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Das Wagnis Ein neutestamentliches Plädoyer für einen nicht bloß behaupteten Kulturwandel


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Die Jesusbewegung ist mal wieder ins Stocken geraten. Die Erfahrung ist nicht neu. Selbst der Gründer der Bewegung muss nach anfänglicher Hochstimmung im Frühling Galiläas, als die Menschen in Scharen hinter ihm herliefen, feststellen, dass auch Euphorie kein nachhaltiges Fundament für einen grundlegenden Kulturwandel ist. Wenn die schwierigen Themen kommen, die Herausforderungen, die nicht nur das Herz prüfen, sondern auch den Verstand, kommt es zum Schwur. Dann gibt es bisweilen keine Kompromisse mehr. So war es auch damals nach der sogenannten großen Brotrede in der Synagoge von Kafarnaum, die Johannes in seinem Evangelium überliefert (vgl. Johannes 6,22-59). Tatsächlich ist die Sprache drastisch und die Rede hart, wenn Jesus dort unumwunden sagt:

Amen, amen, ich sage euch: Wenn ihr das Fleisch des Menschensohnes nicht esst und sein Blut nicht trinkt, habt ihr das Leben nicht in euch. Wer mein Fleisch isst und mein Blut trinkt, hat das ewige Leben und ich werde ihn auferwecken am Jüngsten Tag. Denn mein Fleisch ist wahrhaft eine Speise und mein Blut ist wahrhaft ein Trank. Wer mein Fleisch isst und mein Blut trinkt, der bleibt in mir und ich bleibe in ihm. Wie mich der lebendige Vater gesandt hat und wie ich durch den Vater lebe, so wird jeder, der mich isst, durch mich leben. Dies ist das Brot, das vom Himmel herabgekommen ist. Es ist nicht wie das Brot, das die Väter gegessen haben, sie sind gestorben. Wer aber dieses Brot isst, wird leben in Ewigkeit. Johannes 6,53-58

Lässt man fast 2.000 Jahre dogmatischer Reflexion beiseite, kann die Reaktion der Zuhörer auf diese unerhörte Aussage kaum überraschen: Sie nehmen Anstoß, murren, ziehen sich zurück und wenden sich ab (vgl. Johannes 6,60-66). Geahnt hatte man es nun immer schon. Jetzt aber zeigt sich, dass dieser Jesus von Nazareth offenkundig verrückt sein muss: Er will sein Fleisch zu essen geben und sein Blut zu trinken … Kaum nachvollziehbar, dass man so einem hinterhergelaufen war. Ob ihm der Erfolg zu Kopf gestiegen ist? Kein Zweifel … er muss übergeschnappt sein. Wer kann es jetzt noch wagen, in seiner Nähe zu bleiben?

Verlustängste

Gerade in Euphorie weckt die Erfahrung des Scheiterns besondere Verlustängste. Es verwundert nicht, dass Jesus seine Vertrauten angesichts dieser Erfahrung fragt:

Wollt auch ihr weggehen? Johannes 6,67

Die Antwort des Simon Petrus ist zur Sentenz verkommen, die nicht mehr hinterfragt wird:

Herr, zu wem sollen wir gehen? Du hast Worte des ewigen Lebens. Wir sind zum Glauben gekommen und haben erkannt: Du bist der Heilige Gottes. Johannes 6,68-69

Als wenn damit schon alles gesagt wäre … Sicher: In dem Wort des Petrus drückt sich ein Grundvertrauen aus, ein Schwur und eine Gewissheit, dass hier einer ist, der Großes vorhat. Und doch birgt auch dieses Wort schon den Keim eines Missverständnisses, das nicht nur Simon Petrus innewohnt, der bei der Verhaftung dessen, der die Nächsten- und Feindesliebe predigte bereit ist, das Schwert kampfbereit zu ziehen und zu gebrauchen (vgl. Johannes 18,10-11); auch in der nämlichen Szene des scheinbar unumstößlichen Bekenntnisses seiner Weggefährten ahnt Jesus die Sollbruchstelle:

Habe ich nicht euch, die Zwölf, erwählt? Und doch ist einer von euch ein Teufel. Er sprach von Judas, dem Sohn des Simon Iskariot; denn dieser sollte ihn ausliefern: einer der Zwölf. Johannes 6,70-71

Weiter, weiter, immer weiter ...

