Es sind chaotische Zeiten. In der Gesellschaft, aber auch in der Kirche scheint gegenwärtig alles aus den Fugen zu geraten. Das Gewohnte ist so gewöhnlich geworden, dass der Mensch sich weder hier noch dort in der Lage sieht, die Herausforderungen zu bewältigen. Unzweifelhaft erleben wir gerade eine Zeitenwende. Sehnte man sich etwa am Anfang der Corona-Pandemie im Frühjahr 2020 noch nach einer raschen Rückkehr zu jenem Zustand, den man damals als „Normalität“ bezeichnete, ist spätestens seit dem russischen Überfall auf die Ukraine genau das in weite Ferne gerückt. Die frühere „Normalität“ ist Geschichte. Nichts ist mehr normal in der Gegenwart – auch in einer Kirche, in der das Volk Gottes sich endlich ermächtigt, die Stimme zu erheben. Wo früher die Worte jener Männer, die sich als Hirten wähnten, hingenommen wurden, werden nun Fragen gestellt. Noch ist unklar, ob die vielfältigen Initiativen und Aufbrüche wirklich zu neuen Zielen führen. Noch ist die rechtliche Struktur der Kirche so, dass ohne das Placet Roms nichts geschieht. Schon seit längerem ist klar, dass die alte Regel des „Roma locuta, causa finita est“ nicht mehr gilt: Rom mag sprechen, die strittigen Angelegenheiten sind damit noch lange nicht erledigt. Das Volk ist eben keine Herde mehr, die blind-blökend folgt und zufrieden ist, solange nur die pastoralen Weidegründe sattes und wohliges Gras versprechen. Das Volk ist mündig geworden. Es blökt nicht mehr, es fordert. Das ist Pfingsten, wenn aus Schülern und Jüngerinnen mündige Zeuginnen und Zeugen werden1). Sooft der Stifterwille bemüht wird, wo die Schrift keinen Stifterwillen kennt – hier gibt es ihn und die Zeit scheint erfüllt in der der Auftrag des Auferstandenen Wirklichkeit wird:
Ihr werdet Kraft empfangen, wenn der Heilige Geist auf euch herabkommen wird; und ihr werdet meine Zeugen sein in Jerusalem und in ganz Judäa und Samarien und bis an die Grenzen der Erde.
Ambivalenzen
Die Kraft des Heiligen Geistes – sie wird immer gerne beschworen, wenn es schwierig wird. Sie muss herhalten als autoritäre Begründung lehramtlicher Entscheidungen, aus der heraus Argumente überflüssig sind. Sie muss es dulden, selbst von jenen immer wieder in Anspruch genommen zu werden, die eine besondere Weihecharisma zu haben glauben, durch das der göttliche Geist beständig durch sie wirkt. Kritik ist dann nicht nur nutzlos, sondern wird gemäß der neunten Seligpreisung sogar als Ausweis der eigenen Erwählung gedeutet, heißt es doch im Anschluss an die berühmten ersten acht Seligpreisungen:
Selig seid ihr, wenn man euch schmäht und verfolgt und alles Böse über euch redet um meinetwillen. Freut euch und jubelt: Denn euer Lohn wird groß sein im Himmel. So wurden nämlich schon vor euch die Propheten verfolgt.
Wer kritisiert wird, obschon er sich im exklusiven Besitz des göttlichen Geistes wähnt, kann also nur ein Prophet sein – das steht doch da!
Gerne übersehen wird in diesem Zusammenhang freilich, dass man Gott nicht auf die Probe stellen sollte (vgl. Matthäus 4,7); vergessen wird auch, dass
nicht jeder, der (…) sagt: Herr! Herr!, wird in das Himmelreich kommen, sondern wer den Willen meines Vaters im Himmel tut.
Denn:
Viele werden an jenem Tag zu mir sagen: Herr, Herr, sind wir nicht in deinem Namen als Propheten aufgetreten und haben wir nicht in deinem Namen Dämonen ausgetrieben und haben wir nicht in deinem Namen viele Machttaten gewirkt? Dann werde ich ihnen antworten: Ich kenne euch nicht. Weg von mir, ihr Gesetzlosen!
Es genügt eben nicht, nur vom Heiligen Geist zu reden, sondern dem göttlichen Geist Gestalt zu geben. Tat geht vor Wort! Wer nur redet, ohne zu handeln, offenbart sich als Falschprophet – Weihe hin, Weihe her. Schlimmer aber noch, wer redet, und anders handelt, als er redet – er straft den Geist nicht nur Lügen. Einen solchen trifft auch das paulinische Verdikt:
Wisst ihr nicht, dass ihr Gottes Tempel seid und der Geist Gottes in euch wohnt? Wer den Tempel Gottes zerstört, den wird Gott zerstören. Denn Gottes Tempel ist heilig und der seid ihr.
Essigsaure Makulaturen
Besonders dreist aber sind jene geistlichen Kaschierungen, die viele (pastorale) Zukunftsprozesse begleiten. Sie sind meist aus einer banalen Not geboren: Gott gefällt es offenbar, weniger Priester als in früheren Zeiten zu berufen. Das führt in der Pastoral zu personaler Not. Weil die reine Lehre aber vorsieht, dass nur das geistliche Amt den Geist, der an Pfingsten noch unzähmbar brauste und stürmte, ordnungsgemäß verwalten kann, werden die Reihen immer leerer. Die Not ist es, die die pastoralen Prozesse gebiert. Die faktische Not ist es, die zum Handeln zwingt. Diesen sauren Wein aber schenkt niemand ein. Stattdessen versucht man die essigsaure Essenz zu übertünchen, indem man von geistlichen Prozessen und Wegen spricht, die es nun zu gehen gelte. Dabei schmeckt jede und jeder Aufrechte, dass hier saurer Fusel zu Geisthaltigem verklärt werden soll. Biblisch ist das die Situation kurz vor dem Tode Jesu:
Ein Gefäß voll Essig stand da. Sie steckten einen Schwamm voll Essig auf einen Ysopzweig und hielten ihn an seinen Mund. Als Jesus von dem Essig genommen hatte, sprach er: Es ist vollbracht! Und er neigte das Haupt und übergab den Geist.
