„Der Begriff ‚Antisemitismus‘ ist wirklich Unsinn – denn es gibt ja keinen Semitismus gegen den man ‚anti‘ sein kann,“ sagte der renommierte, israelische Shoa- und Antisemitismusforscher Yehuda Bauer vor Kurzem, als ich ihn zu den zunehmenden antisemitischen Straftaten in Deutschland interviewte.1) Das Wort „antisemitisch“ wurde vermutlich erstmals von dem österreichischen, jüdischen Gelehrten Moritz Steinschneider (1816-1907) verwendet, als er die Vorurteile des französischen, christlichen Philologen und Theologen Ernest Renan zurückwies, der die „semitische Rasse“ als minderwertig gegenüber der „arischen Rasse“ beschrieb. Es war dann der deutsche Journalist Wilhelm Marr (1819-1904), der den Begriff „Antisemitismus“ für eine rassistisch statt religiös begründete Judenfeindschaft prägte. Antisemitismus hört sich ja bis heute auch wissenschaftlicher an als der die Realität widerspiegelnde Begriff „Judenhass“: Antisemiten sind Menschen, die Juden hassen.
Der Begriff „Semitismus“ bezeichnet in den Sprachwissenschaften, vergleichbar mit den Begriffen „Germanismus“ oder „Anglizismus“, Anleihen in einer Sprache an Konstruktions- oder Ausdruckweisen, wie sie in den sogenannten semitischen Sprachen üblich sind. Doch Antisemiten geht es nicht um den Schutz der eigenen Sprache! Ihr Hass richtet sich gegen eine Gruppe der Nachfahren Sems. In der Bibel ist Sem einer der drei Söhne Noachs, die die Sintflut überleben und die nachfolgende Menschheit begründen. Sem ist ein Vorfahre Abrahams, Davids und Josef, dem Vater Jesu (siehe Lukas 3,23-38).2) Auch wenn es zum Beispiel die „Deutschen Christen“ in der Zeit des Nationalsozialismus und der Shoa nicht davon abgehalten hat dieser Ideologie zu folgen, so ist doch der Antisemitismus in seinem Kern anti-christlich und biblisch betrachtet ein Hass auf das Gute im Menschen. Nein, einen Antisemiten überzeugt man nicht von der Falschheit seiner Ansichten, wenn man ihn darauf hinweist, wer Sem in der Bibel ist. Aber für jeden, der sich als Christ oder Christin versteht, ist ein Blick in das Buch Genesis nicht nur ein Spiel mit der Sprache, sondern ein mahnender Hinweis darauf, dass der Begriff Antisemitismus Unmenschlichkeit bedeutet: Sem steht für die Hoffnung des Guten in der Menschheit.
Ein Gerechter!
Die Erzählung der Sintflut beginnt im Buch Genesis mit der Feststellung Gottes, dass der Mensch von Grund auf böse war,
dass auf der Erde die Bosheit des Menschen zunahm und dass alles Sinnen und Trachten seines Herzens immer nur böse war.
Allein Noach findet Gnade in den Augen Gottes. Denn er ist nicht wie alle anderen Menschen. Er unterscheidet sich grundlegend von Ihnen.
Der HERR sprach zu Noach: Geh in die Arche, du und dein ganzes Haus, denn ich habe gesehen, dass du in dieser Generation ein Gerechter vor mir bist!
Sem, der wahrscheinlich Erstgeborene Noachs wird durch die Sintflut nicht wie der Rest der gesamten Menschheit – außer Noachs Familie – dahingerafft. Er hat sein Leben der Gott gefälligen Lebensweise seines Vaters zu verdanken. Er ist der Sohn eines Gerechten! In der biblischen Erzählung steht also Sem im schützenden Schatten Noachs, aus dem aus biblischer Perspektive alle Menschen hervorgehen und somit sozusagen geschwisterlich verbunden sind.
Die Söhne Noachs, die aus der Arche gekommen waren, sind Sem, Ham, Jafet. Ham ist der Vaters Kanaans. Diese drei sind die Söhne Noachs; von ihnen aus verzweigten sich alle Völker der Erde.
In christlichen Bibelkommentaren der Antike und des Mittelalters werden die drei Söhne Noach immer wieder als Vorfahren der damals bekannten Völker bezeichnet: Sem sei der Vorfahre der Völker Asiens, Ham sei der Urahne der Völker Afrikas und Jafet der Stammvater der Völker Europas. Aus der Perspektive des biblischen Erzählers ist das Verhältnis der drei Brüder durchaus problematisch. Als der von Gott als Gerechter bezeichnete Noach betrunken und nackt in seinem Zelt lag, sah ihn Ham in diesem Zustand und erzählte es seinen Brüdern – und brachte damit Schande über seinen Vater. Jafet und Sem hingegen handeln anders als ihr Bruder:
Da nahmen Sem und Jafet einen Überwurf; den legten sich beide auf die Schultern, gingen rückwärts und bedeckten die Blöße ihres Vaters. Sie hatten ihr Gesicht abgewandt, sodass sie die Blöße ihres Vaters nicht sahen.
