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Res publica

Eine Gesellschaft mit Behinderung Biblische Betrachtungen zum Behindertengleichstellungsgesetz


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Am 17. März ging es um die barrierefreie Integration von mehreren Millionen Menschen in Deutschland. Aber der Bundestagsdebatte zur Novellierung des Behindertengleichstellungsgesetzes fehlte die notwendige Aufmerksamkeit. Viele Sitze im Bundestag blieben leer und auch das Medienecho war gering. Es scheint fast so, als sei die Lebensqualität von über 7,5 Millionen Menschen mit schwerer Behinderung nur ein Randthema des Gesellschaftsdiskurses.1) Dabei wird übersehen, dass in einer zunehmend alternden Gesellschaft die Zahl der Menschen mit Behinderung stetig zunimmt und nicht einfach in den Marginalien des Alltags verschwindet. Umso bedauerlicher ist es daher, dass der Gesetzentwurf nur das Selbstverständliche festlegen will: Alle Behörden sollen behindertengerecht ausgestattet werden. Auf die eigentliche Leerstelle hat Raul Krauthausen hingewiesen und damit den Finger direkt auf die Wunde gelegt. Im Gesetzesentwurf steht unter dem Punkt „Erfüllungsaufwand für die Wirtschaft“: „Der Wirtschaft entsteht kein zusätzlicher Erfüllungsaufwand“.2) Aber wenn der Wirtschaftssektor keine Verantwortung übernimmt oder nicht zur Verantwortung verpflichtet wird, dann kann Inklusion in das „normale“ Leben nicht gelingen. Wenn zum Beispiel ein Rollstuhlfahrer oder ein älterer Mensch mit Rollator nicht in den Supermarkt oder in ein Café gehen kann, dann ist dies eine zu beklagende Ausgrenzung, die in anderen Ländern wie den USA und England bereits abgeschafft wurde. Nicht nur der Staat sollte sich zur Gleichstellung von behinderten Menschen verpflichten!

Der Fehler

Behinderte Menschen bedürfen der Hilfe der Gesellschaft, um mit ihren Möglichkeiten so wie jeder andere Mensch den Alltag zu meistern. Es müssen Rahmenbedingungen geschaffen werden, die die Schranke der Behinderung3) fallen lassen. Im Buch Levitikus heißt es:

Du sollst einen Tauben nicht verfluchen und einem Blinden kein Hindernis in den Weg stellen; vielmehr sollst du deinen Gott fürchten. Ich bin der Herr. Levitikus 19,14

Die Furcht vor Gott, das Erfüllen seines Willens verbietet es gemäß diesem Vers einer behinderten Person das Leben zu erschweren.4) Zugleich wird eine Behinderung im Buch Levitikus aber auch als ein Gebrechen beziehungsweise ein Makel bezeichnet, der zur Ausgrenzung durch ein Gesetz führt: Es ist einem behinderten Priester verboten, das Opfer darzubringen:

Der Herr sprach zu Mose: Sag zu Aaron: Keiner deiner Nachkommen, auch in den kommenden Generationen, der ein Gebrechen hat, darf herantreten, um die Speise seines Gottes darzubringen. Denn keiner mit einem Gebrechen darf herantreten: kein Blinder oder Lahmer, kein im Gesicht oder am Körper Entstellter, kein Mann, der einen gebrochenen Fuß oder eine gebrochene Hand hat, keiner mit Buckel, Muskelschwund, Augenstar, Krätze, Flechte oder Hodenquetschung. Keiner der Nachkommen Aarons, des Priesters, darf herantreten, um die Feueropfer des Herrn darzubringen, wenn er ein Gebrechen hat. Er hat ein Gebrechen, er darf nicht herantreten, um die Speise seines Gottes darzubringen. Levitikus 21,16-21

Das hebräische Wort מום (gesprochen: mum) benennt die Kategorie, unter der die dauerhaften oder temporären Behinderungen aufgezählt werden. Es beschreibt einen sichtbaren physischen Fehler am Körper, der eine ästhetische Wertung einschließt. Über Abschalom, den Sohn Davids heißt es:

In ganz Israel gab es keinen schöneren und lobenswerteren Mann als Abschalom. Vom Scheitel bis zur Sohle war kein Makel [מום] an ihm. 2 Samuel 14,25

