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Die Theologie gleicht bisweilen in fataler Weise dem Finanzwesen. Der inflationäre Gebrauch einstmals theologisch gehaltvoller Begriffe entwertet diese. Die Worthülse taugt dann bestenfalls als moralisches Argument, das ob seiner Traditionsbewehrtheit niemand recht in Frage stellen mag. Dabei glaubt jeder zu wissen, was sich hinter der äußeren Hülle eines Wortes an Inhalt verbirgt, ohne dass das näher reflektiert würde.
Das Christentum kennt viele solcher Begriffe, die die Theologen auch heute noch gerne im Munde führen, ohne dabei Rechenschaft über deren Bedeutung abzulegen und sie in das moderne Sprachbewusstsein hinein zu übersetzen. Letzteres wäre Sinn und Zweck der Tradition. Aber auch dieser aus dem lateinischen stammende Begriff, der in seiner Wortbedeutung (Über-)Lieferung bedeutet, ist längst zur Hülse erstarrt. Wer heute Tradition sagt, meint nicht den eigentlich so bezeichneten dynamischen Prozess, sondern einen statisch fixierten Zustand. Andere wichtige theologische Begriffe teilen dieses Schicksal: Gnade, Sünde, Erlösung und Gerechtigkeit. In der Gegenwart ist auch die Barmherzigkeit von der Gefahr der inhaltlichen Entleerung aufgrund inflationären Gebrauchs bedroht.
Nichts für zarte Seelen
Der Begriff der Barmherzigkeit ist nicht erst durch die Eröffnung des Heiligen Jahres durch Papst Franziskus am 8. Dezember 2015 in aller Munde. Die Barmherzigkeit wird auch das ganze Heilige Jahr mehr als präsent sein und immer wieder für alles und jedes bemüht werden. Das Heilige Jahr wird schließlich selbst als „Jubiläum der Barmherzigkeit“1) bezeichnet. Bereits jetzt häufen sich die Reflexionen über das Verhältnis von Barmherzigkeit und Gnade, von Barmherzigkeit und Gerechtigkeit, von Barmherzigkeit und Sünde, ja von Barmherzigkeit und Erlösung. Eine Hyperinflation droht2).
Dabei erscheint der Begriff der Barmherzigkeit einigermaßen widerspenstig. Er steht dem modernen Gerechtigkeitsempfinden im Weg. So verwundert es nicht, dass die an der Universität Münster lehrende Professorin Dorothea Sattler wenige Tage nach der lange erwarteten Aussage von Beate Zschäpe im Münchener NSU-Prozess3) die Frage stellt:
Was passierte, wenn Beate Zschäpe durch die Heilige Pforte ginge?4)
Das ist in der Tat eine das Gerechtigkeitsempfinden herausfordernde Fragestellung, bedeutet doch das dreifache Durchscheirten der Pforte nach mittelalterlichem Brauch den Nachlass von Sündenstrafen5). Die Theologie behauptet ja in der Tat eine Grenzenlosigkeit der Barmherzigkeit Gottes, die auch Papst Franziskus in seiner Ansprache anlässlich des Angelusgebetes am 13. Dezember 2015 betont:
„Keine Kategorie von Menschen ist davon [von der Möglichkeit des Heils, WK] ausgeschlossen, den Weg der Umkehr zu gehen und das Heil zu erlangen, nicht einmal die Zöllner, die als Sünder schlechthin angesehen wurden.“ Gott sei begierig danach „jeden in die zärtliche Umarmung der Versöhnung und der Vergebung aufzunehmen“.6)
Der Widerspenstigen Zähmung
Wenn das barmherzige Heilsangebot wirklich allen gilt, dann gilt es auch für Beate Zschäpe. Das ist in der Tat nichts für zarte Seelen. Tatsächlich versucht auch manch einer, die Widerspenstigkeit der Barmherzigkeit umgehend zu zähmen. So findet sich in einem Facebook-Kommentar zu dem schon zitierten Katholisch.de-Kommentar von Dorothea Sattler folgende Einlassung:
„Barmherzigkeit setzt Reue und Umkehr voraus. ‚Sogar’ Jesus (nicht nur die kirchliche Lehre)zeigt dies im Gleichnis der Sünderin auf. ‚Keiner hat Dich verurteilt? Dann werde auch ich Dich nicht verurteilen. Geh ihn und sündige fortan nicht mehr…’.
