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Es ist ein Vorgang biblischen Ausmaßes: Es werden Briefe geschrieben. Gut möglich, dass der Vorgang sogar von kirchengeschichtlicher Bedeutung ist und man die literarischen Artefakte dereinst in Archiven bei konstanter Temperatur und Luftfeuchtigkeit nur mit Samthandschuhen anfassen und lesen darf, um zu erforschen, worum sich heute schon Kirchenrechtler, Journalistinnen, Theologinnen und auch sonst jeder, der in der Lage ist, sich einen Account in den sozialen Medien einzurichten, balgen: Papst Franziskus lehnt den angebotenen Rücktritt von Reinhard Kardinal Marx als Erzbischof von München und Freising ab1).
Wer schreibt, der bleibt
Die Korrespondenz fand offenkundig ganz analog statt. Das wird möglicherweise in Zukunft die Forscher beschäftigen, kann man doch Tinte, Druckerschwärze, ja sogar das Papier auf Rückstände untersuchen und herausfinden, wo genau die Schreiben jeweils entstanden sind. Waren es Büros, sommerliche Residenzen oder private Gemächer. Allein die Staubzusammensetzung könnte da wertvolle Hinweise geben. Alles Fragen, die die derzeitige Diskussion überhaupt nicht beschäftigen – dabei könnten die Rahmenbedingungen doch wichtig für die Interpretation der Schreiben sein. Saß etwa der gehorsame Kardinal Marx bei der Unterzeichnung aufrecht im episkopalen Chefsessel? Entspricht der entspannte Ton der päpstlichen Antwort mit ihrer blumig-bildreichen Semantik im muttersprachlichen Idiom des Nachfolgers auf dem Stuhl Petri der Abfassungssituation – vielleicht in abendlich entspannter Stunde bei Mate-Tee auf einer römischen Loggia umweht von einer leichten Brise? Das wäre doch interessant zu wissen, um den Stellenwert der Schreiben richtig einzuordnen. Wer weiß schon, was eine Analyse der physischen Materia der Korrespondenz so zu Tage fördern würde. Das ist ja der Vorteil physischer Korrespondenz: Ihr Speichermedium ist nicht nur von wahrscheinlich dauerhafterer Konsistenz als die digitalen Speicherformate (während man antike Papyri immer noch lesen kann, sind die in den 1990er Jahren auf 5¼-Zoll-Disketten gespeicherten Daten vielfach längst verloren – oft, weil das Speichermedium selbst aufgrund der physischen Eigenschaften nicht mehr auslesbar ist). Wer schreibt, der bleibt eben! Und das, wie die Korrespondenz zwischen München und Rom zeigt, im wahrsten Sinn des Wortes!
In Persona
Neben den Hinweisen auf Abfassungszeit und -ort – als den klassischen Einleitungsfragen – könnte die physische Materia der Schreiben aber noch andere Hinweise geben. Beide Schreiben mögen nach Art der neutestamentlichen Briefschreiber diktiert und von einem Scriptor aufgeschrieben worden sein. Möglicherweise wurden die Entwürfe auch verschiedenen redaktionellen Stufen unterzogen. Bei der geschliffenen, leicht devoten Schreibweise des marx’schen Briefes ist das sogar als relativ sicher anzunehmen. Das Schreiben von Papst Franziskus hingegen klingt spontaner; da fließt der Gedanke unmittelbar auf das Papier und nimmt die Gestalt von Buchstaben an. Bei Lesen der Briefe tut sich deshalb dort eine gewisse Distanz auf, während man hier den Eindruck hat, die Stimme Franziskus‘ selbst zu hören. Sicher dürfte jedenfalls sein, dass beide Briefe mit eigener Hand unterschrieben worden sind. Beides zusammen – die Frage der Spontaneität bzw. einer möglichen intensiveren Redaktionsarbeit – und der „persönliche“ Gruß aber sind für einen Neutestamentler durchaus von Bedeutung, fühlt er sich doch an den gelegentlichen expliziten Hinweis speziell des Paulus erinnert, mit denen er manche Textpassagen besonders hervorheben will, wenn er sagt:
Seht, mit welch großen Buchstaben ich euch schreibe, mit eigener Hand.