In dem Gesetz im Buch Levitikus ist auffallend, dass nicht-sichtbare Behinderungen wie Taub- oder Stummheit kein Ausschlusskriterium für den Priesterdienst sind. Zudem verwundert es, dass nur äußerliche Kriterien genannt werden, ohne zum Beispiel ethische Integrität als Kriterium zu fordern. Eine solche Dimension kann das hebräische Wort מום im Sprachgebrauch des Alten Testaments durchaus auch beinhalten.5) Moses verwendet das Wort im metaphorischen Sinne, um das murrende und gegen Gott rebellierende Volk Israel zu beschimpfen:

Ein falsches, verdrehtes Geschlecht fiel von ihm ab, Verkrüppelte [מום], die nicht mehr seine Söhne sind. Deuteronomium 32,5

Aber dem Buch Levitikus geht es um die äußere Makellosigkeit. Der Makellosigkeit Gottes muss die sichtbare Makellosigkeit des Priesters entsprechen.6) Ein schwieriger Zusammenhang, der lange Zeit auch im katholischen Kirchenrecht galt.7)

Das Buch Levitikus ist sowohl diskriminierend als auch integrierend. Nachdem Menschen mit Behinderung die Opferdarbietung verboten wird, heißt es:

Doch darf er von der Speise seines Gottes, von den hochheiligen und heiligen Dingen, essen, aber nicht zum Vorhang kommen und sich nicht dem Altar nähern; denn er hat ein Gebrechen und darf meine heiligen Gegenstände nicht entweihen; denn ich bin der Herr, der sie geheiligt hat. Levitikus 21,22-23

Ein behinderter Priester darf seinen Dienst nicht erfüllen. Aber er behält seine Privilegien: Der Anteil der Priester an den Opfergaben kommt auch ihm zu. Er gilt als unrein und darf sich dem heiligen Bereich nicht nähern – er wird somit auch räumlich ausgegrenzt, aber er behält seinen Status als Priester.

Makel mit Zukunft

Sind Menschen mit Behinderung vielleicht ein Defekt der Schöpfung, den Gott versucht von sich fernzuhalten? Im Buch Exodus wird in direkter Gottesrede verdeutlicht, dass Gott als Schöpfer auch verantwortlich für die den Menschen einschränkenden Behinderungen ist. Mose, den Gott zur Befreiung seines Volkes aus Ägypten beauftragt, verweist auf die Schwerfälligkeit seiner Zunge und seines Mundes. Er sieht sich nicht im Stande, den Auftrag Gottes zu erfüllen.

Der Herr entgegnete ihm: Wer hat dem Menschen den Mund gegeben, und wer macht taub oder stumm, sehend oder blind? Doch wohl ich, der Herr! Exodus 4,11

Die Aussage ist klar: Behinderungen gehören zur Schöpfung. Das heißt aber nicht, dass sie gar ein Idealzustand wären. Im Buch Jesaja wird verkündet, dass das Gericht Gottes die Einschränkung der Menschen durch ihre Behinderungen aufheben wird:

Dann werden die Augen der Blinden geöffnet, auch die Ohren der Tauben sind wieder offen. Dann springt der Lahme wie ein Hirsch, die Zunge des Stummen jauchzt auf. Jesaja 35,5-6

Betrachtet man beide Textstellen in Verbindung miteinander, so ist Gott Ursache für Behinderungen und zugleich die zukünftige Heilung. Theologisch gesehen eine schwer auszuhaltende Spannung, die keine leichte logische Erklärung beinhaltet. Gott soll Ursache und Hoffnung zugleich sein. Zwischen diesen Polen ist der Ort des Menschen. Für einen nicht-behinderten Menschen stellt sich die Frage, wie er dem Willen Gottes entsprechend handeln soll. Ist eine Behinderung vielleicht gar eine Gottesstrafe? – siehe Johannes 9,1-6.

