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Laut ist es – laut und leidenschaftlich. Ein jüdisches Lehrhaus ist kein Ort frömmelnder Besinnung. Es ist ein Ort der leidenschaftlichen Suche nach dem Weg der Wahrheit. Die Sehnsucht nach der Wahrheit lehrt, die Möglichkeit des eigenen Irrtums anzuerkennen. Die anderen, die mir widersprechen, könnten näher an der Wahrheit sein. Aber vielleicht sind sie auch im Irrtum. Es ist der Respekt, der den Streit gebietet – der Respekt vor der Wahrheit.
Wahrhaftig, das jüdische Volk lehrt die leidenschaftliche Suche nach der Wahrheit. Der Talmud legt davon Zeugnis ab. Er besteht aus der Mischna und ihrer Diskussion, der Gemara. Die Mischna beschreibt die mündliche Lehre der jüdischen Tradition, die selbst in neuen Zeiten immer wieder neuer Interpretationen bedurfte. Es ist bemerkenswert, dass der Talmud die Diskussion der Interpretation selbst dokumentiert. Es ist die Diskussion und die ihr eigene respektgebietende Dialektik von Meinung und Gegenmeinung, die immer tiefer in die Wahrheit führt, ohne dass die Wahrheit selbst gänzlich erfasst würde:
„Den Talmud kann man nicht einfach nur lesen, den Talmud muß man lernen um einen Einblick in dieses faszinierende Feld zu bekommen. Je mehr man vom Talmud weiß, desto mehr Fragen stellen sich noch.“1)
Wer auch immer sich mit dem Wort Gottes beschäftigt, kommt an diesem kreativen Streit nicht vorbei. Aus diesem Grund treibt es den Autoren dieses Beitrages zu einer respektvollen Replik auf den Dei-Verbum-Beitrag „Bedrängt, verfolgt, aber nicht allein gelassen“ des geschätzten Kollegen Till Magnus Steiner.
Dei verbum con passione
Das Wort Gottes erklingt in jeder Zeit neu. Es bleibt dasselbe Wort, dessen Grundton in den zeitlichen Obertönen immer wieder neu lebendig wird. Die Bibel beinhaltet dieses durch Menschen nach Menschenart verfasste Wort Gottes2), das im Leben der Menschen selbst immer wieder neu Gestalt annehmen muss. Aus diesem Grund kann man den Sinn der Bibel auch nicht ein für allemal fixieren. Wer hier einen Schriftsinn in Stein meißeln möchte, schafft nicht nur todlangweilige Monokulturen; er muss sich auch wie einst die Korinther von Paulus anfragen lassen:
Fangen wir schon wieder an, uns selbst zu empfehlen? Oder brauchen wir – wie gewisse Leute – Empfehlungsschreiben an euch oder von euch? Unser Empfehlungsschreiben seid ihr; es ist eingeschrieben in unser Herz und alle Menschen können es lesen und verstehen. Unverkennbar seid ihr ein Brief Christi, ausgefertigt durch unseren Dienst, geschrieben nicht mit Tinte, sondern mit dem Geist des lebendigen Gottes, nicht auf Tafeln aus Stein, sondern – wie auf Tafeln – in Herzen von Fleisch.
Herzen von Fleisch (griechisch: καρδία σάρκινη – gesprochen: kardía sárkine) – das Bild allein assoziiert schon Leidenschaft. Paulus meint zwar die Herzen der Korinther. Diese Herzen konnte er aber nur erreichen, weil er selbst das Wort Gottes mit Leidenschaft verkündete:
Wir verkündigen nämlich nicht uns selbst, sondern Jesus Christus als den Herrn, uns aber als eure Knechte um Jesu willen. Denn Gott, der sprach: Aus Finsternis soll Licht aufleuchten!, er ist in unseren Herzen aufgeleuchtet, damit wir erleuchtet werden zur Erkenntnis des göttlichen Glanzes auf dem Antlitz Christi.