Mit diesem Hinweis wird es im Galaterbrief eben persönlich. Paulus ist hier als Person involviert und betroffen. Bei aller gebotenen Sachlichkeit ist das von ihm Geschriebene offenkundig so wichtig, dass er persönlich agiert und das auch im Schriftbild deutlich macht. Dabei scheinen „die großen“ Buchstaben eher darauf hinzudeuten, dass er im Schreiben langer Text nicht sonderlich geübt ist. Dafür hatte man eben sonst seine Leute, die das erledigten – die Scriptoren. Das „Schreiben mit eigener Hand“ aber wird zu einem literarischen Mittel der Betonung, Wertschätzung und existentiellen Verstärkung, die im Schriftbild sichtbar ist. Man darf nicht vergessen, dass alle sonstigen Interpretamente des Gesagten wie Mimik, Gestik, Stimmlage und -modulation bei einer schriftlichen Kommunikation entfallen. Emojis, mit denen man das heute substituiert, gab es noch nicht. Das „Schreiben mit eigener Hand“ bringt da gezielt eine persönliche Note in den Text, die aufhorchen lässt – wie auch in dem im Vergleich zum Galaterbrief viel persönlicheren Philemonbrief des Paulus. Dort bietet er dem Adressaten eine Bürgschaft für den entlaufenen Sklaven an und verstärkt das durch einen „mit eigener Hand“ geschriebenen Hinweis:
Wenn du also mit mir Gemeinschaft hast, nimm ihn auf wie mich! Wenn er dich aber geschädigt hat oder dir etwas schuldet, setz das auf meine Rechnung! Ich, Paulus, schreibe mit eigener Hand: Ich werde es erstatten – ohne jetzt davon zu reden, dass auch du dich selbst mir schuldest.
All das möchte man doch gerne auch im Fall der münchnerisch-römischen Korrespondenz wissen. Sicher – beide Texte geben da semantische Hinweise. Die aber würde man doch gerne durch autographische Belege erhärten. Was wir allgemein haben, sind Internetdateien – unformatiert, unpersönlich, reiner Fließtext eben, ohne Mate-Tee-Flecke, Eselsohren, Tränen der Verzweiflung oder Knicke von verzweifeltem Zusammenknüllen des bedruckten Papiers. Was uns da alles an Interpretamenten fehlt, um den Vorgang wirklich in seiner existentiellen Tiefe beurteilen zu können …
Verlorenes zwischen den Zeilen
Vielleicht erschiene manches der angestrengt-ernsten Deutungsversuche, die gegenwärtig unternommen werden, dann in einem völlig neuen Licht. Da wird nämlich längst zwischen den Zeilen nach dem Eigentlichen gesucht. Das Weiße wird wichtiger als das Schwarze, die Leere wird zur Lehre, das Ungesagte das Eigentliche. Exegetinnen und Ausleger kennen das – vor allem, wenn sie manchen gut- und wohlmeinenden Predigten folgen. Meist wird das nie Gesagte aber hoffentlich doch Gemeinte von den predigenden Fährtensuchern mit Worten eingeleitet wie „der Evangelist meint“ oder „der Apostel will uns sagen“. Unwillkürlich fragt sich der Exeget und die Auslegerin, warum er es dann nicht auch direkt so schreibt. So schwer wird das auch vor 2000 Jahren nicht gewesen sein, als Evangelisten und Apostel sicher nicht eine Zuhörerschaft im Jahr 2021 vor Augen hatten, sondern ganz konkrete Gemeinden. Was haben wir für ein Glück, dass die Texte damals auf physischer Materie aufgeschrieben und immer wieder von Hand kopiert wurden. So können wir es heute noch lesen und entdecken, welche Themen die Altvorderen bewegten. Wir können verfolgen, wie sie um Antworten rangen, Theologie trieben und Alltagsfragen regelten. Wir können sogar unsere Schlüsse daraus ziehen, wie die Beziehung zwischen den Absendern und Adressaten aussah – ganz so, wie es heute auf einer Zugfahrt geschieht, wenn dort jemand telefoniert und man nur diese Seite des Gespräches hört, daraus aber durchaus Schlüsse auf das Ganze und möglicherweise sogar auf den zugrundeliegenden Beziehungsstatus ziehen kann. Nichts davon ist bloß „gemeint“, niemand will irgendetwas „sagen“, was er nicht auch schreiben könnte. Fatalerweise schreibt Paulus das sogar selbst:
Denn wir schreiben euch nichts anderes, als was ihr lest und kennt.
