„Gibt es noch Hoffnung?“ – es ist kein gutes Zeichen, wenn diese Frage nach einer Diagnose gestellt wird. Im Falle der Katholischen Kirche in Deutschland lautet die Diagnose: Sie kann und will anscheinend den geschehenen Missbrauch nicht gründlich und öffentlich aufarbeiten – und auch hier muss gefragt werden. Gibt es nach über zehn Jahren noch Hoffnung?
Einst benutze Gott erst die Assyrer und dann die Babylonier als sein Werkzeug um sein eigenes Volk zu züchtigen. Er rief zum Krieg gegen die Gottesstadt Jerusalem auf, in der doch sein Tempel stand:
Denn so spricht der HERR der Heerscharen: Fällt ihre Bäume und werft einen Wall auf gegen Jerusalem! Das ist die Stadt, die heimgesucht werden muss. Alles in ihr ist Unterdrückung.
Der Prophet Jeremia beklagt in dem Kapitel, in dem dieser Aufruf Gottes zum Angriff gegen die Gottesstadt erklingt, anhaltendes Unrecht, Unfähigkeit auf Gottes Wort zu hören, Gewinnsucht, Illusion, Täuschung und Verlust des Schamgefühls. So beschreibt er eine gescheiterte Gesellschaft – und dies ist gemäß den alten Handschriften die Mitte der Hebräischen Bibel, wenn man die Buchstaben zählt. Die theologische Mitte ist der Gott, der das Strafgericht verhängt und dessen Barmherzigkeit nicht blind ist. Barmherzigkeit ohne Gerechtigkeit ist nur eine Fantasie eines Schuldigen. Die Katholische Kirche in Deutschland kann nicht auf Barmherzigkeit hoffen, ohne dass Gerechtigkeit entsteht. Wird man ihr je wieder glauben können, wenn die Staatsanwaltschaften nicht die kirchlichen Archive durchforstet haben werden? Es liegt doch schon lange mehr als ein leiser Anfangsverdacht vor. Muss die Kirche vielleicht erst ins gesellschaftliche Exil, damit verstanden wird, dass man sich hinter Gutachten weder vor den Anklägern noch vor Gott verstecken kann?
Hoffnung für die Täter?
Die kirchliche Lehre geht davon aus, dass selbst im Angesicht Gottes noch Hoffnung für die Missbrauchstäter besteht. So antwortete der Dresdner Bischof Heinrich Timmerevers auf die Frage, ob der verstorben Priester Herbert Jungnitsch, der mehrere Kinder schwer sexuell missbraucht hat, auf Vergebung hoffen darf: „Nun, man kann nur hoffen, dass Pfarrer Jungnitsch für sich selbst und seine schrecklichen Taten vor Gott um Vergebung gebeten hat und ihm diese Gnade geschenkt wurde. Das müssen wir aus unserem christlichen Menschenbild heraus aushalten: Auch der größte Sünder bleibt Geschöpf Gottes und ist mit einer unverlierbaren Würde ausgestattet, selbst dann noch, wenn er die Würde anderer mit Füßen getreten hat.“1)
Ja, gemäß dem Ersten Petrusbrief ist selbst die Generation der Menschen, die Gottes Zorn zur Sintflut getrieben haben, scheinbar nicht endgültig verloren. Im Buch Genesis heißt es noch:
Der HERR sah, dass auf der Erde die Bosheit des Menschen zunahm und dass alles Sinnen und Trachten seines Herzens immer nur böse war. Da reute es den HERRN, auf der Erde den Menschen gemacht zu haben, und es tat seinem Herzen weh. Der HERR sagte: Ich will den Menschen, den ich erschaffen habe, vom Erdboden vertilgen, mit ihm auch das Vieh, die Kriechtiere und die Vögel des Himmels, denn es reut mich, sie gemacht zu haben.
In der Erzählung der Sintflut gibt es in dieser Welt keine Vergebung, sondern nur das todbringende Strafgericht. Doch das Leiden, Sterben und Auferstehen Jesu bietet selbst für diese als abgrundtief bösen Menschen vielleicht eine Hoffnung – jedoch keinen Heilsautomatismus. Gemäß dem ersten Petrusbrief steigt der Auferstandene hinab in das Todesreich, wo die Toten der Sintflut als Geister harren. Doch er kommt nicht, um sie einfach zu retten, sondern um ihnen zu „predigen“:
In ihm [=dem lebendigmachenden Geist] ist er [=Jesus] auch zu den Geistern gegangen, die im Gefängnis waren, und hat ihnen gepredigt. Diese waren einst ungehorsam, als Gott in den Tagen Noachs geduldig wartete, während die Arche gebaut wurde; in ihr wurden nur wenige, nämlich acht Menschen, durch das Wasser gerettet.
Der Auferstandene verkündigt selbst diesen aussichtslosen Fällen die frohe Botschaft, von dem ins Leben rufenden Gott. Doch ihre Reaktion wird nicht erzählt. Gibt es für sie noch Hoffnung, wenn sie nun – so spät (!), zu spät (?) – noch umkehren?
Hoffnung für die Opfer?
Dass Gott Sünden vergeben kann, ist ein fester Bestandteil des christlichen Glaubens. Doch man darf nicht den Fehler begehen, Sünde und Schuld gleichzusetzen. Lässt sich eine zwischenmenschliche Schuld allein durch Gott aus der Welt schaffen? Anders gefragt: Kann Gott anstelle der Opfer den Tätern vergeben? Wo bliebe die Gerechtigkeit? Hoffnung findet sich in der Offenbarung des Johannes.
Den christlichen Märtyrern, die im Diesseits um ihren Glauben willen gelitten haben, wird Anteil der Herrschaft Gottes verheißen:
Dann sah ich Throne; und denen, die darauf Platz nahmen, wurde das Gericht übertragen. Ich sah die Seelen aller, die enthauptet worden waren um des Zeugnisses für Jesus und des Wortes Gottes willen.
Auf den ersten Blick lässt diese Vision nicht erkennen, wer auf den Thronen platzt nimmt – vermutlich handelt es sich jedoch um die im Folgenden Genannten, die im Diesseits zu Ehren Gottes gelitten haben und gestorben sind. Gemäß dem griechischen Text wird entweder „das Urteil zu ihren Gunsten gesprochen“ oder „ihnen wurde die Vollmacht gegeben, zu richten“. Da jedoch in der Offenbarung des Johannes‘ das Richteramt allein Gott dem Vater vorbehalten ist, legt sich die erste Deutung nahe. Das hier verwendete Wort κρίμα (gesprochen: krima) lässt sich im Kontext des Buches zudem am besten mit „Gerichtsbeschluss“ übersetzen. Ihnen wird der Gerichtsbeschluss übergeben, der ihnen Genugtuung verschaffen wird. Sie werden nach dem Gericht, nicht den zweiten endgültigen Tod erleiden. Wird Gott im Himmel auch Throne aufstellen für diejenigen, die nicht zur Ehre seiner Kirche, sondern eben durch die Hand seiner sich selbst so nennenden „Diener“ gelitten haben? Und wenn ja, wem wird Gott wohl Recht zusprechen, dem Opfer oder dem Täter? Wer wird dem zweiten endgültigen Tod verfallen?
Bildnachweis
Titelbild: “Question Mark Graffiti” von Bilal Kamoon. Lizenz: CC BY 2.0.
Einzelnachweis
1. | ↑ | “Timmerevers zu Missbrauchsfall: Bei Aufarbeitung sind Fehler passiert“, katholisch.de |