Die Verlusterfahrung ist existentiell für die Jesusbewegung. Sie nagt wohl am eigenen Selbstverständnis. Müsste das Reich Gottes, das aufzubauen dieser Handwerkerssohn aus Nazareth angetreten ist, nicht längst sichtbar sein? Wieso ändert sich an den Verhältnissen aber offenkundig nichts? Wieso bleiben die Legionäre Roms im Land? Wieso bleiben die Armen arm? Lohnt es sich, für diese Sache weiter, die Netze am See liegen und die Familien zurückzulassen, für so ein Himmelfahrtskommando?

Jesus spürte wohl die aufkommenden Zweifel, derer sich auch die engsten Gefährten wohl kaum entziehen konnten. In der ihm eigenen Art greift er nicht zu Durchhalteparolen, sondern zu Erzählungen. Parolen mögen kurzfristige Euphorien bewirken, schnelle Effekte, die aber rasch verpuffen. Man kennt das ja von kirchlichen Großveranstaltungen, wenn man im Rausch der Masse eine Größe der Bedeutung der eigenen Bewegung halluziniert, die sich schon kurze Zeit später im Alltag als schlieriges Schillern seifiger Suspensionen entpuppt. Erzählungen hingegen wirken nachhaltiger. Sie prägen sich ein, bilden Charaktere, können weitergegeben werden und bewegen so ganze Generationen. Die Verkündigungsstrategie Jesu ist rhetorisch perfekt. Noch heute erzählt man seine Geschichten und Gleichnisse, die selbst die in den Zeiten bewegt haben, die des Lesens und Schreibens nicht mächtig waren. Eine solche Geschichte ist das Gleichnis der Mühen eines Sämanns:

Hört! Siehe, ein Sämann ging hinaus, um zu säen. Als er säte, fiel ein Teil auf den Weg und die Vögel kamen und fraßen es. Ein anderer Teil fiel auf felsigen Boden, wo es nur wenig Erde gab, und ging sofort auf, weil das Erdreich nicht tief war; als aber die Sonne hochstieg, wurde die Saat versengt und verdorrte, weil sie keine Wurzeln hatte. Wieder ein anderer Teil fiel in die Dornen und die Dornen wuchsen und erstickten die Saat und sie brachte keine Frucht. Ein anderer Teil schließlich fiel auf guten Boden und brachte Frucht; die Saat ging auf und wuchs empor und trug dreißigfach, sechzigfach und hundertfach. Und Jesus sprach: Wer Ohren hat zum Hören, der höre! Markus 4,3-9 parr

Nur die Effizienz der Verschwendung führt zum Erfolg

Das Verhalten des Sämanns erscheint nicht nur aus moderner Sicht als ineffizient. Viel zu viel Saatgut scheint verloren zu gehen. Wertvolles wird offenkundig verschwendet. Bei näherem Hinsehen aber entpuppt sich die Methode des Sämanns als äußerst erfolgreich. Würde er genau prüfen und planen, wo er jedes einzelne Samenkorn platzieren würde, er käme an kein Ende. So aber werden nicht nur die Vögel satt, die – das weiß man sicher erst heute in letzter Konsequenz – ihren Teil zum ökologischen System beitragen. Durch die verschwenderische Saatmethode des Sämanns fällt eben doch viel auf fruchtbaren Boden, wo es überreiche Frucht bringt. Der Ernteerfolg überwiegt den scheinbaren Misserfolg bei Weitem. Das ist die Trostbotschaft Jesu an die Seinen: Lasst euch von dem scheinbaren Misserfolg und Verlust nicht blenden. Am Ende zählt das Ergebnis. Zum Erfolg aber werdet ihr nur gelangen, wenn ihr verschwenderisch seid. Sitzt deshalb nicht ewig in Stuhlkreisen und plant eine glorreiche Zukunft, die nicht kommen wird, solange ihr sitzt; steht auf und sät endlich, verkündet das unerhörte Wort, redet bisweilen hart. Die Menschen kommen und werden auch gehen. Vielleicht laufen sie sogar in Scharen weg. Solange ihr und andere bleibt, um die frohe Botschaft vom nahen Reich Gottes zu verkünden, ist die Bilanz noch nicht gezogen. Ihr müsst nur gehen und verkündet und nicht bloß schweigen, sitzen und beten. Wer so auch heute noch den Weg Jesu wagt, der wird letztlich gewinnen. Wer aber bloß paroliert, mehr Jesus zu wagen, es aber nicht wagt, das Werk Jesu zu tun, wird verlieren.

