Im Allgemeinen besteht kein Zweifel an der Sinnhaftigkeit von Gesetzen. Sie regeln das menschliche Zusammenleben, schaffen Klarheit in Konfliktfällen und sorgen für Gerechtigkeit. Es verwundert also kaum, dass menschliche Gesellschaften, die sich durch eine gewisse Komplexität auszeichnen, schon früh die objektive Formulierung von Gesetzen initiierten. Dabei ist der Gesetzesbegriff selbst eng mit der politischen Struktur der jeweiligen Gesellschaft verbunden, für die das Gesetz Geltung hat. Gesetze beruhen in demokratischen Gesellschaften im Wesentlichen auf der Konvention der am demokratischen Prozess Beteiligten, in totalitären Systemen nicht selten auf der Willkür der Machthaber.
Gesetze sind nicht per se ethisch gerecht. Nicht alle Gesetze schaffen ein Gleichgewicht von Recht und Gerechtigkeit. Gerechtigkeit aber ist die Grundlage für das friedliche Zusammenleben jeder Gesellschaft. Welche Funktion hat das Gesetz überhaupt? Wie also verhalten sich Gesetz und Gerechtigkeit zueinander? Kann es eine autonome Moral geben, also eine Ethik, die sich selbst Gesetz ist?
Das Neue Testament zeichnet sich durch eine gesetzeskritische Haltung aus und kommt zu überraschenden Antworten.
Gesetz und Gerechtigkeit im Neuen Testament
Angesichts der kulturellen Bedeutung von Gesetzen verwundert es nicht, dass das Thema von Gesetz und Gerechtigkeit auch im Neuen Testament breiten Raum einnimmt. Das rein zahlenmäßige Vorkommen des griechischen Begriffs νόμος (sprich: nómos) deutet darauf hin, dass hier ein Kernthema angeschnitten wird. Freilich handelt es sich um ein besonderes Gesetz von dem hier die Rede ist. Das Gesetz, von dem das Neue Testament spricht, unterscheidet sich von den Satzungen, von denen bisher die Rede war; es bezeichnet vielmehr die Torah, die Weisung Gottes, die Israel als dem Volk der Verheißung gegeben ist. Es ist eine Satzung, die – gerade weil sie göttlichen Ursprungs ist – der menschlichen Verfügbarkeit und Willkür entzogen ist.
Es ist vor allem der Apostel Paulus, der sich intensiv mit diesem Thema auseinandersetzt. Insbesondere der Römer- als auch der Galaterbrief sind durch diese Thematik geprägt. Wir folgen hier insbesondere den Ausführungen des Galaterbriefes.
Im Zentrum des Galaterbriefes steht die Frage nach der Bedeutung und Wertung des Kreuzestodes Jesu Christi insbesondere auch für die Lebenswirklichkeit derer, die sich zur Auferstehung des Gekreuzigten bekennen. Von Bedeutung ist dabei, dass Paulus den Kreuzestod in Galater 3,13 selbst als Fluchtod interpretiert – ein Urteil, das er mit einem Torahzitat (Deuteronomium 21,23) belegt:
Christus hat uns vom Fluch des Gesetzes freigekauft, indem er für uns zum Fluch geworden ist; denn es steht in der Schrift: Verflucht ist jeder, der am Pfahl hängt.
Der Gedankengang ist essentiell für die paulinische Theologie. In Varianten führt Paulus ihn auch in 2 Korinther 5,21 sowie in Römer 8,3 aus. Oberflächlich betrachtet scheint für Paulus die Gültigkeit der Torah durch das Christusereignis in Frage gestellt zu sein. Dass das ein vorschneller Schluss ist, ergibt sich aber allein schon aus der Tatsache, dass Paulus mit dem Zitat von Deuteronomium 21,23 die Torah selbst als Argument bemüht. Mehr noch: Die Torah ist für die paulinische Christologie sogar maßgeblich und in all ihrer Konsequenz unverzichtbar, wie allein der berühmte Philipperhymnus nahelegt:
Er [Christus Jesus] erniedrigte sich
und war gehorsam bis zum Tod,
bis zum Tod am Kreuz.