Sie stellten ihren im Rausch entblößten Vater vor den Augen anderer nicht bloß – auch nicht vor ihren eigenen Augen. Sie respektieren ihn als Person und sie schützen seine Würde. Darin ist Sem ein Vorbild – er ist nicht nur der Sohn eines Gerechten, sondern er handelt auch dementsprechend. Und dafür werden er und Jafet von Noach gesegnet.
Gepriesen sei der Gott Sems […]. Raum schaffe Gott für Jafet. In Sems Zelten wohne er […].
…aber…
Die Bezeichnung Gottes im Segen Noachs als „Gott Sems“ ist bemerkenswert. So wird er sprachlich in die Reihe der Erzväter eingereiht: Gott ist der Gott Sems, Abrahams, Isaaks und Jakobs/Israels. Aus den Nachfahren Sems wird das Volk Israel hervorgehen, an das sich Gott im Besonderen bindet. Und Jafet, der ebenso wie Sem gütlich an seinem Vater gehandelt hat, wird zwar gesegnet, aber er wird Sem untergeordnet. Gar verflucht wird Kanaan, als der Erstgeborene Hams, der dessen Schuld tragen muss.
Verflucht sei Kanaan, Sklave der Sklaven sei er seinen Brüdern! […] Kanaan werde sein [Sems] Sklave. […] Kanaan werde sein [Jafets] Sklave.
Sem, der Sohn des einzigen Gerechten in der Zeit der Sintflut und der selbst ehrenvoll an seinem Vater Handelnde, seine Würde und Person schützend, wird über seine Brüder erhoben – das ist der Stoff für Verschwörungstheorien. Drückt sich hier nicht die Tendenz zur Weltherrschaft der Nachfahren Sems aus? Ist nicht genau dies der Ansatzpunkt für einen „Anti-Semitismus“? Ohne Zweifel wird hier der Ahnvater der Völker diskreditiert, deren Land in der späteren biblischen Geschichte Israel von Gott nicht nur verheißen, sondern auch übergegeben wird. Die Kanaaniter werden den Israeliten unterliegen. Aber die Erzählung bleibt doch auf der Ebene der individuellen Personen, die gesegnet und verflucht werden. Hier geht es weder um Völker noch um Rassen!
Semiten!
Ein antisemitisch-denkender Mensch findet genügend Aussagen in der Bibel, die er oder sie so deuten kann, um im Hass gegen das Judentum sich zu stärken. Die Botschaft der Bibel, wenn man auf sie hört, ist jedoch keine antisemitische! Daher sei ein Sem, sei die Hoffnung für den Neuanfang der Menschheit im Angesicht ihrer Bosheit! Verhalte Dich wie der Sohn eines Gerechten – selbst wenn Dein Vorbild strauchelt. Sei ein Semit!
Bildnachweis
Titelbild: Antisemitisches Graffiti in Memel, Litauen, fotografiert von Beny Shlevich. Lizenz: CCO 2.0.
Einzelnachweis
1. | ↑ | “Die Urfeinde des Islams“, Die Tagespost, 24.06.2019 [Stand: 24. Juni 2019]. |
2. | ↑ | Der Beauftragte gegen Antisemitismus des Landes Baden-Württemberg Michael Blum verwies in einem Interview mit dem Deutschlandfunk vor kurzem darauf, was zumindest aus jüdischer Perspektive mitklingt, wenn man an Semitismus, bezogen auf die biblische Figur des Sem, denkt: […] ich rufe dazu auf, endlich wahrzunehmen, wie die jüdische Überlieferung selbst den Sem wahrnimmt. Er ist kein Begründer von Rassen und er ist kein Begründer von Sprachen, sondern im Talmud, in der jüdischen Auslegung ist das der erste Begründer eines Lehrhauses, der erste, der eine Schule gründet, der erste, der Religion und Recht im Medium der Alphabetschrift lehrt. Das ist eine ganz wichtige Figur und Vorfahr von Abraham, das wissen aber die Leute gar nicht, sondern da wird mir dann gesagt, ja, Herr Blume, Semiten, das sind ja Juden und Araber, das sind so Rassen und die kommen nicht miteinander klar. Und da merke ich dann, also, da fehlt es selbst an Grundwissen darüber, was eigentlich der Sem in der jüdischen Tradition schon immer bedeutet hat. Das hat man vergessen und selbst Leute, die es gut meinen, haben da kaum Kenntnis drüber.“ |