Von Luftguckern und Luftschlossbauern ...

Es wäre alles so einfach, wenn Jesus doch noch da wäre und den Seinen die Worte des ewigen Lebens zusprechen könnte. Allein: Kann man sicher sein, dass selbst die Frommen den unerhörten Worten Jesu folgen würden? Oder würden sie sich nicht vielleicht auch in die Büsche schlagen wie damals die Leute in der Synagoge von Kafarnaum? Hinterher ist man immer schlauer. Vor allem, wenn man seinen Katechismus kennt … da steht schließlich alles schwarz auf weiß drin. Und doch fällt es auch einem Simon Petrus schwer, nach Messiasbekenntnis und Schwertstreich noch zu seinem Herrn zu stehen, als es darauf ankam: Er verleugnete im Hof des Hohepriesters Jesus und wagte nicht, auch nur seine Bekanntschaft zu bekennen (vgl. Johannes 18,15-17).

Für die Jünger Jesu gibt es gerade in den Tagen des Kreuzestodes und seiner Auferstehung viel zu lernen. Aber auch die Erfahrung des Auferstandenen führt sie noch nicht zur vollen Erkenntnis. Sie glauben immer noch, dass ihre irdischen Träume in Erfüllung gehen: die Wiederherstellung eines irdischen Reiches Gottes in Israel. Sie haben immer noch nicht verstanden und bauen weiter an ihren Luftschlössern:

Beim gemeinsamen Mahl gebot er ihnen: Geht nicht weg von Jerusalem, sondern wartet auf die Verheißung des Vaters, die ihr von mir vernommen habt! Denn Johannes hat mit Wasser getauft, ihr aber werdet schon in wenigen Tagen mit dem Heiligen Geist getauft werden. Als sie nun beisammen waren, fragten sie ihn: Herr, stellst du in dieser Zeit das Reich für Israel wieder her? Er sagte zu ihnen: Euch steht es nicht zu, Zeiten und Fristen zu erfahren, die der Vater in seiner Macht festgesetzt hat. Aber ihr werdet Kraft empfangen, wenn der Heilige Geist auf euch herabkommen wird; und ihr werdet meine Zeugen sein in Jerusalem und in ganz Judäa und Samarien und bis an die Grenzen der Erde. Als er das gesagt hatte, wurde er vor ihren Augen emporgehoben und eine Wolke nahm ihn auf und entzog ihn ihren Blicken. Während sie unverwandt ihm nach zum Himmel emporschauten, siehe, da standen zwei Männer in weißen Gewändern bei ihnen und sagten: Ihr Männer von Galiläa, was steht ihr da und schaut zum Himmel empor? Dieser Jesus, der von euch fort in den Himmel aufgenommen wurde, wird ebenso wiederkommen, wie ihr ihn habt zum Himmel hingehen sehen. Apostelgeschichte 1,4-11

Jesus ist fort ...

Nach dem Kreuzestod Jesu haben sie ihn ein weiteres Mal verloren. Er ist fort in den Himmel. Schon der Auferstandene war für sie unberührbar geworden und entzog sich ihrem Zugriff. Weder Maria von Magdala (vgl. Johannes 20,17) noch später der Apostel Thomas (vgl. Johannes 20,28-29) können ihn festhalten und begreifen. Das Werk Jesu ist vollendet. Die Seinen müssen nun ohne ihn zurechtkommen – wäre da nicht die Verheißung Jesu im Matthäusevangelium, die den neuerlichen Verlust zu konterkarieren scheint:

Und siehe, ich bin mit euch alle Tage bis zum Ende der Welt. Matthäus 28,20

Ist mit diesem verheißungsvollen Schlusssatz des Matthäusevangeliums nicht die bleibende Gegenwart Jesu ausgesagt?

Sie ist es – aber eben und offenkundig eben nicht so, wie sie in der irdischen Zeit Jesu und der Zeit der offenbarenden Erscheinungen des Auferstandenen wirksam war. In der Tat trauen auch im Matthäusevangelium die Jünger der Sache nicht so recht:

Die elf Jünger gingen nach Galiläa auf den Berg, den Jesus ihnen genannt hatte. Und als sie Jesus sahen, fielen sie vor ihm nieder, einige aber hatten Zweifel. Da trat Jesus auf sie zu und sagte zu ihnen: Mir ist alle Vollmacht gegeben im Himmel und auf der Erde. Darum geht und macht alle Völker zu meinen Jüngern; tauft sie auf den Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes und lehrt sie, alles zu befolgen, was ich euch geboten habe. Matthäus 28,16-20