ABER wer mir weiß machen möchte, dass diese Frau bereut, den lache ich rundrum aus. Geschweige denn Umkehr, die ja nicht nur in den Werken sondern auch in den Gedanke zu geschehen hat. Nun – angesichts dieser Überlegungen wird wohl deutlich, wie es mit der Barmherzigkeit aussieht….“7)
Die Widerspenstigkeit der Barmherzigkeit muss offenkundig gezähmt werden. Eine bindungslose Barmherzigkeit ist so unerhört, dass sie vor allem die Frommen auf eine unerhörte Weise zu empören scheint. Barmherzigkeit kann es dann nur nach vorgängiger Reue und Umkehr geben. Und nicht selten wird – wie hier – die Begegnung Jesu mit der Ehebrecherin ins Feld geführt, die in Johannes 7,53-8,11 überliefert ist. Das ist Anlass genug, den Text hier bei Dei Verbum einer genaueren Betrachtung zu unterziehen.
Der Text
Dann gingen alle nach Hause. Jesus aber ging zum Ölberg. Am frühen Morgen begab er sich wieder in den Tempel. Alles Volk kam zu ihm. Er setzte sich und lehrte es. Da brachten die Schriftgelehrten und die Pharisäer eine Frau, die beim Ehebruch ertappt worden war. Sie stellten sie in die Mitte und sagten zu ihm: Meister, diese Frau wurde beim Ehebruch auf frischer Tat ertappt. Mose hat uns im Gesetz vorgeschrieben, solche Frauen zu steinigen. Nun, was sagst du? Mit dieser Frage wollten sie ihn auf die Probe stellen, um einen Grund zu haben, ihn zu verklagen. Jesus aber bückte sich und schrieb mit dem Finger auf die Erde. Als sie hartnäckig weiterfragten, richtete er sich auf und sagte zu ihnen: Wer von euch ohne Sünde ist, werfe als Erster einen Stein auf sie. Und er bückte sich wieder und schrieb auf die Erde. Als sie seine Antwort gehört hatten, ging einer nach dem anderen fort, zuerst die Ältesten. Jesus blieb allein zurück mit der Frau, die noch in der Mitte stand. Er richtete sich auf und sagte zu ihr: Frau, wo sind sie geblieben? Hat dich keiner verurteilt? Sie antwortete: Keiner, Herr. Da sagte Jesus zu ihr: Auch ich verurteile dich nicht. Geh und sündige von jetzt an nicht mehr!
Eine Frucht der Tradition
Wer einem Text exegetisch begegnet, richtet zu Beginn verschiedene Fragen an den Text: Liegt der Text in seiner ursprünglichen Gestalt vor? Ist er einheitlich? Um welche Gattung handelt es sich? Es sind die Fragen der sogenannten Textkritik, Literarkritik und Gattungskritik.
Bei der textkritischen Fragestellung fällt zuerst auf, dass die alten Textzeugen die Perikope gar nicht kennen. Sie taucht erst in Textüberlieferungen ab dem 3. Jahrhundert auf.
Der textkritische Befund sagt noch nichts über die Ursprünglichkeit des Textes aus. Es kann durchaus sein, dass die Perikope bei den heute bekannten alten Zeugen ausgelassen wurde, weil sie als zu schwer verständlich galt. Gleichwohl stellt der Befund die Frage nach der Einheitlichkeit des Gesamttextes. Die textkritische Beobachtung wird allgemein so interpretiert, dass es sich bei der Erzählung von der Begegnung Jesu mit der Ehebrecherin um eine spätere Einfügung, eine sogenannte Interpolation, in den textlichen Zusammenhang des Johannesevangeliums handelt. Tatsächlich scheint die Erzählung den textlichen Zusammenhang von Johannes 7,52 und Johannes 8,12 zu unterbrechen. Johannes 7,52 schließt die Diskussionen im Volk und im Hohen Rat über das Wesen des Jesus von Nazareth mit der lapidaren Bemerkung der Gegner Jesu ab:
Forsche und siehe, dass aus Galiläa ein Prophet nicht kommt.