Offenkundig haben schon die Korinther der Versuchung nicht widerstehen können und haben zwischen den Zeilen das Ungesagte gesucht, das sie für das Eigentliche hielten. Paulus hingegen scheint das dann doch zu kompliziert gewesen zu sein, denn das Ungesagte ist so diffus und vieldeutig, dass man da alles Mögliche hineindeuten kann. Er aber betont im Gegenteil, dass er schreibt, was er sagen will. Und er hofft, dass die Korinther das auch erkennen, weil davon einiges für die Gemeinde, wie aber auch für ihn selbst abhängen:
Ich hoffe, ihr werdet noch ganz erkennen, wie ihr uns zum Teil schon erkannt habt, nämlich dass wir euer Ruhm sind, so wie ihr unser Ruhm seid, am Tag unseres Herrn Jesus.
Verdunklungsgefahren
Paulus kämpft im 2. Korintherbrief in hochkonfliktiver Situation um die Wiederherstellung einer gedeihlichen Beziehung zur korinthischen Gemeinde. In Konflikten ist Eindeutigkeit in der Kommunikation unabdingbar. Wer hier diffus redet, schwurbelt, nicht Farbe bekennt, wird den Konflikt nur verschärfen. Paulus aber legt Wert darauf, dass er genau das nicht tut. Er ist klar: Die Gemeinde ist von Wert für ihn, so wie er für die Gemeinde. Vor dem Gericht Gottes wird er ohne die Gemeinde mit leeren Händen dastehen, so wie die Gemeinde ohne ihn. Mit leeren Händen vor dem Herrn zu stehen, ist aber keine gute Hoffnung. Es sind die mit dem Lebenswerk gefüllten Hände, die Paulus dem Herrn entgegenhalten will. Was aber wird er vorweisen können, wenn ihm die Gemeinde abhandenkommt? Deshalb insistiert er auf seiner εἰλικρίνεια (gesprochen: eilikríneia), seiner Lauterkeit, gerade auch in kommunikativen Angelegenheiten:
War ich dabei etwa leichtsinnig? Oder will ich das, was ich will, dem Fleische nach, sodass bei mir zugleich Ja, ja und Nein, nein gilt? Gott ist treu, er bürgt dafür, dass unser Wort euch gegenüber nicht Ja und Nein zugleich ist. Denn Gottes Sohn Jesus Christus, der euch durch uns verkündet wurde – durch mich, Silvanus und Timotheus – , ist nicht als Ja und Nein zugleich gekommen; in ihm ist das Ja verwirklicht. Denn er ist das Ja zu allem, was Gott verheißen hat. Darum ergeht auch durch ihn das Amen zu Gottes Lobpreis, vermittelt durch uns.
Zur Wiederherstellung der Beziehung bedient sich Paulus dabei der brieflichen Kommunikation, in die er – wie schon an den eigenhändig geschriebenen Hinweisen zu sehen war – seine ganze Existenz einbringt. Wie persönlich seine Briefe sind, schreibt er selbst:
Eben dies habe ich geschrieben, um nicht bei meinem Kommen von denen betrübt zu werden, die mich erfreuen sollten; ich bin sicher, dass meine Freude auch die Freude von euch allen ist. Denn ich schrieb euch aus großer Bedrängnis und Herzensnot, unter vielen Tränen, nicht um euch zu betrüben, nein, um euch meine übergroße Liebe spüren zu lassen.