Ursache und Zukunft

Im Buch Ijob werden behinderte Menschen auf eine Stufe gestellt mit den sogenannten personae miserae. Sie bedürfen Hilfe – ebenso wie Witwen, Waisen und Arme. Ihnen mangelt etwas im Leben und der Gerechte versucht diesen Mangel zu beheben. Ijob als exemplarischer Gerechter sagt über sein Leben:

Denn ich rettete den Armen, der schrie, die Waise, die ohne Hilfe war. Der Segen des Verlorenen kam über mich, und jubeln ließ ich der Witwe Herz. Ich bekleidete mich mit Gerechtigkeit, wie Mantel und Kopfbund umhüllte mich mein Recht. Auge war ich für den Blinden, dem Lahmen wurde ich zum Fuß. Vater war ich für die Armen, des Unbekannten Rechtsstreit prüfte ich. Ich zerschmetterte des Bösen Kiefer, entriß die Beute seinen Zähnen. Ijob 29,12-17

Ijobs Hilfe ist keine Entmündigung, sondern eine Unterstützung. Für den Blinden zum Auge und für den Lahmen zum Fuß zu werden, bedeutet mit ihm das Leben zu meistern beziehungsweise sich in seinen Dienst zu stellen.

Freiwillig oder als Pflicht

Auch im Alten Testament führt eine Behinderung zur Diskriminierung, wie sich im Priestergesetz im Buch Levitikus zeigt. Und jemanden als „behindert“ zu bezeichnen, galt damals schon als Beschimpfung. Aber selbst der Priester, der aufgrund seiner Behinderung den Opferdienst nicht versehen darf, bleibt weiterhin ein Priester und behält seinen Status und seine Privilegien. Im Buch Jesaja wird verkündet, dass der Blinde durch Gott wieder sehen, der Taube durch ihn wieder hören, der Stumme wieder jauchzen und der Lahme sich wieder frei bewegen wird. Solange dies nicht geschieht, muss aus der Mitmenschlichkeit dem Blinden ein sehendes Auge, dem Stummen eine redende Zunge, dem Tauben ein hörendes Ohr und dem Gelähmten die stützende Hand entstehen. Es ist eine offene Frage, ob dies durch ein Gesetz erzwungen werden muss oder durch Freiwilligkeit geleistet werden kann. So oder so ist von allen Seiten ein „zusätzlicher Erfüllungsaufwand“ notwendig.


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Bildnachweis

Titelbild: „Barrierefrei“ von katermikesch. Lizenziert unter CC0 1.0.

Einzelnachweis   [ + ]

1. 7,5 Millionen schwerbehinderte Menschen leben in Deutschland“, Statistisches Bundesamt, Pressemitteilung Nr. 266 vom 29.07.2014 [Stand: 18. März 2016].
2. Für ein gutes Gleichstellungsgesetz für behinderte Menschen!“, Raul Krauthausen, 29.02.2016 [Stand: 18. März 2016].
3. Im Alten Testament werden insbesondere Blind-, Taub-, Stumm- und Lahmheit als Behinderungen angesehen. In Deuteronomium 28,28 wird jedoch auch eine geistige Behinderung mit der körperlichen gleichgesetzt. Die dauerhafte Einschränkung von Funktionen der menschlichen Psyche als Behinderungen werden im Alten Testament jedoch weniger thematisiert.
4. Vgl. auch Deuteronomium 27,18.
5. Siehe zum Beispiel Ijob 31,7.
6. Der Priester ebenso wie das Opfertier sollen „perfekt“ sein: “Wenn jemand ein Heilsopfer für den Herrn darbringt, sei es, um ein Gelübde zu erfüllen, oder sei es als freiwillige Gabe, so soll es ein fehlerloses Rind oder Schaf oder eine fehlerlose Ziege sein, um Annahme zu finden; es darf kein Gebrechen haben. Ihr dürft dem Herrn kein Tier opfern, das blind, verstümmelt, krätzig, aussätzig, eitrig ist oder zerbrochene Gliedmaßen hat. Kein Stück von solchen Tieren dürft ihr auf den Altar als ein Feueropfer für den Herrn legen.” Levitikus 22,21-22
7. Bis 1983 konnte ein sichtbar behinderter Mann nicht zum Priester geweiht werden (siehe Codex Iuris Canonici 1917, Canon 984 §2). Dies änderte sich erst durch die Neufassung des katholischen Kirchenrechts (siehe Codex Iuris Canonici 1983, Canon 1041).
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