Dem steht das Apodiktum Jesu in Johannes 8,12 als Antwort gut entgegen:
Da sprach Jesus wieder zu ihnen und sagte: Ich bin das Licht der Welt. Wer mir nachfolgt, der wird nicht in Finsternis umhergehen, sondern er wird das Licht des Lebens haben.
Auch der literarkritische Befund spricht also für eine spätere Einfügung der Erzählung von Jesus und der Ehebrecherin.
Nichts desto trotz sehen einige Exegeten in dem Textabschnitt eine alte und bedeutsame Überlieferung. Das ist durchaus möglich, denn die Erzählung als solche passt sehr gut zum Handeln und Reden Jesu. Unabhängig davon, ob sie historisch ist oder nicht – es besteht aufgrund der sonstigen Überlieferung der Evangelien kein Zweifel daran, dass sie sich durchaus ereignet haben könnte. So oder so: Der Text verdankt seinen Platz an der heutigen Stelle dem Prozess der Überlieferung. Er ist eine Frucht lebendiger Tradition.
Im Textganzen steht die Erzählung nun zwischen den Auseinandersetzungen um die Person Jesus, die im Volk und im Hohen Rat geführt werden und der jesuanischen Selbstdefinition als dem Licht der Welt. Sie nimmt so die Funktion einer Beispielerzählung an, die das theologische Reflektieren einem Praxistext unterzieht.
Dafür ist vor allem die Beachtung der Gattung wichtig. Es handelt sich bei dem Text eben nicht um ein Gleichnis, sondern um einen Erzähltext.
Orte ...
Als Methode für die exegetische Betrachtung von Erzählungen bietet sich die Erzähltextanalyse an. Dabei werden vor allem die handelnden Personen, ihre Handlungen, ihre Stellung zueinander und die Orte der Handlung analysiert. Auch die innere Dramaturgie des Textes ist von Bedeutung.
Es fällt zuerst auf, dass die ersten drei Verse des Textes verschiedene Ortsangaben beinhalten:
Dann gingen alle nach Hause. Jesus aber ging zum Ölberg. Am frühen Morgen begab er sich wieder in den Tempel.
Der Text schließt im griechischen Original mit καί (gesprochen: kaí – „und“) an den vorhergehenden Text an. Wörtlich übersetzt beschreibt der erste Vers sogar, dass jeder in sein eigenes Haus ging. Die vorangehende Auseinandersetzung ist beendet. Jeder zieht sich in das Eigene zurück8). Jesus aber geht zum Ölberg – ein Ort, den er am frühen Morgen schon wieder verlässt und sich zum Tempel begibt.
Es ist davon auszugehen, dass die Anmerkungen kaum zufällig sind. Der Ölberg ist in der christlichen Bildwelt ein hoch aufgeladener Ort. Hier weint er über Jerusalem (vgl. Lukas 19,41-44), hier betet er vor seiner Gefangennahme, hier wird er verhaftet (vgl. Matthäus 26,36-56 parr), hier fährt er nach seiner Auferstehung nach Lukas zum Himmel auf (vgl. Lukas 24,50) und von hier aus zieht er – ebenfalls nach Lukas – nach Jerusalem ein (vgl. Lukas 19,28-40).
Auch Johannes beschreibt in wenigen Worten, wie Jesus vom Ölberg aus zum Tempel in Jerusalem zieht. Der Ölberg als Ort des Offenbarwerdens des Weges Jesu spielt also auch hier eine bedeutsame Rolle. Jesus geht nicht ohne Grund zum Ölberg. In dem, was nun geschieht, ereignet sich die Offenbarung der Botschaft Jesu. Und es ist der Tempel, der Ort, an dem die Herrlichkeit Gottes wohnt, wo sich diese selbst im Handeln und Reden Jesu offenbaren wird. Der Text hat die Hörerinnen und Leser zum Tempel geführt. Er bietet gerade aufgrund seiner theologischen Bedeutung die angemessene Kulisse für das folgende Geschehen.
... Personen ...
Der Text führt nun die handelnden Personen ein. Jesus wird bereits in Johannes 8,1 genannt. Hinzu kommt in Vers 2 das Volk, das zu ihm kommt, um seine Lehre zu hören.
