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Die Verheißung eines Landes, in dem Milch und Honig fließen, ist für Milchbauern wohl eher ein marktwirtschaftlicher Albtraum als ein wünschenswertes Ziel. Aber mit dem Preisverfall der Milch scheint Deutschland ein solch paradiesisches Land zu werden. Für einen Liter Milch muss der Konsument nur noch 46 Cent bezahlen. Die Kehrseite dieses Überflusses ist die Unrentabilität der Milcherzeugung. Von Molkereien werden zum Teil nur noch 18 Cent pro Liter an die Milchbauern gezahlt, die jedoch einen Verkaufspreis von 25 Cent erhalten müssten, um keine Verluste zu machen.1) Es herrscht ein Überangebot: Im Jahr 2014 gab es 4,3 Millionen Kühe in Deutschland und jedes dieser Tiere schaffte im Durschnitt 7620 Liter Milch im Jahr.2) Doch auf dem Weltmarkt findet die Milch aus den deutschen Ställen nicht mehr genügend Abnehmer: Der Markt in China ist übersättigt, durch den sinkenden Ölpreis importieren die Golfstaaten weniger Milch und Russland hat wegen der Krim-Krise ein Importverbot von Molkereiprodukten verhängt.3) So fließt Deutschland über vor Milch, ganz so wie es die kirchliche Tradition und auch der Koran (Sure 47,15) es sich für das Paradies vorstellen. Dieser paradiesische Zustand ist jedoch im gegenwärtigen Deutschland eine marktwirtschaftliche Krise.
Der Wohlstand
Ein Überfluss an einem Grundnahrungsmittel ist eigentlich ein Segen. Am Anfang des Buches Exodus verheißt Gott seinem Volk, dass in Ägypten versklavt ist, nicht nur Freiheit, sondern den Besitz eines fruchtbaren Landes:
Ich bin herabgestiegen, um sie [das Volk Israel] der Hand der Ägypter zu entreißen und aus jenem Land hinaufzuführen in ein schönes, weites Land, in ein Land, in dem Milch und Honig fließen, …
In der Erzählung des Sinuhe, eines der bedeutendsten Werke ägyptischer Literatur, das wahrscheinlich ca. 1800 v. Chr. geschrieben wurde, findet sich folgende Beschreibung Kanaans, des verheißenen Landes: „Es war ein schönes Land … Feigenbäume gab es darin und Weinstöcke, es hatte mehr Wein als Wasser. Groß waren seine Honigmengen, zahlreich seine Ölbäume, und allerlei Obst war auf seinen Bäumen. Gerste gab es dort, und Emmer4), und unbegrenzt war die Zahl von allerlei Vieh.“5) Das Land, in dem gemäß Gottes Wort „Milch und Honig fließen“, ist ein fruchtbares Land – das aber auch nicht von Hungersnöten verschont geblieben ist. Im Buch Genesis flohen Abraham und auch Isaak wegen Hungersnöten aus Kanaan, obwohl es ihnen und ihren Nachfahren als Besitz verheißen war (vgl. Genesis 12,10 und Genesis 26,1). Es ist kein Paradies und es gibt im Diesseits kein Land, in dem Milch und Honig fließen. Die Beschreibung des Landes ist die Zusage des guten Lebens im Land. Milch steht nach rabbinischer Auslegung für die Fettheit bzw. Fülle und die Süße des verheißenen Landes.6) Reich an Proteinen und essentiell für die Ernährung des Menschen steht Milch pars pro toto sozusagen als kraft- und saftspendendes Element für die Versorgung mit Grundnahrungsmitteln.7) Aus biblischer Perspektive bedeutet ein Überfluss an Milch, dass es für das Volk eine große Zahl gesunder und fruchtbarer Kühe und Ziegen gibt, die auf großen von Regen getränkten Weideflächen genügend zu fressen finden. Ein solcher Zustand, ein fruchtbares Land und eine fruchtbare Herde sind ein Segen Gottes (vgl. auch Joel 4,18). Es ist dies die Verheißung eines guten Lebens in Wohlstand, das in der Beziehung Gottes zu seinem Volk wurzelt.
Wohlstand verpflichtet
Das Land selbst mag zwar fruchtbar sein, aber der von ihm ausgehende Segen ist von Gott gegeben und verpflichtet den Empfänger. Kurz bevor Israel nach der 40jährigen Wanderung durch die Wüste in das Land hineinziehen darf, indem Milch und Honig fließen, mahnt Mose das Volk:
Und wenn der Herr, dein Gott, dich in das Land führt, von dem du weißt: er hat deinen Vätern Abraham, Isaak und Jakob geschworen, es dir zu geben – große und schöne Städte, die du nicht gebaut hast, mit Gütern gefüllte Häuser, die du nicht gefüllt hast, in den Felsen gehauene Zisternen, die du nicht gehauen hast, Weinberge und Ölbäume, die du nicht gepflanzt hast -, wenn du dann ißt und satt wirst: nimm dich in acht, daß du nicht den Herrn vergißt, der dich aus Ägypten, dem Sklavenhaus, geführt hat.
Die Landgabe wird als eine Liebeshandlung Gottes beschrieben, die eine Antwort des Volkes erwartet. Die Dankbarkeit soll sich in der Einhaltung des göttlichen Willens zeigen (vgl. Deuteronomium 6,17-18), unter anderem in der Darbringung der ersten Früchte als Opfer:
Wenn du in das Land, das der Herr, dein Gott, dir als Erbbesitz gibt, hineinziehst, es in Besitz nimmst und darin wohnst, dann sollst du von den ersten Erträgen aller Feldfrüchte, die du in dem Land, das der Herr, dein Gott, dir gibt, eingebracht hast, etwas nehmen und in einen Korb legen. Dann sollst du zu der Stätte ziehen, die der Herr, dein Gott, auswählt, indem er dort seinen Namen wohnen läßt.
