „Der Nachsommer“.1) Als „Fundament der Gesellschaft“ und als „Schule reich entfalteter Humanität“ beschreibt nun das Arbeitsdokument zur anstehenden XIV. Ordentliche Generalversammlung der Bischofssynode, die Bedeutung der Familie.2) Der Wichtigkeit von Familie, die aus diesen Zitaten herauszulesen ist, stimmt ein Großteil der Menschen heute zu: 2014 hielten es 78,4% der deutschen Bevölkerung für wichtig und erstrebenswert für die Familie da zu sein und sich für die Familie einzusetzen;3) 88% der Bevölkerung sehen die Familie als wichtigsten Garanten für Stabilität und Sicherheit im Leben.4) Aber die Definition dessen, was eine Familie ist, fällt zunehmend schwer. Im Katechismus der Katholischen Kirche heißt es: „Ein Mann und eine Frau, die miteinander verheiratet sind, bilden mit ihren Kindern eine Familie.“5) Dieser Definition folgend fasst das Arbeitsdokument zur Bischofssynode unter der Überschrift „verwundete Familien“ Getrenntlebende, nicht wiederverheiratete Geschiedene, wiederverheiratete Geschiedene und Alleinerziehende zusammen.6) Zugleich betont das Dokument jedoch auch, dass „die Wirklichkeit der heutigen Familie in ihrer ganzen Komplexität, mit ihren Licht- und Schattenseiten“ zu beachten ist.7) Das klassische Familienkonzept (Mann + Frau + Kinder = Familie) ist auf dem Rückzug und reiht sich neben anderen Konzepten in eine Vielfalt ein, neben Ein-Eltern-, Patchwork-, Regenbogen- oder Großfamilien. Das Ideal ist somit zunehmend mit der Wirklichkeit konfrontiert.
Die heilige und wahre Familie
Die biblische Wirklichkeit stellt da keine Ausnahme dar – auch sie steht im Kontrast zum Ideal. Jesus entstammt einer Patchwork-Familie und als seine Mutter und seine Brüder eines Tages vor der Tür stehen, fragt er:
Wer ist meine Mutter und wer sind meine Brüder?
Auf diese Frage gibt er auch direkt selbst eine Antwort, die den Familienbegriff ganz neu definiert:
Und er blickte auf die Menschen, die im Kreis um ihn herumsaßen, und sagte: Das hier sind meine Mutter und meine Brüder. Wer den Willen Gottes erfüllt, der ist für mich Bruder und Schwester und Mutter.
So betrachtet zeigt sich im Jesus der Evangelien ein Bild der Wirklichkeit: Familie ist kompliziert. Für die heutige Komplexität dessen, was als Familie verstanden wird, bietet das Alte Testament eine Vielzahl von Vor-Bildern.
Das Ideal und die Komplexität
Um eine Familie zu gründen, verlässt ein Mann seine Eltern – so sagt es jedenfalls Adam im Angesicht von Eva in der Schöpfungsgeschichte:
Und der Mensch sprach: Das endlich ist Bein von meinem Bein und Fleisch von meinem Fleisch. Frau soll sie heißen, denn vom Mann ist sie genommen. Darum verlässt der Mann Vater und Mutter und bindet sich an seine Frau und sie werden ein Fleisch.
Man könnte nun den deutschen Text so auslegen, als ob das Verb „sich binden an jemanden“ auf die Institution Ehe hinweise. Der Blick in die Konkordanz führt jedoch zum Beispiel in das Buch Rut. Dort wird das zugrundliegende hebräische Verb דבק (gesprochen: davak) für das Verhältnis von Rut zu ihrer Schwiegermutter verwendet (Rut 1,14): Während nach dem Tod der Söhne Noomis, die eine Schwiegertochter, Orpa, ihre Schwiegermutter verließ und zu ihrer Familie zurückkehrt, bleibt Rut als verwitwete Schwiegertochter bei Noomi. Sie „hing an ihr / blieb bei ihr“ – das ist die Bedeutung des hebräischen Verb דבק. Rut kehrt mit ihrer Schwiegermutter, Noomi, aus Moab zurück nach Israel. Die Geschichte Ruts verdeutlicht, dass Familie das ist, wo Menschen dauerhaft und generationenübergreifend persönlich füreinander einstehen und Verantwortung übernehmen (vgl. Rut 1,16).
In Israel trifft Rut auf Boas, einen fernen Verwandten ihres verstorbenen Ehemanns. Am Ende der Geschichte heiraten sie, Rut wird schwanger und sie haben einen Sohn, der nun als Sohn Noomis angesehen wird:
Noomi nahm das Kind, drückte es an ihre Brust und wurde seine Wärterin. Die Nachbarinnen wollten ihm einen Namen geben und sagten: Der Noomi ist ein Sohn geboren. Und sie gaben ihm den Namen Obed.