In Vers 3 treten die Schriftgelehrten und Pharisäer auf. Sie bilden die großen Gruppen im Hohen Rat, der schon den Vorabschnitt geprägt hatte. Im griechischen Text beginnt der Vers relativ unvermittelt mit dem Wort ἄγουσιν (gesprochen: ágousin – „sie führten). Die plötzliche Handlung („sie führten“) steht in Kontrast zu dem in Vers 2 angesprochenen „Sitzen“ des Volkes und dessen hörendem Lernen. Der Text baut also eine Spannung auf, die noch durch das Objekt des Geführtwerdens gesteigert wird: eine einzelne Frau wird von der Männergruppe der Schriftgelehrten und Pharisäer vorgeführt.
Die Frau wird in Vers 3 als Ehebrecherin vorgestellt. Der Text betont dabei, dass die Männergruppe der Schriftgelehrten und Pharisäer die Frau in die Mitte stellt.
So ergibt sich folgende Szenerie: Auf der einen Seite eine eher ruhig wirkende Gruppe, der von Jesus und das um ihn sitzende und hörend lernende Volk gebildet wird. Dazu im starken Kontrast die Gruppe der Schriftgelehrten und Pharisäer. In der Mitte, dazwischen, allein, vielleicht einsam – die Frau, die beim Ehebruch auf frischer Tat ertappt wurde (vgl. Johannes 8,4).
Das vorgestellte Personal bildet die Szenerie eines Gerichtshofes. Auf der einen Seite die Ankläger und in der Mitte die Angeklagte, die allein steht, also offensichtlich keinen Verteidiger hat. Im Bild wird Jesus so bereits jetzt die Rolle des Richters zugewiesen, der im Angesicht des lernenden Volkes das Urteil zu sprechen hat.
... und Handlungen
Der Text lebt vom Kontrast ruhender Elemente und Momente höchst dynamischer Bewegung. Bereits der Textanfang ist davon geprägt. In wenigen Versen wird ein intensiver Ortswechsel Jesu vorgestellt (vgl. Johannes 7,52-8,2a). Ihm folgt das Ruhemoment des Sitzens und Lehrens (vgl. Johannes 8,2b), dem unmittelbar eine höchst dramatische Unruhe folgt (vgl. V. 3). Alle Beteiligten befinden sich nun auf der Bühne des Gerichtes, das im Angesicht der Herrlichkeit Gottes tagen soll.
Die Männergruppe der Pharisäer und Schriftgelehrten trägt nun die Anklage gegen die Frau vor:
Meister, diese Frau wurde beim Ehebruch auf frischer Tat ertappt. Mose hat uns im Gesetz vorgeschrieben, solche Frauen zu steinigen. Nun, was sagst du?
Mit diesem Handeln erkennen sie Jesus offenkundig als Richter an. Gleichwohl relativiert der Text diesen Eindruck sofort durch den Einwand, dass sie Jesus auf die Probe stellen wollen. Sie, die in einem Galiläer auf keinen Fall einen Propheten erkennen können (vgl. Johannes 7,52), wollen ihn nur auf die Probe stellen (vgl. Johannes 8,6a).
Jesus beantwortet die Frage mit einer Handlung:
Jesus aber bückte sich und schrieb mit dem Finger auf die Erde.
Das Bücken kommt einer Verneigung gleich. Es scheint fast eine Demutsgeste zu sein. Hier sitzt kein Richter auf dem Richterstuhl. Der, dem man diese Rolle – scheinbar – zuweist, bückt sich und schreibt mit dem Finger auf die Erde.
Man hat oft gerätselt, was Jesus da wohl auf die Erde schreibt. Aber darauf kommt es vielleicht gar nicht an. Es ist der Vorgang an sich: Bücken und mit dem Finger auf die Erde schreiben – das bedeutet: Jesus zeigt den Anklägern die kalte Schulter und er vertreibt sich die Zeit. Er wartet ab. Er nimmt die Rolle des Richters, der das längst schon getroffene (Vor-)Urteil der Menschen ratifizieren soll, nicht an.
Die Ankläger aber sind hartnäckig. Erst jetzt antwortet er auf ihr Weiterfragen:
Wer von euch ohne Sünde ist, werfe als Erster einen Stein auf sie.
– worauf er sich wieder bückt und weiter auf die Erde schreibt. Er zeigt ihnen weiter die kalte Schulter und vertreibt sich die Zeit. Er wartet ab.