Die geistliche Verbrämung vermag den Essig nicht zu übertünchen; vielmehr wird die pastoral unehrliche Redeweise als Betrug entlarvt: Es geht doch gar nicht um geistliche Prozesse, sondern um Bewahrung einer überkommenen Ordnung einer Kirche, die es schlichtweg nicht mehr gewohnt ist, jenem Gott zu trauen und auf seinen Geist zu hören, der offenkundig andere Wege weist … würde es sonst nicht mehr „Berufungen“ geben?
Wenn aus Jüngern Zeugen werden
Am 50. Tag nach der Auferstehung Jesu Christi war das noch anders. Zehn Tage zuvor empfingen die Nochjünger von ihm den Auftrag, endlich zu Zeuginnen und zu Zeugen zu werden. Doch statt die Herausforderung anzunehmen, schauen sie noch zum Himmel empor. Dort aber gibt es nichts mehr zu sehen. Jesus ist weg2) … und der Geist wird kommen. Zehn Tage haben sie Zeit, sich an die neue Situation zu gewöhnen. Zehn Tage, in denen sie einen Prozess beginnen und den Zwölferkreis wieder vervollständigen (vgl. Apostelgeschichte 1,15-26). Das ist das Gewohnte. Dann aber kommt der Geist und macht alles neu. In der ersten Lesung vom Pfingstsonntag wird zu Anfang betont, dass alle am selben Ort versammelt waren:
Als der Tag des Pfingstfestes gekommen war, waren alle zusammen am selben Ort.
Die Frage ist, wer diese „alle“ sind. Im weiteren Verlauf der Rede gibt es eine weitere Identifikation, wenn aus dem Volk staunend nachgefragt wird:
Seht! Sind das nicht alles Galiläer, die hier reden?
Vorher, nach dem Weggang des Auferstandenen, aber heißt es schon:
Als sie in die Stadt kamen, gingen sie in das Obergemach hinauf, wo sie nun ständig blieben: Petrus und Johannes, Jakobus und Andreas, Philippus und Thomas, Bartholomäus und Matthäus, Jakobus, der Sohn des Alphäus, und Simon, der Zelot, sowie Judas, der Sohn des Jakobus. Sie alle verharrten dort einmütig im Gebet, zusammen mit den Frauen und Maria, der Mutter Jesu, und seinen Brüdern.
Das sind die, die mit „alle“ bezeichnet werden – nicht bloß die Zwölf, sondern alle Jüngerinnen und Jünger, die zu Zeuginnen und Zeugen wurden. Unter ihnen sind sogar die Brüder Jesu, die doch zu seinen Lebzeiten noch so skeptisch waren (vgl. Markus 3,21 oder Matthäus 12,46-50). Sie alle empfangen den Geist – keiner mehr als die andere. Und Gottes Geist weht sogar unter den Heiden. Das muss Petrus lernen, als der nichtjüdische Hauptmann Kornelius um die Taufe für sich und sein Haus bittet und der Fischer vom See Genezareth erkennt:
Kann jemand denen das Wasser zur Taufe verweigern, die ebenso wie wir den Heiligen Geist empfangen haben?
Der Geist Gottes scheint sich nicht um gewöhnlich gewordene Regeln zu kümmern. Er schafft neu. Immer wieder. Auch heute. Wäre die vielen Prozesse wirklich geistlich Wege, es würde auf das Neue, was kommt, geschaut und nicht auf das, was man unbedingt bewahren möchte. Der Geist ermächtigt, Gott Gestalt zu geben. Und er ermächtigt nach eigenen Regeln!
Es ist Pfingsten. Es ist nicht die Kirche, die aus dem Vater und dem Sohn hervorgeht, sondern der Geist. Keine Frage: Es braust und stürmt in diesen Zeiten. Erkennt die Zeichen. Der Geist weht wieder – und er wird wieder lebendig machen verändern … denn Leben ist da, wo etwas wird und vergeht.
Dieser Beitrag wurde in leicht veränderter Form außerdem als “Wort zur Woche” im Weblog “Kath 2:30” der Katholischen Citykirche Wuppertal veröffentlicht.
Bildnachweis
Titelbild: composing-gewitter-sturm-wolken(Felix Mittermeier) – Quelle: pixabay – lizenziert mit der pixabay license.
Einzelnachweis
1. | ↑ | Wer hier bei der Forderung einer Kirche aus Jüngerinnen und Jüngern stehenbleibt, geht den entscheidenden Schritt eben gerade nicht. So gesehen ist die Zeit der Jüngerschaft die des Katechumenates, der durch die Geistbesiegelung – in der römisch-katholischen Tradition eben die Firmung – sein Ende findet. Die Besiegelung ist nicht der Geistempfang – der Geist ist immer schon in allem, was lebt. Vielmehr ist sie ein Auftrag, jetzt als Zeuge oder Zeugin in der Kraft des Heiligen Geistes in der Welt zu wirken. |
2. | ↑ | Vgl. hierzu Werner Kleine, Er ist dann mal weg, Kath 2:30, 28.5.2022 – Quelle: https://www.kath-2-30.de/2022/05/29/er-ist-dann-mal-weg/ [Stand: 6. Juni 2022]. |