Noomi wird im hebräischen Text als אמנת (gesprochen: omenet) bezeichnet. Mit der maskulinen Form des hebräischen Wortes wird Mordechai im Buch Esther als Pflegevater/Adoptivvater bezeichnet:
Und er war Vormund [Pflegevater, אמן – gesprochen: omen] von Hadassa, das ist Ester, der Tochter seines Onkels; denn sie hatte weder Vater noch Mutter.
Rut ist zwar nicht tot und auch Boas lebt, aber das Kind gilt als Sohn Noomis, wie es auch die Worte der Nachbarinnen verdeutlichen:
Der Noomi ist ein Sohn geboren.
Normalerweise wird diese Formel („Person X ist ein Sohn geboren!“) verwendet, um dem Vater mitzuteilen, dass er einen Sohn hat. Oder die Formel wird verwendet, um öffentlich zu machen, dass jemand der Vater eines neugeborenen Sohnes ist (vgl. zum Beispiel Jeremia 20,15) – es scheint fast so als wolle der Text verdeutlichen, dass Noomi eine Vaterrolle übernimmt. Der Text verdeutlicht, dass Rut das Kind für Noomi gebiert.
An der Geschichte Ruts wird deutlich, wie kompliziert Familienbeziehungen bereits in der Bibel sein können. Der Sohn Noomis hat somit zwei Mütter und einen Vater oder eine Mutter sowie einen leiblichen Vater und eine Großmutter in der Rolle eines Vaters.
Leihmütter und Samenspender
Dass ein Kind zwei Mütter hat, ist im Alten Testament nichts außergewöhnliches. Die Unfruchtbarkeit Rahels führt dazu, dass sie Jakob ihre Magd Bilha als Leihmutter gibt:
Da ist meine Magd Bilha. Geh zu ihr! Sie soll auf meine Knie gebären, dann komme auch ich durch sie zu Kindern.
Bilha ist die leibliche Mutter des Kindes, aber im familiären Kontext wird der Sohn, den sie gebar, zum Sohn Rahels:
Bilha wurde schwanger und gebar Jakob einen Sohn. Rahel sagte: Gott hat mir Recht verschafft; er hat auch meine Stimme gehört und mir einen Sohn geschenkt.
Auch dass ein Kind zwei Väter hat, ist im Alten Testament möglich. Wenn ein verheirateter Mann stirbt, ohne einen Sohn zu hinterlassen, gibt es nach dem alttestamentlichen Gesetz die Möglichkeit der Leviratsehe (lat. levir „Schwager“):
Wenn zwei Brüder zusammen wohnen und der eine von ihnen stirbt und keinen Sohn hat, soll die Frau des Verstorbenen nicht die Frau eines fremden Mannes außerhalb der Familie werden. Ihr Schwager soll sich ihrer annehmen, sie heiraten und die Schwagerehe mit ihr vollziehen. Der erste Sohn, den sie gebiert, soll den Namen des verstorbenen Bruders weiterführen. So soll dessen Name in Israel nicht erlöschen.
Die Frau kann somit mit dem Bruder ihres verstorbenen Ehemannes einen Sohn zeugen, der als Nachfahre des verstorbenen Mannes gilt. Rechtlich gilt der Sohn als Nachfahre des Verstorbenen und zugleich ist sein leiblicher Vater sein Onkel. Die bekannteste Geschichte in der dieses Gesetz zur Anwendung kommt, ist die Erzählung über Tamar. Ihr Ehemann stirbt und sein Bruder Onan8) verweigert die „Samenspende“, obwohl sie ihm sein Vater Juda befohlen hatte:
Da sagte Juda zu Onan: Geh mit der Frau deines Bruders die Schwagerehe ein und verschaff deinem Bruder Nachkommen! Onan wusste also, dass die Nachkommen nicht ihm gehören würden. Sooft er zur Frau seines Bruders ging, ließ er den Samen zur Erde fallen und verderben, um seinem Bruder Nachkommen vorzuenthalten.
Gott bestraft das Verhalten Onans, indem er ihn sterben lässt. Daraufhin verweigert Juda Tamar die Leviratsehe mit einem weiteren Sohn von ihm. Am Ende der Geschichte begeht sie deshalb Samenraub an ihrem Schwiegervater Juda und der leibliche Vater der später geborenen Zwillinge ist somit zugleich ihr rechtlicher Großvater. Für das heutige Moralverständnis eine Unvorstellbarkeit, aber Juda stellt in der Erzählung zu Recht fest:
Sie ist mir gegenüber im Recht, weil ich sie meinem Sohn Schela nicht zur Frau gegeben habe.