Trotz alledem bergen auch die noch so persönlich geschrieben Briefe die Gefahr in sich, gründlich missverstanden zu werden. Auch das weiß Paulus, wenn er die Korinther ermahnt:
Schaut auf das, was vor Augen liegt! Wenn jemand überzeugt ist, Christus zu gehören, dann soll er doch auch bedenken, dass nicht nur er, sondern auch wir Christus gehören. Und wenn ich etwas mehr auf unsere Vollmacht poche, werde ich mich nicht zu scheuen brauchen. Der Herr hat sie mir allerdings verliehen, damit ich bei euch aufbaue, nicht damit ich niederreiße; ich möchte nicht den Anschein erwecken, als wollte ich euch durch meine Briefe einschüchtern. Ja, die Briefe, wird gesagt, die sind wuchtig und voll Kraft, aber sein persönliches Auftreten ist matt und seine Worte sind armselig. Wer so redet, der soll sich merken: Wie wir durch das geschriebene Wort aus der Ferne wirken, so können wir auch in eurer Gegenwart tatkräftig auftreten.
Das „nur“ Geschriebene unterliegt also einer ständigen Verdunklungsgefahr. Sie besteht darin, das Geschriebene nicht zu sich selbst kommen zu lassen, sondern in der interpretatorischen Lust, die eigene Gelehrsamkeit darin hervorzukehren, dass man im Offenkundigen das nicht vor Augen Liegende hervorzuheben glaubt.
Fumum vendidit
Das Ungesagte, das Weiße zwischen den Zeilen, das unausgesprochen Gemeinte – all das ist gefährlicher Nebel in der Auslegung von Texten, die doch eigentlich eben kein Auslegen mehr, sondern ein Hineinlesen ist. Eisegese ist aber eben keine Exegese. Bei der Eisegese geht der Hineinleger von sich aus. Er möchte hören, was er denkt; sie möchte lesen, was sie meint. Katholiken gerade der Gegenwart kennen das: Papsttreu ist man eben vor allem dann, wenn der Papst sagt, was man selbst denkt. Sonst wird selbst der Papst mal eben schnell zum Häretiker erklärt … Exegese hingegen nimmt das, was tatsächlich geschrieben ist zum Ausgangspunkt der Auslegung. Hinzu kommen durchaus sekundäre Elemente, wie kontextuelle Hinweise, archäologische Befunde oder eben die oben schon erwähnten physischen Materien. Die aber müssen manifest sein. Wer hier „nur“ meint oder glaubt, es sei etwas „eigentlich“ gesagt worden, erliegt dem gleichen autopoietischen Trugbild, das das eigene für das schon Eigentliche hält. Das ist näher an wahnhaften Vorstellungen als es manchem Interpreten lieb sein dürfte. Vor allem aber kann ein solches Vorgehen durchaus gewollt sein. Intriganten nämlich sind Meister in der Verdrehung des offenkundig Gesagten in eigentlich Gemeintes. Jesus selbst sieht sich im johanneischen Verhör vor dem Sanhedrin mit einer solchen Intrige konfrontiert:
Der Hohepriester befragte Jesus über seine Jünger und über seine Lehre. Jesus antwortete ihm: Ich habe offen vor aller Welt gesprochen. Ich habe immer in der Synagoge und im Tempel gelehrt, wo alle Juden zusammenkommen. Nichts habe ich im Geheimen gesprochen. Warum fragst du mich? Frag doch die, die gehört haben, was ich zu ihnen gesagt habe; siehe, sie wissen, was ich geredet habe. Als er dies sagte, schlug einer von den Dienern, der dabeistand, Jesus ins Gesicht und sagte: Antwortest du so dem Hohepriester? Jesus entgegnete ihm: Wenn es nicht recht war, was ich gesagt habe, dann weise es nach; wenn es aber recht war, warum schlägst du mich?
Die Vernebler und Verdunkler, die „Zwischen-den-Zeilen-Leser“ aber verkaufen das Gesagte um der eigenen Ziele willen. Freilich verkaufen sie darin nur Fusel – Fumum vendidit! Die Unkundigen aber, die meist die Quellen nicht selbst zu Rate ziehen, um sich eine eigene Meinung zu bilden und sich die Mühe des Ringens mit dem Text machen, lassen sich auch von billigem Fusel nur allzu schnell berauschen …
Er hat es doch gesagt!