Das Wort Gottes soll in Fleisch und Blut übergehen. Es wird eins mit denen, die sich von ihm ergreifen lassen. Wer so vom Wort Gottes ergriffen wird, der kann nicht mehr schweigen, sondern muss es con passione – mit Leidenschaft – verkünden. So berichtet die Apostelgeschichte von der Aussage des Petrus und des Johannes vor dem Hohen Rat:
Wir können unmöglich schweigen über das, was wir gesehen und gehört haben.
Freimut ist der Christen Haltung
Man hatte sie nach Auskunft der Apostelgeschichte vor den Hohen Rat gebracht, weil Führer des jüdischen Volkes – Lukas spricht in der Apostelgeschichte von den Priestern, dem Tempelhauptmann und den Sadduzäern (vgl. Apostelgeschichte 4,1) – aufgebracht waren,
weil die Apostel das Volk lehrten und in Jesus die Auferstehung von den Toten verkündeten.
Es folgt die Schilderung des Verhörs der beiden Apostel (vgl. Apostelgeschichte 4,5-12). Petrus und Johannes aber beeindrucken die Gegner:
Als sie den Freimut des Petrus und des Johannes sahen und merkten, dass es ungelehrte und einfache Leute waren, wunderten sie sich. Sie erkannten sie als Jünger Jesu, sahen aber auch, dass der Geheilte bei ihnen stand; so konnten sie nichts dagegen sagen.
Bei dem Geheilten handelt es sich um einen Gelähmten, von dessen Heilung in Apostelgeschichte 3,1-10 berichtet wird. Sie ist Anlass für eine Rede des Petrus, die in Apostelgeschichte 3,11-26 überliefert ist. Jene Rede wird dann zum Anlass des Verhörs.
Bemerkenswert an der Stelle ist das Gegenüber der Haltung von Petrus und Johannes auf der einen und der der Verhörer auf der anderen Seite. Letztere sind beeindruckt von der παρρησία (gesprochen: parrhesía), dem Freimut der beiden Apostel. Sie selbst aber sehen sich angesichts deren freimütigen Bekenntnisses zum Schweigen verurteilt. Das wird noch durch die Betonung gesteigert, dass die Apostel doch eigentlich ungelehrte und einfache Leute sind, die aufgrund ihres Freimutes den theologisch Gelehrten überlegen sind. Sie müssen sie ziehen lassen, nicht ohne ihnen ohnmächtig zu drohen:
Jene aber drohten ihnen noch mehr und ließen sie dann gehen; denn sie sahen keine Möglichkeit, sie zu bestrafen, mit Rücksicht auf das Volk, da alle Gott wegen des Geschehen priesen. Denn der Mann, an dem das Wunder der Heilung geschah, war über vierzig Jahre alt.
Leidenschaft schafft Leiden
Wer ἐν παρρησία (gesprochen: en parrhesía) – mit Freimut – für die Wahrheit des Wortes Gottes eintritt, der kann das nur mit Leib und Seele tun, oder gar nicht. Es ist eine Leidenschaft, die man nicht erlernen kann. Man wird von ihr ergriffen. Das gilt auch für Paulus:
Wenn ich nämlich das Evangelium verkünde, kann ich mich deswegen nicht rühmen; denn ein Zwang liegt auf mir. Weh mir, wenn ich das Evangelium nicht verkünde! Wäre es mein freier Entschluss, so erhielte ich Lohn. Wenn es mir aber nicht freisteht, so ist es ein Auftrag, der mir anvertraut wurde. Was ist nun mein Lohn? Dass ich das Evangelium unentgeltlich verkünde und so auf mein Recht verzichte.