Aus dem Wohlstand ergibt sich eine Verpflichtung gegenüber Gott. Zugleich betonen die Propheten, dass sich aus Wohlstand auch eine Verpflichtung gegenüber dem Nächsten ergibt.
Der Wohlstand des Einen darf nicht auf der Ausbeutung des Anderen beruhen:
Weh dem, der seinen Palast mit Ungerechtigkeit baut, seine Gemächer mit Unrecht, der seinen Nächsten ohne Entgelt arbeiten läßt und ihm seinen Lohn nicht gibt.
Die Wohlstandskrise
Der Überfluss an Milch zeigt den Wohlstand, in dem die Gesellschaft lebt. Der billige Milchpreis ist ein Segen für die Menschen. Die Möglichkeit für einen geringen Preis ein Grundnahrungsmittel kaufen zu können, entlastet vor allem die enggeschnürten Geldbeutel. Aber dieser Segen ist ein Fluch für die Milchbauern, die von ihrer eigenen Arbeit nicht mehr leben können. Paradies und Gerechtigkeit sind in diesem Falle anscheinend unvereinbar. Die Mechanismen des freien Marktes werden dazu führen, dass es durch den Bankrott einiger Betrieben zu einem steigenden Preis kommen wird. In diesem Kontext wird über staatliche finanzielle Anreize für Milchbauern diskutiert, damit sie weniger Milch produzieren. Ein Lobbyist der Milchbauern fordert gar, dass die Regierung 30 Cent für jeden nicht produzierten Liter Milch an die Milchbauern zahlen soll.8) Die Milcherzeugungskapazitäten werden schrumpfen, damit ein gewinnbringender Preis von den Milchbauern erreicht werden kann. Da dies jedoch nicht von heute auf morgen geschehen wird, muss eine Lösung für den Übergang gefunden werden. Denkbar ist ein Zeichen der Dankbarkeit für den Wohlstand: Anstatt für nicht-produzierte Milch zu zahlen, könnten die Regierung und die Milchbauern außerhalb des Marktes, die Milch als Erstlingsfrucht für einen symbolischen Preis „opfern“ – nicht in einem Tempel, sondern als Unterstützung für Hilfsbedürftige. Als Denkanstoß am Markt vorbei könnte hier das Buch Deuteronomium dienen, in dem sich das landwirtschaftliche Verbot der Nachlese findet. Zur Ernte im Weinberg heißt es zum Beispiel:
Wenn du in deinem Weinberg die Trauben geerntet hast, sollst du keine Nachlese halten. Sie soll den Fremden, Waisen und Witwen gehören.
Denkbar wäre folgender Vorschlag: Die Milchmenge für den Markt könnte begrenzt werden, um so einen gerechten Preis zu erzielen. Und zugleich könnte die Überproduktion, solange sie besteht, am Markt vorbei als gemeinsamer Fürsorgeakt der Regierung und der Milchbauern an Hilfsbedürftige verteilt werden. So könnte zumindest für eine kurze Zeit ein gerechter paradiesischer Zustand erreicht werden.
Bildnachweis
Titelbild: „Bauernprotest in Ebersbach für einen fairen Milchpreis“, fotografiert von Franzfoto. Lizenziert unter CC BY-SA 3.0.
Bild im Textverlauf: „ Bauern demonstrieren gegen zu geringen Milchpreis “, fotografiert von Jjjj11. Lizenziert unter CC BY-SA 3.0.
Einzelnachweis
1. | ↑ | Vgl. „Deutschland stürzt in die Milchkrise“, Jan Grossarth, faz.net, 17.05.2016 [Stand: 21. Mai 2016]. |
2. | ↑ | Vgl. „Darum wird unsere Milch für ein paar Cent verramscht“, Michael Gassmann, welt.de, 20.05.2016 [Stand 21.05.2016]. |
3. | ↑ | Vgl. „Darum wird unsere Milch für ein paar Cent verramscht“, Michael Gassmann, welt.de, 20.05.2016 [Stand 21.05.2016]. |
4. | ↑ | Emmer, auch Zweikorn genannt, ist eine Pflanzenart aus der Gattung Weizen. |
5. | ↑ | Elke Blumenthal, Die Erzählung des Sinuhe, in: O. Kaiser (Hg.), Texte aus der Umwelt des Alten Testament III/5, S. 884-911, hier S. 894. |
6. | ↑ | Vgl. David Simsonsen, Milch und Honig, in: ZDPV 33 (1910), S. 44-46. |
7. | ↑ | Schon der biblische Weisheitslehrer Jesus Sirach zählt Milch zu den Grundbedürfnissen des Menschen: Das Nötigste im Leben des Menschen sind: Wasser, Feuer, Eisen und Salz, kräftiger Weizen, Milch und Honig, Blut der Trauben, Öl und Kleidung. Jesus Sirach 39,26 |
8. | ↑ | Vgl. „Darum wird unsere Milch für ein paar Cent verramscht“, Michael Gassmann, welt.de, 20.05.2016 [Stand 21.05.2016]. |
Viele Menschen geniessen nur den Wohlstand und vergessen dabei dass es so auf Dauer nicht bleiben wird. Ehrfurcht – Dankbarkeit und Zufriedenheit vor der Schöpfung wieder mehr
anzupreisen ist ein Wunsch von mir für unsere Menschheit.