Das gilt auch für diesen wunderbar antik anmutenden und doch so hochaktuellen Akt der Kommunikation zwischen Reinhard Kardinal Marx und Papst Franziskus. Über ihn könnte man aus exegetischer Sicht schon so viel schreiben, was die schwarzen Zeilen selbst hergeben, ohne, dass man das Weiße auch nur ansatzweise bemühen müsste. Was etwa bedeutet es, wenn ein durchaus als Machtmensch bekannter Reinhard Kardinal Marx mehrfach im Schlussgruß seinen Gehorsam betont? Wieso spricht er von einem „toten Punkt“, ohne dass im Brief noch in seiner persönlichen Erklärung zum Brief vom 21. Mai 20212) direkt als Zitat von Alfred Delp zu kennzeichnen, sondern das mündlich in einer Pressekonferenz quasi „nachschiebt“. War das Zitat also ursprünglich intendiert oder ist das erst im Nachhinein aufgefallen – und, so oder so: Was heißt das für die Rede vom toten Punkt? Sieht Marx sich hier in der Nachfolge des von den Nationalsozialisten ermordeten Jesuiten? Der hatte nämlich in seiner Rede vom „toten Punkt“ auf die Bedeutung der diakonalen Dimension der Kirche abgehoben und seine Haltung schlussendlich mit dem Martyrium bezahlt.
Wieso sind die Ausleger so irritiert über die blumige Sprache eines Papstes aus Argentinien, der offenkundig ein sehr persönliches Schreiben an einen konkreten Adressaten formuliert hat. Das ist jetzt öffentlich geworden. Aber es ist dadurch immer noch nicht für uns, für die Allgemeinheit bestimmt, sondern an einen, den er im Singular wertschätzend als „lieber Bruder“ anspricht. Er schreibt nicht in der offiziellen Amtssprache der Kirche, sondern in seiner Muttersprache Spanisch. Wird damit nicht schon deutlich, dass es hier eben nicht um ein lehramtliches Schreiben geht, das nun für alle gültig sein soll? Die ganze Diktion im Schreiben ist doch persönlich, freundlich und fürsorglich auf den konkreten Adressaten ausgerichtet. Was soll da die immer wieder zu hörende Verbrämung, in dem Schreiben komme die jesuitische Prägung des Papstes zum Vorschein, seine Dialektik, etwas zu sagen und anderes zu meinen? Im Gegenteil: Der Papst spricht doch ganz offen aus, worum es ihm geht:
„Es gefällt mir, wie Du den Brief beendest: ‚Ich bin weiterhin gerne Priester und Bischof dieser Kirche und werde mich weiter pastoral engagieren, wo immer Sie es für sinnvoll und gut erachten. Die nächsten Jahre meines Dienstes würde ich gerne verstärkt der Seelsorge widmen und mich einsetzen für eine geistliche Erneuerung der Kirche, wie Sie es ja auch unermüdlich anmahnen‘.
Und genau das ist meine Antwort, lieber Bruder. Mach weiter, so wie Du es vorschlägst, aber als Erzbischof von München und Freising. Und wenn Du versucht bist, zu denken, dass dieser Bischof von Rom (Dein Bruder, der Dich liebt), indem er Deine Sendung bestätigt und Deinen Rücktritt nicht annimmt, Dich nicht versteht, dann denk an das, was Petrus im Angesicht des Herrn hörte, als er ihm auf seine Weise seinen Verzicht anbot: ‚Geh weg von mir, denn ich bin ein Sünder‘ – und die Antwort hörte ‚Weide meine Schafe‘.“3)
Was er geschrieben hat, hat er geschrieben
Der Papst weiß offenkundig, dass der Kardinal eine andere Antwort erwartet hat. Er aber nimmt den Rücktritt nicht an, sondern ermahnt ihn, das zu sein, was er sein will: Ein Seelsorger. Genau dem aber würde er fliehen, wenn er zurücktreten würde. Ein Rücktritt ist eben nicht immer ein symbolischer Akt der Übernahme von Verantwortung. Es ist ein wenig wie bei der Erzählung des Besessenen von Gerasa (vgl. Mk 5,1-20parr)4)): Bei ihm handelt es sich offenkundig um einen Kollaborateur mit den römischen Besatzern, der sich wohl mit seiner Familie überworfen hat. Ihn lässt Jesus nicht nachfolgen; sein Auftrag ist ein anderer: er muss zu seiner Familie zurück, um dort seine Verantwortung übernehmen. Die direkte Nachfolge wäre da eher eine Flucht gewesen …
Genau das aber schreibt Papst Franziskus, wenn er Kardinal Marx explizit an seine Sendung erinnert: Lauf nicht weg, sondern bleib und stell dich der Verantwortung in deinem Bistum. Da gibt es einiges zu tun – Aufklärung und Aufarbeitung der eigenen Verantwortung – nicht nur symbolisch, sondern konkret, Hören der Betroffenen (etwa in der Katholischen Integrierten Gemeinde), Aufräumen. Nach Papstart bildlich gesprochen heißt das: Der Kapitän verlässt nicht als erster ein sinkendes Schiff. Das ist anderen Geschöpfen vorbehalten. Die eingebrockte Suppe muss jetzt gelöffelt werden. Also Butter bei die Fische!