Ganz so selbstlos ist Paulus dann aber doch nicht. Denn wenige Verse später führt er aus:
Wisst ihr nicht, dass die Läufer im Stadion zwar alle laufen, aber dass nur einer den Siegespreis gewinnt? Lauft so, dass ihr ihn gewinnt. Jeder Wettkämpfer lebt aber völlig enthaltsam; jene tun dies, um einen vergänglichen, wir aber um einen unvergänglichen Siegeskranz zu gewinnen. Darum laufe ich nicht wie einer, der ziellos läuft, und kämpfe mit der Faust nicht wie einer, der in die Luft schlägt; vielmehr züchtige und unterwerfe ich meinen Leib, damit ich nicht anderen predige und selbst verworfen werde.
Das hört sich nicht nach Leidenssehnsucht an, wohl aber nach Leidenschaft, die das Leiden zur Erreichung des Zieles nicht scheut. Jeder Sportler weiß, dass er nur per aspera ad astra, nur durch Schweiß zu den Sternen, kommen wird.
Begleiterscheinungen
Bereits hier wird deutlich, dass die These, das Christ-Sein, das Paulus erlebt und lebt, sei wenig glorreich3), so nur schwer zu halten ist. Im Gegenteil: Paulus sieht das Christ-Sein als äußerst glorreich an. Er kann sogar Gott dankend davon sprechen, am Triumphzug Christi teilzunehmen:
Dank sei Gott, der uns stets im Siegeszug Christi mitführt und durch uns den Duft der Erkenntnis Christi an allen Orten verbreitet.
Das vorangestellte „Dank sei Gott“ (griechisch: τῷ δὲ θεῷ χάρις – gesprochen: tô dè theô cháris) zeigt die Emphase, die Leidenschaft, mit der Paulus hier spricht. Er weiß, dass seine Existenz einem Siegeszug gleicht. Gleichwohl weiß er um die Begleiterscheinungen. Wer den Sieg anstrebt, darf den Kampf nicht scheuen. Wer den Kampf nicht scheut, darf sich nicht über Blessuren wundern. Wie sehr Paulus sich dessen bewusst ist, führt er wenige Verse später aus:
Diesen Schatz4) tragen wir in zerbrechlichen Gefäßen; so wird deutlich, dass das Übermaß der Kraft von Gott und nicht von uns kommt. Von allen Seiten werden wir in die Enge getrieben und finden doch noch Raum. Wir wissen weder aus noch ein und verzweifeln dennoch nicht; wir werden gehetzt und sind doch nicht verlassen; wir werden niedergestreckt und doch nicht vernichtet. Wohin wir auch kommen, immer tragen wir das Todesleiden Jesu an unserem Leib, damit auch das Leben Jesu an unserem Leib sichtbar wird. Denn immer werden wir, obgleich wir leben, um Jesu willen dem Tod ausgeliefert, damit auch das Leben Jesu an unserem sterblichen Fleisch offenbar wird. So erweist an uns der Tod, an euch aber das Leben seine Macht. Doch haben wir den gleichen Geist des Glaubens, von dem es in der Schrift heißt: Ich habe geglaubt, darum habe ich geredet. Auch wir glauben und darum reden wir.
Paulus kennt das Leid. Daran besteht kein Zweifel. Aber das Leid ist kein zwingender Wesensbestandteil seines Christ-Seins. Es ist eher eine Begleiterscheinung, die er um der Wahrheit willen in Kauf nehmen muss, wie etwa das Erleben von Schiffbrüchen während seiner Missionsreisen:
Dreimal habe ich Schiffbruch erlitten, einen Tag und eine Nacht trieb ich auf dem tiefen Meer.
Paulus strebt das Leid nicht an. Wenn es aber darum geht, es um seines Auftrages willen zu erdulden, dann weicht er nicht. Seine Motivation liegt in dem Ziel, das ihm vor Augen steht:
Denn wir wissen, dass der, welcher Jesus, den Herrn, auferweckt hat, auch uns mit Jesus auferwecken und uns zusammen mit euch vor sich stellen wird. Alles tun wir euretwegen, damit immer mehr Menschen aufgrund der überreich gewordenen Gnade den Dank vervielfachen, Gott zur Ehre.