Der Text ist aufschlussreich, denn er beinhaltet eine Aufforderung an die teilweise immer noch zweifelnden Jünger, sein Werk fortzusetzen. Das Leben Jesu ist vollendet, sein Werk aber wirkt seinen Jüngern und Jüngerinnen weiter. Sie sollen jetzt zu allen Völkern gehen und seine Lehre verbreiten. Markus dehnt diesen Auftrag sogar noch aus, wenn er von der ganzen Schöpfung und allen Geschöpfen spricht:

Dann sagte er zu ihnen: Geht hinaus in die ganze Welt und verkündet das Evangelium der ganzen Schöpfung! Markus 16,15

... aber: Niemals geht man so ganz!

Das ist zweifellos eine mehr als große Herausforderung, dessen der als Mittler zwischen Welt, Mensch und Gott von sich sagt:

Ich bin der Weg und die Wahrheit und das Leben; niemand kommt zum Vater außer durch mich. Johannes 14,6

Es ist derselbe, der sich nur zu den verlorenen Schafen Israels gesandt wusste (vgl. Matthäus 15,24), und der nun die Seinen jetzt in die ganze Welt schickt. Sie sollen nun die Menschen durch ihn zu Gott, dem Vater führen. Wie soll das gelingen? Sind sie dafür qualifiziert? Werden sich urban geprägt Griechen und Römer von Gleichnisreden aus dem bäuerlichen Umfeld Galiläas und vielleicht noch Judäas beeindrucken lassen? Was ist mit den Fragen, die sich den Jüngerinnen und Jüngern stellen werden, die in gerade einmal einem Jahr öffentliche Lehrzeit auf dem Weg zwischen Galiläa und Judäa weder gestellt noch beantwortet wurden?

Schon Paulus muss diese Erfahrung machen, so dass er angesichts der Frage, wie bei Ehen zwischen Glaubenden und Nicht-Glaubenden verfahren werden soll, feststellen muss, dass es hierzu keine Weisung Jesu gibt; es bleibt also nichts übrig, als aus eigenem Antrieb – also motu proprio – auf der Basis der Lehre Jesu eine neue Antwort zu finden. So kommt Paulus zu dem Schluss:

Den Übrigen sage ich, nicht der Herr: Wenn ein Bruder eine ungläubige Frau hat und sie willigt ein, weiter mit ihm zusammenzuleben, soll er sie nicht verstoßen. 1 Korinther 7,12

Wie aber kommt Paulus zu dieser Haltung. Ist sie nicht ein Affront gegenüber Jesus. Darf man einfach neue Antworten auf neue Herausforderungen finden?

Die Antwort liegt in den schon zitierten Jesusworten selbst. Er ermutigt seine Jünger ja geradezu, wenn er verheißt, alle Tage bei Ihnen zu sein bis zum Ende der Welt (vgl. Matthäus 28,20), während er vor seiner Himmelfahrt die Gabe des Geistes verheißt, in dessen Kraft sie nun seine Zeugen sein werden (vgl. Apostelgeschichte 1,8). Damit sind zwei wichtige Aspekte angesprochen, die die Nachfolgeschaft Jesu bestimmt. Auch wenn er unberührbar geworden in den Himmel entrückt ist, geht sein Werk mit Kraft und Dynamik (δύναμις – gesprochen: dynamis) weiter, wenn die Jüngerinnen und Jünger nun als Zeugen (μάρτυρες – gesprochen: mártyres) agieren. Er wird in ihnen weiter wirken. Wie aber soll das geschehen?

Change!

Pfingsten bedeutet den entscheidenden Kulturwandel. Indem die Jüngerinnen und Jünger erkennen, dass sie Trägerinnen und Träger des göttlichen Geistes sind, wird die Bewegung neu aktiviert. Das ist der entscheidende Wandel: Sie schauen nicht mehr nur auf den entrückten Jesus. Sie erkennen, dass er in seinem Geist in ihnen wirkt. Für Paulus ist das sogar phänotypisch erkennbar: Der Geist ist das πνεῦμα (gesprochen: pneûma), wörtlich also: der Hauch, der Lebensatem, mit dem Gott weiland schon dem noch lehmklumpigen Adam Leben in die Lungen blies (vgl. Genesis 2,7), jener Atem, dessen neuschöpferische Kraft in Psalm 104,30 ebenso besungen wird, wie das Schwinden des Lebens in dem Moment, in dem Gott den Atem nimmt (siehe Psalm 104,29)1). Es ist also Gott, der allem, was Hauch hat, atmet. Folglich wohnt Gott also auch im Menschen. Deshalb kann Paulus mit voller Überzeugung sagen:

Wisst ihr nicht, dass ihr Gottes Tempel seid und der Geist Gottes in euch wohnt? Wer den Tempel Gottes zerstört, den wird Gott zerstören. Denn Gottes Tempel ist heilig und der seid ihr. 1 Korinther 3,16-17

Für diejenigen, die erkennen und erkannt haben, dass sie Trägerinnen und Träger des Heiligen Geistes, also des göttlichen Gastes, und mit ihm besiegelt sind, ist die Zeit des lernenden Harrens an ein Ende gekommen. Es geht nun nicht mehr darum, bloß mehr Jesus zu wagen. Es geht nun darum, in und durch die Zeiten der Lehre Jesu immer neu Gestalt zu geben, auf neue Fragen geistvolle und -reiche Antworten zu finden. Genau das aber ist der Auftrag der Theologie – eine Aufgabe, der sich schon Paulus stellte. Wer nur mehr Jesus wagen will, verkennt nicht nur die lebendigmachende Dynamik des Geistes und so die trinitarische Kraft des christlichen Gottesbildes; er flüchtet sich letzten Ende auch in eine galiläische Idylle, ein Paradies blenderischer Euphorie, das schon dem irdischen Jesus verloren ging …

Immer wieder: Vertreibung aus dem Paradies

Es ist ein wenig wie bei der ersten Vertreibung aus dem Paradies. Der erste Mensch und seine Gefährtin hatten endlich die selig- und mündigmachende Erkenntnis über Gut und Böse erlangt – eine Fähigkeit, die der Hebräerbrief ausdrücklich gutheißt und preist:

Darüber hätten wir viel zu sagen; es ist aber schwer verständlich zu machen, da ihr träge geworden seid im Hören. Denn obwohl ihr der Zeit nach schon Lehrer sein müsstet, braucht ihr von Neuem einen, der euch in den Anfangsgründen der Worte Gottes unterweist; und ihr seid solche geworden, die Milch nötig haben, nicht feste Speise. Denn jeder, der noch mit Milch genährt wird, ist unerfahren im richtigen Reden; er ist ja ein unmündiges Kind; feste Speise aber ist für Erwachsene, deren Sinne durch Gebrauch geübt sind, Gut und Böse zu unterscheiden. Hebräer 5,11-14

So ausgestattet und von Gott zusätzlich mit dem Nötigsten für einen Start in ein mündiges Leben ausgestattet, werden die Menschin und ihr Gefährte ins Leben geschickt. Sie können nun selbstständig für sich sorgen – und so will Gott es! Gott will, dass der Mensch seinen Verstand gebraucht. Genau darin kommt seine Gottebenbildlichkeit zum Ausdruck. Dafür brauch er die Erkenntnis zwischen Gut und Böse. Sie zeichnet ihn aus. Sie macht ihn erst – zum Menschen!

Genau darin liegt ja die Pointe des Hebräerbriefes: Werdet endlich mündig, ihr Christgläubigen. Gebraucht euren Verstand, um geistreiche Antworten zu finden. Hört auf, euch wie Unmündige mit der Milch, die man euch bietet, zufrieden zu geben. Nehmt die Fragen und Herausforderungen eurer Gegenwarten an. Sucht Antworten, indem ihr Theologie treibt. Vielleicht ist das die größte Schwäche vieler Schafe und Böcke in der Kirche von heute: dass sie aufgehört haben, Theologie zu treiben!

Mehr Theologie wagen!