Die Reaktion der scheinbar dominanten Männergruppe passt nicht in das bisher gezeichnete Bild. Das Urteil Jesu ist gesprochen9). Es trifft aber nicht die Angeklagte, sondern die Ankläger. In Spiegel ihres eigenen Gewissens sollen sie die Folgen des Urteils tragen. In Spiegel ihrer eigenen Erkenntnis vermögen sie nicht mehr, zwischen Anklägern und Angeklagten zu unterscheiden. Im Angesicht des mosaischen Gesetzes sind sie alle längst zu Angeklagten geworden. Wer will die Verfehlungen gegeneinander aufwiegen? Wer darf sich da zum Richter aufschwingen und schon vorher Urteile sprechen? So gehen zuerst die Ältesten, die nach damaligem jüdischen Recht eigentlich das Urteil fällen mussten, und dann nach und nach alle anderen.
Der impulsiven Bewegung des Auftretens der Männergruppe steht im starken Kontrast der beschämte Abtritt gegenüber.
Die Pointe
Plötzlich ist es still im Text:
Jesus blieb allein zurück mit der Frau, die noch in der Mitte stand.
Auch das Volk, das am Anfang noch vor Jesus saß, ist plötzlich verschwunden.
Bemerkenswert ist die Änderung der Körperhaltung Jesus:
Er richtete sich auf.
Das Aufrichten (ἀνακύψας – gesprochen: anakypsas) steht in deutlichem Kontrast zum vorherigen Bücken (κύψας/κατακύψας – gesprochen: kypsas/katakypsas): Jesus zeigt der Ehebrecherin eben nicht die kalte Schulter; er sieht sie an. Er gibt ihr Ansehen!
Die rhetorische Frage Jesu:
Frau, wo sind sie geblieben? Hat dich keiner verurteilt?
beantwortet sie fast schon lapidar:
Keiner, Herr.
Und so fällt Jesus, der Richter sein Urteil:
Auch ich verurteile dich nicht. Geh und sündige von jetzt an nicht mehr!
Bedingungslos heißt: bedingungslos
Das ist die eigentliche Pointe: Jesus erteilt der Ehebrecherin keinen Freispruch. Er verurteilt sie aber auch nicht. Ihre Tat ist geschehen; sie kann nicht ungeschehen gemacht werden. Sie wird damit leben müssen. Sie muss in ihrem Leben die Verantwortung dafür übernehmen und die Folgen tragen. Das steckt in dem
Geh und sündige von jetzt an nicht mehr!
Das Urteil Jesu ist von einer bedingungslosen Barmherzigkeit geprägt. Umkehr und Reue sind keine Voraussetzungen für dieses Urteil, sondern die Folge!
Das ist der eigentliche Skandal der Barmherzigkeit, dass sie eben bedingungslos gilt. Der Schriftsteller Navid Kermani ahnt dieses Skandalon, wenn er schreibt:
„Es ist schwer zu begreifen, daß wir von Gott geliebt werden. Aber daß unsere Mutter uns liebt, darauf verlassen wir uns alle.“10)
Gottes Liebe ist bedingungslos, weil er die Menschen wie eine Mutter liebt. Wie eine Mutter ihre missratenen Kinder trotzdem bedingungslos liebt, so liebt Gott die Menschen – alle! Ohne Ausnahme!
Das heißt nicht, dass der Mensch tun und lassen kann, was er möchte. Vor Gott, dem Vater, wird der Mensch sich selbst als das erkennen, was er ist. Und er muss die Folgen und die Verantwortung für diese Selbsterkenntnis tragen. Nur aus der Liebe Gottes wird er nie fallen.
Wie schwer aber wird es für Menschen wie Beate Zschäpe und ihre Kumpanen sein, sich dieser bindungslosen Barmherzigkeit Gottes gegenüber zu sehen. Wahrlich: Das Urteil eines Menschengerichtes ist milde gegen dieses Fegefeuer der Barmherzigkeit, in das sich die begeben, die unbarmherzig handeln, reden und sind.