Paulus ist also nicht so selbstlos, wie er es noch in 1 Korinther 9,18 behauptet hatte. Sein Lohn ist ihm gewiss (vgl. das betont 2 Korinther 4,14 am Anfang stehende εἰδότες – gesprochen eidótes). Diese Heilsgewissheit lässt ihn die Widrigkeiten, die sich aus seinem Verkündigungsauftrag ergeben, ertragen. Mehr noch: Die kleinen und großen Leiden sind nichts als lästige Begleiterscheinungen:
Darum werden wir nicht müde; wenn auch unser äußerer Mensch aufgerieben wird, der innere wird Tag für Tag erneuert. Denn die kleine Last unserer gegenwärtigen Not schafft uns in maßlosem Übermaß ein ewiges Gewicht an Herrlichkeit.
Steine im Glashaus
Man wird Paulus nicht gerecht, wenn man die ihm eigene Leidenschaft nicht beachtet. Wer mit Leidenschaft für seine Sache eintritt, darf sich nicht über Widerstand wundern. Auch Paulus ist das so ergangen. Er selbst berichtet von seinem leidenschaftlichen Eifer, wenn er etwa mit Petrus angesichts dessen merkwürdig inkonsequenten Verhaltens in der Fragen der Gemeinschaft von Heiden- und Judenchristen wohl eher handfeste Argumente austauscht:
Als Kephas6) nach Antiochia gekommen war, widerstand ich ihm ins Angesicht, denn es war Grund zur Klage gegen ihn.
Und auch im 2. Korintherbrief kommt er auf seine besondere Art der Verkündigung zu sprechen:
Wenn wir nämlich außer uns waren, so war es für Gott; sind wir aber besonnen, geschieht es für euch.
Das Außer-sich-Sein beschreibt das griechische Wort ἐξέστημεν (gesprochen: exéstemen). Es meint ein „Von-Sinnen-Sein“. Die Leidenschaft des Paulus ist wohl immens gewesen. Der „Zwang der Liebe Christi“ ist es, der ihn dazu drängt (vgl. 2 Korinther 5,14). Das macht ihn kompromisslos und führt zu Provokationen, die Gegenreaktionen bewirken. In Korinther etwa scheint die Situation nicht zuletzt wegen dieser paulinischen Eigenart eskaliert zu sein:
Ich entschloss mich also, nicht noch einmal zu euch zu kommen und euch zu betrüben. Wenn ich euch nämlich betrübe, wer wird mich dann erfreuen? Etwa der, den ich selbst betrübt habe? Und so schrieb ich, statt selber zu kommen, einen Brief, um nicht von denen betrübt zu werden, die mich erfreuen sollten; und ich bin sicher, dass meine Freude auch die Freude von euch allen ist. Ich schrieb euch aus großer Bedrängnis und Herzensnot, unter vielen Tränen, nicht um euch zu betrüben, nein, um euch meine übergroße Liebe spüren zu lassen.
Im Hintergrund steht eine Umdisponierung der paulinischen Besuchspläne, die in Zusammenhang mit einer von ihm veranstalteten Kollekte für die Jerusalemer Urgemeinde stehen7). Hier verwendet Paulus unter anderem den Begriff θλίψις (gesprochen: thlípsis – Bedrängnis). Er bezeichnet hier keine manifeste Bedrohung von außen, sondern den Konflikt mit der Gemeinde. Die Bedrängnisse, die Paulus erlebt, ergeben sich als Folge auch seines Verhaltens. Wenn er so provokativ in Synagogen predigte, wird eine entsprechend motivierte Reaktion, wie sie im Hintergrund von Römer 8,31-39 oder etwa 2 Korinther 11,24f stehen, nicht lange auf sich wartenlassen. Sie waren sicher keine umfassenden Verfolgungen, sondern ergaben sich als Folge seines eigenen provokativ-leidnschaftlichen Verhaltens.