Die Bibel beschreibt in diesen Geschichten sehr deutlich wie komplex die Realität in Familien manchmal aussehen kann. Da verwundert es den Leser auch nicht mehr, wenn er oder sie feststellt, dass die großen Helden der Erzählungen Polygamisten waren: Abraham hatte neben Sarah noch eine zweite Frau namens Keturah (Genesis 25,1) sowie Hagar, die Magd, als Nebenfrau (Genesis 16,1-2) – und auch von König David wird berichtet, dass er mehrere Frauen hatte (vgl. zum Beispiel 2 Samuel 3,2-5).
Ideal und Wirklichkeit
In den biblischen Erzählungen über Abraham, Tamar, Rut und David wird deutlich, dass auch die biblische Wirklichkeit oft nicht dem Ideal der klassisch-katholischen Familie entspricht. Ihre Geschichten stellen keine gescheiterten oder defizitären Familien dar, sondern sie sind Teil der Lebenswirklichkeit, die sich in der Heilsgeschichte widerspiegelt. Wenn man den Stammbaum Jesu im Matthäusevangelium liest, fällt einem sofort auf, dass in einer langen Reihe von Männernamen (u.a. Abraham und David) auch vier Frauen genannt werden. Neben Rahab und Maria werden auch Tamar und Rut in der Familiengeschichte Jesu genannt. Ihre Geschichten gehören zum Anweg zur Heiligen Familie, die aus Maria, dem heiligen Geist, Josef als Adoptivvater und Jesus besteht. Josef wird auch gedacht haben: „Das Thema Familie ist kompliziert“ – als der Engel zu ihm sprach:
Josef, Sohn Davids, fürchte dich nicht, Maria als deine Frau zu dir zu nehmen; denn das Kind, das sie erwartet, ist vom Heiligen Geist.
Bildnachweis
Titelbild: „Familienbild“ von Albert Welti, entstanden 1903/1904. Das Original befindet sich in Musée Cantonal des Beaux-Arts, Lausanne. Lizenziert unter CC0 1.0.
Bild im Textverlauf: „Naomi entreating Ruth and Orpah to return to the land of Moab“ von William Blake (1757-1827). Lizenziert unter CC0 1.0.
Einzelnachweis
1. | ↑ | Weiter schreibt er über die Familie: „Sie tut mehr not als Kunst und Wissenschaft, als Verkehr, Handel, Aufschwung, Fortschritt oder wie alles heißt, oder wie es als begehrenswert erscheint. Auf der Familie ruht der Fortschritt, die Kunst, die Wissenschaft, der Staat.“ |
2. | ↑ | „Berufung und Sendung der Familie in Kirche und Welt von heute“ (instrumentum laboris), Bischofssynode, XIV. Ordentliche Generalversammlung, Vatikanstadt 2015 (Stand: 27. September 2015). Diese Definition entstammt dem Konzilsdokument Gaudium et Spes, vgl. GS 52. |
3. | ↑ | „Was halten Sie persönlich im Leben für besonders wichtig und erstrebenswert?“, Statista.de (Stand: 27. September 2015). |
4. | ↑ | „Studie: Familie ist wichtig – ‚No Future‘ war gestern“, dpa, veröffentlicht auf sueddeutsche.de, 25.09.2014 (Stand: 24. September 2015). |
5. | ↑ | Katechismus der Katholische Kirche (=KKK) 2202. |
6. | ↑ | Vgl. die Überschrift zu Punkt 104 in: „Berufung und Sendung der Familie in Kirche und Welt von heute“ (instrumentum laboris), Bischofssynode, XIV. Ordentliche Generalversammlung, Vatikanstadt 2015 (Stand: 27. September 2015). |
7. | ↑ | Vgl. Punkt 6 in: „Berufung und Sendung der Familie in Kirche und Welt von heute“ (instrumentum laboris), Bischofssynode, XIV. Ordentliche Generalversammlung, Vatikanstadt 2015 (Stand: 27. September 2015). |
8. | ↑ | Vgl. zum Missverständnis der Geschichte als Ornanieverbot und als Beispiel für aktuelle Diskussionen auch die Auseinandersetzung über die Dresdner Rede aus dem Jahr 2014 von Sibylle Lewitscharoff: „Man ist nicht intellektuell, bloß weil man schreibt“, Werner Kleine, kath 2:30 (Stand: 27. September 2015). |