Bildnachweis
Titelbild sowie Bilder 2-4: Wassilij Dimitriewitsch Polenow – Wer ohne Sünde ist – Quelle: Wikicommons – lizenziert als gemeinfrei (Bilder 2-4: Ausschnittbearbeitung von Werner Kleine)
Bild 1: Jotquadrat – Tympanon über dem Haupteingang der Thomaskirche in Wesseling-Urfeld – Szene aus dem Johannesevangelium (Johannes 7,53-8,11) – Quelle: Wikicommons – lizenziert unter cc by-sa 3.0
Einzelnachweis
1. | ↑ | Vgl. http://www.dbk.de/themen/heiliges-jahr/ [Stand: 13. Dezember 2015]. |
2. | ↑ | Ähnlich urteilt auch Christian Florin in ihrem in der Zeitschrift “Christ & Welt”, Ausgabe 49/2015 erschienen Beitrag “Der Plan B”: “Mittlerweile ist das Barmherzigkeitsmotiv so ausgelatscht wie die schwarzen Schuhe des Argentiniers. Mit jeder Erwähnung wird es konturloser: Für diejenigen, die von der Kirche Zucht und Ordnung erwarten, sieht es wie eine Aufweichung der Lehre durch permanente Ausnahmen aus. Wenn das so weitergeht, fürchten sie, lohnt es sich gar nicht mehr, brav katholisch zu leben. Auf andere wirkt Barmherzigkeit wie eine besonders edel kaschierte Form der Verachtung. Warum sollen sich Wiederverheiratete, Homosexuelle und andere vormals unter der Bezeichnung »Sünder« bekannte Wesen von oben herab behandeln lassen, als werde ihnen ein Gnadenakt zuteil?” Quelle: http://www.christundwelt.de/detail/artikel/der-plan-b/ [Stand: 15. Dezember 2015] |
3. | ↑ | Vgl. hierzu etwa http://www.spiegel.de/panorama/justiz/beate-zschaepe-im-nsu-prozess-was-sie-ausgesagt-hat-a-1066805.html [Stand: 13. Dezember 2015] oder den Zeit-Live-Blog vom Münchener Prozesstag am 9.12.2015 unter http://www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2015-11/beate-zschaepe-nsu-prozess-aussage-live [Stand: 13. Dezember 2015]. |
4. | ↑ | Dorothea Sattler, Barmherzigkeit auch für Beate Zschäpe. Dorothea Sattler über die christliche Versöhnungslehre – Quelle: http://www.katholisch.de/aktuelles/standpunkt/barmherzigkeit-auch-fur-beate-zschape [Stand: 13. Dezember 2015]. |
5. | ↑ | Vgl. hierzu http://www.dbk.de/heiliges-jahr/das-heilige-jahr-in-rom/heilige-pforten/ [Stand: 14. Dezember 2015]. |
6. | ↑ | Quelle: http://de.radiovaticana.va/news/2015/12/13/angelus_niemand_ist_ausgeschlossen_vom_heil/1194087 [Stand: 13. Dezember 2015]. |
7. | ↑ | Facebook-Kommentar von Userin Christine Eichhorn auf das Posting vom 11. Dezember 2015 zum katholisch.de-Beitrag von Dorothea Sattler auf der katholisch.de-Facebook-Seite – https://www.facebook.com/katholisch.de/?fref=ts [Stand: 13. Dezember 2015] (Hervorhebungen im Original) – Screenshot. |
8. | ↑ | Wohlgemerkt: Der literar- und textkritische Befund insinuiert eine unmittelbare Fortsetzung der Auseinandersetzung im in Johannes 8,12 beginnenden Selbstzeugnis Jesu. |
9. | ↑ | Nur nebenbei sei bemerkt, dass auch diese Stelle inflationär zitiert wird, um in einer Diskussion den gegenerischen Angriff pseudoargumentativ abzuwehren. Allerdings geht es hier ums Ganze. Es geht um Leben und Tod. Die Anführung der Bibelstelle wäre dabei nur gerechtfertigt, wenn es tatsächlich um die Vernichtung der Existenz eines Menschen ginge. Die inflationäre Verwendung hingegen entwertet und banalisiert sie allerdings, was dem eigentlichen Impetus völlig entgegen steht. |
10. | ↑ | Navid Kermani, Ungläubiges Staunen. Über das Christentum, München 2015, S. 80 (Alte Rechtschreibung im Original). |