Im konkreten Fall ist der Konflikt wohl in einer persönlichen Reaktion eines nicht näher genannten Gemeindemitgliedes (τις – gesprochen: tis, „ein gewisser, jemand, einer“ – 2 Korinther 2,5) eskaliert, auf die Paulus selbst beleidigt reagiert hat und überstürzt abgereist ist:
Wenn aber einer Betrübnis verursacht hat, hat er nicht mich betrübt, sondern mehr oder weniger – um nicht zu übertreiben – euch alle. Die Strafe, die dem Schuldigen von der Mehrheit auferlegt wurde, soll genügen. Jetzt sollt ihr lieber verzeihen und trösten, damit der Mann nicht von allzu großer Traurigkeit überwältigt wird. Darum bitte ich euch, ihm gegenüber Liebe walten zu lassen. Gerade deswegen habe ich euch ja auch geschrieben, weil ich wissen wollte, ob ihr wirklich in allen Stücken gehorsam seid. Wem ihr aber verzeiht, dem verzeihe auch ich. Denn auch ich habe, wenn hier etwas zu verzeihen war, im Angesicht Christi um euretwillen verziehen, damit wir nicht vom Satan überlistet werden; wir kennen seine Absichten nur zu gut.
Paulus hat den Sieg errungen. Seine beleidigte Reaktion auf den Angriff hat zu einer Solidarisierung der Gemeinde mit ihm geführt8). Einer Solidarisierung, die äußerst fragil ist. Die Bedrohung seiner Gemeinschaft mit der Gemeinde ist noch nicht beendet.
Der mit dem Leid prahlt
Der Konflikt zwischen der korinthischen Gemeinde, der den Hintergrund des kanonischen 2 Korintherbriefes bildet, ist noch lange nicht bereinigt. Nach einem ersten Schreiben, das in 2 Korinther 1-9 vorliegt, legt Paulus mit einem weiteren in 2 Korinther 10-13 überlieferten Brief nach9). Seine insgesamt eher versöhnlich argumentierende Strategie aus 2 Korinther 1-9 war wohl nicht so erfolgreich, wie er es sich gewünscht hat. Der Ton in 2 Korinther 10-13 verschärft sich. Die Leidenschaft, mit der er zu streiten bereit ist, kündigt sich bereits in 1 Korinther an:
Was zieht ihr vor? Soll ich mit dem Stock zu euch kommen oder mit Liebe und im Geist der Sanftmut?
Jetzt eröffnet er sein neues Schreiben ebenfalls mit drastischen, ja geradezu sarkastischen Worten:
Ich, Paulus, der ja im persönlichen Umgang mit euch so unterwürfig, aus der Ferne aber so unerschrocken sein soll, ich ermahne euch angesichts der Freundlichkeit und Güte Christi und bitte euch: Zwingt mich nicht, bei meinem Kommen so unerschrocken und fest aufzutreten, wie ich es gegen gewisse Leute zu tun gedenke, die meinen, wir verhalten uns wie Menschen dieser Welt. Wir leben zwar in dieser Welt, kämpfen aber nicht mit den Waffen dieser Welt. Die Waffen, die wir bei unserem Feldzug einsetzen, sind nicht irdisch, aber sie haben durch Gott die Macht, Festungen zu schleifen; mit ihnen reißen wir alle hohen Gedankengebäude nieder, die sich gegen die Erkenntnis Gottes auftürmen. Wir nehmen alles Denken gefangen, so dass es Christus gehorcht; wir sind entschlossen, alle Ungehorsamen zu strafen, sobald ihr wirklich gehorsam geworden seid.