Es gilt, aus der Betrachtung, zum Denken zu kommen und aus dem Denken zum Dialog mit der Welt. Die Menschin aß zuerst vom Baum der Erkenntnis von Gut und Böse und reicht danach die Frucht ihrem Gefährten. Die Tradition stellt die Frucht als Apfel dar. Blieb im Paradies wohl das von dieser Frucht übrig, was man in der westfälischen und niederrheinischen Mundart eine „Kitsche“ nennt? Ein Glaube, der nur einen paradiesischen Zustand sucht, bleibt ebenso kitschig, wie die vielen Jesusbilder, die einen netten Kerl zeigen, bei dem man sich fragt, wie so einer am Kreuz enden konnte. Der irdische Jesus von Nazareth hingegen war eine Zumutung, die sich auch in seiner Auferstehung fortsetzt. Wer bloß mehr Jesus wagen möchte, muss nicht nur sagen (und begründen, wenn er nicht willkürlich agieren will), von welchem Jesus er spricht, was freilich schon ein Akt des Theologiesierens; er muss auch klären, wo dieser Jesus, der doch in den Himmel zurückgekehrt, heute noch zu finden ist, wenn nicht in seinen begeisterten Jüngerinnen und Jüngern. Nun ist es aber genau an ihnen, die durch die Zeiten die Seinen sind und waren, sich – ermutigt durch die Erkenntnis, Trägerinnen und Träger des göttlichen Hauches zu sein – dieser Zumutung neu Gestalt zu geben. Nicht ohne Grund motiviert Paulus deshalb die Thessalonicher mit einer ganzen Reihe von Parolen:

Wir bitten euch, Brüder und Schwestern: Erkennt die an, die sich unter euch mühen und euch vorstehen im Herrn und euch zurechtweisen! Achtet sie äußerst hoch in Liebe wegen ihres Wirkens! Haltet Frieden untereinander! Wir ermahnen euch, Brüder und Schwestern: Weist die zurecht, die ein unordentliches Leben führen, ermutigt die Ängstlichen, nehmt euch der Schwachen an, seid geduldig mit allen! Seht zu, dass keiner dem andern Böses mit Bösem vergilt, sondern bemüht euch immer, einander und allen Gutes zu tun! Freut euch zu jeder Zeit! Betet ohne Unterlass! Dankt für alles; denn das ist der Wille Gottes für euch in Christus Jesus. Löscht den Geist nicht aus! Verachtet prophetisches Reden nicht! Prüft alles und behaltet das Gute! Meidet das Böse in jeder Gestalt! 1 Thessalonicher 5,12-22

Dass Paulus sich des Schicksals von Parolen, die mit Euphorie entzündeten Strohfeuern gleichen, bewusst war, zeigt die Aufforderung, ohne Unterlass zu beten (ἀδιαλείπως – gesprochen: adialeípos, 1 Thessalonicher 5,17) und sich zu jederzeit (πάντοτε – gesprochen: pantote, vgl. 1 Thessalonicher 5,16) zu freuen. Es geht hier offenkundig weniger um den Sprechakt des Gebetes oder eine aufgesetzte Fröhlichkeit; wie sollte man auch im knienden Gebet verharrend für seinen Lebensunterhalt sorgen? Nein, es geht eher um grundlegende Haltungen: Das Leben selbst soll Gebet sein; der Christ soll so leben, dass Gott durch ihn in die Welt wirkt; so wird er wahrhaft Zeuge sein und der Welt und ihren Herausforderungen mit freudiger Offenheit begegnen. Warum? Es ist ja Gott, der im Geist in ihm wohnt. Deshalb wirkt Gott durch ihn in eine Welt hinein, die immer neue Herausforderungen und Zumutungen gebiert. Löscht diesen Geist nicht aus! Gebt ihm Gestalt, indem ihr Prophetinnen und Propheten seid! Prophetinnen und Propheten aber treiben Theologie und prüfen so alles, um das Gute zu behalten. Hängt deshalb nicht den Luftschlössern glorreicher Vergangenheiten nach. Die Verlusterfahrung gehört zur christlichen Existenz. Lasst euch nicht entmutigen. Sät, verschwendet, erntet. Wie? Löscht den Geist nicht aus! Sperrt ihn nicht ein! Wagt es endlich wieder, – gelegen oder ungelegen – Theologie zu treiben!

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Bildnachweis

Titelbild: Taube hinter Gittern (Werner Kleine) – lizenziert als CC BY-SA 4.0.

Video: Gott, der Heilige Geist, und die Kirche (Glaubensinformation in Wuppertal – 10.5.2017) – Quelle: Youtube – lizenziert mit Standard Youtube-Lizenz

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1. Sowohl der masoretische Text also auch die Septuaginta verwenden in Genesis 2,7 (נפש – gesprochen: neffesch/ψυχή – gesprochen: psyché) und in Psalm 104,29-30 (רוח – gesprochen: ruach/πνεῦμα – gesprochen: pneûma), die in der Intention des lebendigmachenden Atems Gottes aber synonym gebraucht werden.
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