Das alles liegt offen vor Augen. Er hat es geschrieben. Klar und deutlich. Warum also sollte man da zwischen Zeilen das Ungesagte suchen, während das Eigentliche offenkundig vor Augen liegt. Klar: Es ist nicht das, was die üblichen Auguren aus den episkopalen Innereien gelesen haben und worauf vielleicht die eine oder andere Wette abgeschlossen wurde. Es ist immer ein Fehler, nur das sehen zu wollen, was man sehen möchte. Man betrügt sich dann selbst um den Genuss der Irritation die zu überraschenden Erkenntnissen führt. Und deshalb darf man hier auch den zweiten Fehler nicht begehen: Das Schreiben des Papstes an Kardinal Marx ist vor allem eines – persönlich! Ob man daraus schon auf seine Entscheidungen bzgl. anderer (Erz-)Bischöfe schließen kann? Möglich – aber eben nicht zwingend! Nur eines ist gewiss: Dieser Papst ist immer für eine Überraschung gut. Schaut also hin. Nehmt und lest – in den Zeilen!
Bildnachweis
Titelbild: Read between the lines (techchick94) – Quelle: flickr – lizenziert als CC BY 2.0.
Bild 1: Rauch (FreeCreativeStuff) – Quelle: Pixabay – lizenziert mit der Pixabay License.
Einzelnachweis
1. | ↑ | Der Brief ist im Original in spanischer Sprache verfasst. Eine deutsche Übersetzung mit dem Datum vom 10.6.2021 bietet die Plattform „Vatican News“ unter https://www.vaticannews.va/de/papst/news/2021-06/papst-franziskus-kardinal-marx-wortlaut-brief-antwort-deutsch.html [Stand: 20. Juni 2021]. Das vorangehende Schreiben von Reinhard Kardinal Marx an Papst Franziskus mit Datum vom 21.5.2021 findet sich unter https://www.erzbistum-muenchen.de/cms-media/media-55270120.PDF [Stand: 20. Juni 2021]. |
2. | ↑ | Siehe hierzu https://www.erzbistum-muenchen.de/cms-media/media-55270220.PDF [Stand: 20. Juni 2021]. |
3. | ↑ | Brief von Papst Franziskus an Kardinal Marx, 10.6.2021 – Quelle: https://www.vaticannews.va/de/papst/news/2021-06/papst-franziskus-kardinal-marx-wortlaut-brief-antwort-deutsch.html [Stand: 20. Juni 2021]. |
4. | ↑ | Vgl. hierzu Werner Kleine, Das Opium der Zweifler, Dei Verbum, 17.10.2017 – Kapitel „Wunderbare Normalität“ (direkter Link: https://www.dei-verbum.de/das-opium-der-zweifler/#scrollNav-8 |
Es wurde höchste Zeit, mal wieder daran zu erinnern. Deshalb: Klasse und auf den Punkt! Es ist doch genau das Problem unserer kirchlichen Situation, dass nämlich alle Protagonisten grundsätzlich alles nur durch ihre ideologische Brille sehen und beurteilen – und das als Wille Gottes verkaufen. Über diese Scheuklappen hinaus wird partout nicht mehr geschaut. Interessanterweise auch bei den Jesuiten, die diesen Brief (natürlich todsicher richtig) in der Öffentlichkeit gedeutet haben.