Der Ton ist voller Leidenschaft und konfliktbereit. Dieser Paulus ist kein Lamm, dass sich freiwillig dem Leiden ergibt. Von hier aus sind dann auch die viel zitierten Leidensworte zu lesen, die sich im 2 Korinther 11f finden:
Ich erduldete Mühsal und Plage, durchwachte viele Nächte, ertrug Hunger und Durst, häufiges Fasten, Kälte und Blöße.
und
Dreimal habe ich den Herrn angefleht, dass dieser Bote Satans von mir ablasse. Er aber antwortete mir: Meine Gnade genügt dir; denn sie erweist ihre Kraft in der Schwachheit. Viel lieber also will ich mich meiner Schwachheit rühmen, damit die Kraft Christi auf mich herabkommt. Deswegen bejahe ich meine Ohnmacht, alle Misshandlungen und Nöte, Verfolgungen und Ängste, die ich für Christus ertrage; denn wenn ich schwach bin, dann bin ich stark.
Bei der Interpretation der Zitate ist darauf zu achten, dass Paulus selbst den gesamten Passus als Rede eines Narren kennzeichnet:
Noch einmal sage ich: Keiner soll mich für einen Narren halten. Tut ihr es aber och, dann lasst mich auch als Narren gewähren, damit auch ich ein wenig prahlen kann. Was ich hier sage, sage ich nicht im Sinn des Herrn, sondern sozusagen als Narr im falschen Stolz des Prahlers. Da viele Menschen im Sinn dieser Welt prahlen, will auch ich einmal prahlen. Ihr lasst euch die Narren ja gern gefallen, ihr klugen Leute.
Paulus tritt hier als unvernünftiger Narr auf (ἄφρονος – gesprochen: áphronos), der im lügnerischen Stolz prahlt. Die so gekennzeichnete folgende Narrenrede endet erst in 2 Korinther 12,10. Danach stellt Paulus fest:
Ich bin ein Narr geworden! Ihr habt mich dazu gezwungen.
Die Leidenszitate sind also Teil einer Prahlrede. Paulus übersteigert, er überzieht, er übertreibt maßlos. Er tut das, weil seine Gegner sich mit ihren Leiden gebrüstet haben. Er übertrifft sie. Die Kennzeichnung als Prahlrede aber macht deutlich, dass das Leid selbst kein erstrebenswerter Weg ist. Sich im Leid zu suhlen, ja mit dem Leid zu prahlen, ist absurde Narretei!
Mit Freimut und Solidarität gegen die Diktatur des Leides
Das Leid ist also keineswegs eine conditio sine qua non des Christseins. Im Gegenteil: Die christliche Existenz richtet sich gegen die Diktatur des Leides. Freilich ist es für diejenigen, die von dem Wort Gottes leidenschaftlich ergriffen wurden eine bisweilen unausweichliche Begleiterscheinung. Sie sind bereit, für die Wahrheit des Wortes Gottes zu streiten. Wer in den Streit tritt, wird vor Wunden nicht bewahrt werden. In solcher Standhaftigkeit bewährt sich der Glauben, ohne dass eine solche Bewährung zwingend zu suchen wäre. Man darf das Leid nicht mysti- oder glorifizieren; im Gegenteil – es ist nichts Wertvolles im Leid, wenn selbst Jesus Christus angesichts seines bevorstehenden Todes darum bittet:
Mein Vater, wenn es möglich ist, gehe dieser Kelch an mir vorüber.
dann aber hinzufügt:
Aber nicht wie ich will, sondern wie du willst.
Christen müssen das Leid nicht suchen. Ja, sie dürfen ihm aus dem Weg gehen. Aber sie dürfen dafür nicht die Wahrheit verraten. Denn das ist die Prägung des Christen: Die Wahrheit mit Freimut (παρρήσια) verkünden.
Dieser Freimut ist auch in diesen Tagen wieder gefragt: In Heidenau10), in Freital11), in den vielen Konflikten der Welt, in denen der mörderische Wahnsinn die Barbarei offenbart, zu denen Menschen fähig sind.
