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Armut ist relativ – die meisten als arm geltenden Menschen in Deutschland sind reicher als der Großteil der Menschheit. Dennoch ist die steigende Armutsgefährdungsquote alarmierend. Diese Quote gibt an, wieviel Prozent der Menschen über weniger als 60% des mittleren Einkommens verfügen. In Deutschland sind nach Auskunft des Statistischen Bundesamt 15,7% der Menschen von monetärer Armut bedroht.1) Dies bedeutet nicht nur, dass viele einzelne Lebensschicksale von Armut bedroht sind, sondern diese Zahl verweist auch auf die ungleiche Verteilung von Wohlstand. Daraus ergibt sich der Ruf nach einer gerechteren Gesellschaftsordnung.
Armut
Im Alten Testament wird nicht definiert, was Armut im wirtschaftlichen Sinn bedeutet, sondern sie wird als Ungleichgewicht gegenüber dem Reichtum beschrieben, bzw. Armut bedeutet in Abhängigkeit zu geraten. Ein wichtiger Faktor der zur Verarmung führte, war in damaliger Zeit das Kreditwesen. So kann im Buch der Sprichwörter der Gegensatz von reich und arm mit dem vom Gläubiger und Schuldner identifiziert werden:
Der Reiche hat die Armen in seiner Gewalt, der Schuldner ist seines Gläubigers Knecht.
Der Arme wird in dieser Metapher als Knecht des Reichen dargestellt. Der Reiche, dessen Reichtum ihn im Überfluss leben lässt, nimmt selbst von einem Armen noch Zinsen für einen Kredit und lässt ihn so zu seinem Schuldsklaven werden. Das alttestamentliche Recht sah die Schuldsklaverei als Möglichkeit vor:
Wenn dein Bruder, ein Hebräer – oder auch eine Hebräerin -, sich dir verkauft, soll er dir sechs Jahre als Sklave dienen. Im siebten Jahr sollst du ihn als freien Mann entlassen.
Zugleich war es strikt verboten, von Armen Zinsen zu nehmen – siehe dazu auch „Vom Armen nimmt man keine Zinsen“:
Du darfst von deinem Bruder keine Zinsen nehmen: weder Zinsen für Geld noch Zinsen für Getreide noch Zinsen für sonst etwas, wofür man Zinsen nimmt.
Die Option für die Armen
Die Armen sind im alttestamentlichen Recht besonders geschützt (siehe Exodus 23,6) und in den prophetischen Mahnreden wird das Strafgericht über Israel aufgrund der Unterdrückung der Armen angekündigt (Jeremia 5,26-28). Aus der Sicht des Sprichwörterbuchs definiert das Verhalten eines Menschen gegenüber einem Armen gar die Gottesbeziehung:
Wer den Geringen bedrückt, schmäht dessen Schöpfer, ihn ehrt, wer Erbarmen hat mit dem Bedürftigen.
Armut soll die Würde des Geschöpfes Gottes nicht mindern, sondern auf dem Fundament der Schöpfungstheologie soll sozial-ethisches Verhalten basieren. Armut wird nicht hingenommen, sondern sie soll mit „Erbarmen“ behandelt werden – denn Gott steht auf der Seite der Armen und ist ihr Beschützer:
Mit Leib und Seele will ich sagen: Herr, wer ist wie du? Du entreißt den Schwachen dem, der stärker ist, den Schwachen und Armen dem, der ihn ausraubt.
Aus dieser Option für die Armen, für die Gott steht und die von den Menschen eingefordert wird, entwachsen die Sozialgesetze der Torah, die der Eindämmung von Armut dienen sollen. Die Schwäche der Armen darf nicht ausgenutzt werden (Exodus 22,20-21) und Reichtum wird umverteilt. Zum Einen mussten die Israeliten gemäß dem Buch Deuteronomium als allgemeine Abgabe den sogenannten Zehnten zahlen. Der Zehnte ist eine Steuer, die gemäß Deuteronomium 14,22-23 von allen land- und viehwirtschaftlichen Erträgen jährlich zum Tempel gebracht werden musste. Durch diese Abgabe wurde der Tempeldienst sowie das Bildungswesen finanziert und zugleich die Ausländer, Witwen und Waisen, die sogenannten personae miserae des Volks versorgt (Deuteronomium 26,12). Zum Zweiten kommt den Armen das sogenannte „Recht der Armen“ (Exodus 23,6) zu, das in Psalm 72 zum Regierungsprogramm für den König erklärt wird. Die Kernaufgaben des Königs werden in Vers 4 klar benannt:
Er wird Recht verschaffen den Gebeugten im Volk, Hilfe bringen den Kindern der Armen, er wird die Unterdrücker zermalmen.
Es geht um Gerechtigkeit, Hilfe für die Ärmsten der Armen und die Schaffung eines sozialen Gleichgewichts ohne unterdrückerische Strukturen (siehe dazu ausführlich „Ein biblisches Regierungsprogramm gegen Armut“). Der enge Zusammenhang zwischen der Bekämpfung der Armut und Gerechtigkeit zeigt sich im hebräischen Wort צדקה (gesprochen: Zdaka), das bis heute sowohl Almosen bezeichnet und zugleich „Gerechtigkeit“ bedeutet. Gerechtigkeit ist im Alten Testament das Prinzip der Weltordnung, die unter anderem einen sozialen Ausgleich schafft. Ohne Gerechtigkeit wankt die Welt in ihren Grundfesten. In Psalm 82,5 verurteilt Gott die anderen Götter, weil sie sich nicht um das Recht der Armen gekümmert haben.
Wie lange noch wollt ihr ungerecht richten und die Frevler begünstigen? Verschafft Recht den Unterdrückten und Waisen, verhelft den Gebeugten und Bedürftigen zum Recht! Befreit die Geringen und Armen, entreißt sie der Hand der Frevler!
Aber die Einsicht in diese notwendige Gerechtigkeit fehlt den anderen Göttern und der Beter muss feststellen:
Sie [die anderen Götter] aber haben weder Einsicht noch Verstand, sie tappen dahin im Finstern. Alle Grundfesten der Erde wanken.
In einer gerechten Gesellschaftsordnung darf die Armut nicht zunehmen, sondern sie muss bekämpft werden, damit die Gesellschaft auf einem stabilen Fundament steht.
Keine Utopie
Auch im Alten Testament gehören Arm-sein und Reich-sein zum Gesellschaftsalltag und im Buch Jesus Sirach wird Armut und Reichtum als Gegebenheit auf Gott selbst zurückgeführt:
Gutes und Böses, Leben und Tod, Armut und Reichtum kommen vom Herrn.
Aber entgegen einer solchen Sicht können die mahnenden Stimmen des Alten Testament hochgehalten werden. Auch wenn sich Armut vielleicht nie völlig beseitigen lässt, so muss man sie doch nicht hinnehmen:
Die Armen werden niemals ganz aus deinem Land verschwinden. Darum mache ich dir zur Pflicht: Du sollst deinem notleidenden und armen Bruder, der in deinem Land lebt, deine Hand öffnen.
Bildnachweis
Titelbild: „Recession in Dublin“, fotografiert von Peter Werkman. Lizenziert unter CC BY-SA 2.0.
Einzelnachweis
1. | ↑ | Vgl. „Armutsrisiko steigt auf höchsten Stand seit Wiedervereinigung“, Florian Diekmann und Christina Elmer, SPIEGEL online, 16.09.2016 [Stand: 17. September 2016]. |