Es gibt sie noch, die freimütigen Christenfrauen und –männer. Es gibt sie, die den Mund nicht halten können und die Hände aus den Taschen nehmen, um solidarisch zu sein. Es gibt sie etwa in Wuppertal-Vohwinkel, wenn sich auch Christinnen und Christen der Gemeinde St. Mariä Empfängnis schützend zwischen den rechten Mob und ein neben der Pfarrkirche befindliches Flüchtlingswohnheim stellen. Man kann als Christin und als Christ angesichts des Leides, das Menschen Menschen zufügen, nicht schweigen. Lippenbekenntnisse alleine reichen da nicht. Und Gebete mit fromm geballter Faust verbergen die Wahrheit, wenn sich die betenden Hände nicht helfend öffnen. Gott will das Leid nicht, wie könnten Christen es dulden.
Freiheit braucht Mut, Freimut. Diese christliche Tugend prägte letztlich die wechselvolle Geschichte des Abendlandes. Schafft Europa angesichts des Leides vor der eigenen Haustür ein Bekenntnis zur eigenen Tradition? Voll sind jedenfalls nur die Boote im Mittelmeer!
Bildnachweis
Titelbild: Feuer, von Fir0002/Flagstaffotos (eigenes Werk) – Lizenziert unter CC By-NC unter Wikimedia Commons.
Bild 1: Ein Blatt aus dem Talmud – Lizenziert als gemeinfrei unter Wikimedia Commons.
Bild 2: Die Missionsreisen des Paulus – Janz (eigenes Werk) – Lizenziert unter CC BY-SA 3.0 Unported unter Wikimedia Commons
Bild 3: Game over – der-Begnadete / photocase.de – Lizenziert unter Photocase Basislizenz
Bild 4: Betende Hände – Christoph Schönbach – All rights reserved. Wir danken für die freundliche Nutzungsgenehmigung.
Einzelnachweis
1. | ↑ | http://www.talmud.de/tlmd/was-ist-der-talmud/ [Stand: 23.8.2015]. |
2. | ↑ | Vgl. hierzu Zweites Vatikanisches Konzil, Dogmatische Konstitution „Dei Verbum“ über die göttliche Offenbarung, Nr. 12. (http://www.vatican.va/archive/hist_councils/ii_vatican_council/documents/vat-ii_const_19651118_dei-verbum_ge.html [Stand: 23.8.2015]). |
3. | ↑ | Vgl. Till Magnus Steiner, Bedrängt, verfolgt, aber nicht allein gelassen, Kapitel „Bedrängnis, Not und Verfolgung …“ |
4. | ↑ | Gemeint ist der Auftrag der Verkündigung Jesu Christi als des Herrn – vgl. die weiter oben bereits zitierten Verse 2 Korinther 4,5f). |
5. | ↑ | Zur Einordnung dieses Verses in den gesamten Textzusammenhang der „Narrenrede“ siehe weiter unten (Kapitel „Der mit dem Leid prahlt“). |
6. | ↑ | Kephas ist der hebräische Name für Petrus. |
7. | ↑ | Vgl. hierzu auch den Dei-Verbum-Beitrag: Der Umgang mit Geld und das Neue Testament |
8. | ↑ | Vgl. zu diesem sogenannten „korinthischen Vorfall“ auch W. Kleine, Zwischen Furcht und Hoffnung. Eine textlinguistische Untersuchung des Briefes 2 Kor 1-9 zur wechselseitigen Bedeutsamkeit zwischen Apostel und Gemeinde (BBB 141), Berlin 2002, S. 54-56. |
9. | ↑ | Zur literarkritischen Diskussion um 2 Korinther siehe ebd., S. 37-48. |
10. | ↑ | Vgl. hierzu etwa: http://www.sueddeutsche.de/politik/krawalle-in-heidenau-wieso-bringt-man-fluechtlinge-in-einer-stadt-wie-dieser-unter-1.2618631 [Stand: 24.8.2015]. |
11. | ↑ | Vgl. hierzu: http://www.sueddeutsche.de/politik/proteste-gegen-fluechtlinge-in-freital-wo-der-mob-skandiert-1.2537601 [Stand: 24.8.2015]. |
Danke für diesen klaren Text!