Die Torah ist also der Maßstab, mit dem Paulus den Kreuzestod Jesu Christi bemisst.1)
Die Funktion und Bedeutung des Gesetzes im Galaterbrief
Wenn es Paulus also nicht um die Erklärung gehen kann, das Gesetz – die Torah – habe seine Gültigkeit verloren, muss die Aussage von Galater 3,13 anders interpretiert werden. Die Torah hat nicht ihre Gültigkeit verloren; allerdings muss ihre Funktion hinterfragt werden:
Warum gibt es dann das Gesetz? Wegen der Übertretungen wurde es hinzugefügt, bis der Nachkomme käme, dem die Verheißung gilt.
Oberflächlich betrachtet scheint Paulus hier dem Gesetz die negativ assoziierende Funktion zuzuschreiben, das Gesetz provoziere die Übertretung. Diese Interpretation wird allein schon durch einen Blick in den Römerbrief durchkreuzt. Dort führt Paulus aus:
Denn durch die Werke des Gesetze wird niemand vor ihm gerecht werden; durch das Gesetz kommt es vielmehr zur Erkenntnis der Sünde.
Es gibt also für Paulus einen offenkundigen Zusammenhang zwischen dem Gesetz (der Torah) als Mittel der Erkenntnis und der Verheißung. Dabei stellt Paulus in Galater 3,21a ausdrücklich fest, dass dieser Zusammenhang alles andere als sich gegenseitig ausschließend ist:
Ist dann das Gesetz gegen die Verheißungen Gottes? Keineswegs!
Nachdem dieses Missverständnis ausgeräumt ist, kann sich Paulus weiter der eigentlichen Bedeutung des Gesetzes widmen. Denn trotz der Feststellung, die Gültigkeit des Gesetzes sei unhinterfragt, hinterfragt Paulus das Verhältnis von Gesetz und Gerechtigkeit:
Wäre ein Gesetz gegeben worden, das die Kraft hat, lebendig zu machen, dann käme in der Tat die Gerechtigkeit aus dem Gesetz.
Das ist kein Verdikt gegen das Gesetz. Wohl aber hinterfragt Paulus die Auffassung, dass die Gerechtigkeit allein aus dem Gesetz kommt. Diesen Aspekt führt er in der ihm eigenen, für moderne Ohren kryptisch-geheimnisvollen Art aus:
Stattdessen hat die Schrift alles der Sünde unterworfen, damit durch den Glauben an Jesus Christus die Verheißung sich an denen erfüllt, die glauben.
Die Komplexität des paulinischen Gedankengangs findet seine Auflösung in Galater 3,24:
So ist das Gesetz unser Pädagoge (παιδαγωγός, sprich: paidagogós) geworden auf Christus hin, damit wir aus Glauben gerecht werden.
Das Gesetz hat also eine deutliche, heilsgeschichtlich sogar herausragende Funktion. Es führt auf Christus hin. Erst auf dem Hintergrund des Gesetzes wird die wahre Bedeutung des Christusereignisses erkennbar. Das führt Paulus ausdrücklich an späterer Stelle im Galaterbrief aus:
Zur Freiheit hat uns Christus befreit. Bleibt daher fest und lasst euch nicht von neuem das Joch der Knechtschaft auflegen!
Im Hintergrund dieser Mahnung steht der Anlass des Galaterbriefes. In den galatischen Gemeinden waren Verkünder aufgetreten, die die dort lebenden Heidenchristen zur Beschneidung drängten. Mit der Beschneidung wären sie aber verpflichtet, die Torah zu halten (vgl. Galater 5,2f). Da für Paulus die Torah aber in sich weiter gültig ist, kann das nicht an sich das Problem sein. Vielmehr wendet er sich gegen ein Verständnis, die Gerechtigkeit sei durch das alleinige Tun des Gesetzes schon erreicht:
Wenn ihr also durch das Gesetz gerecht werden wollt, dann habt ihr mit Christus nichts mehr zu tun; ihr seid aus der Gnade herausgefallen.
Für Paulus ergibt sich die Gerechtigkeit aber nicht aus dem bloßen Tun und Vollziehen gesetzlicher Vorgaben. Wahre Gerechtigkeit ergibt sich aus dem Glauben und in der Kraft des Geistes.
Paulus wendet sich damit gegen eine sich selbst rechtfertigende Gerechtigkeit, die sich im bloßen Befolgen von Regeln grundlegt, dabei aber den anderen aus dem Blick verliert. Wahre Gerechtigkeit entsteht nicht aus dem Gesetz an sich. Wahre Gerechtigkeit entsteht aus einer Haltung, die sich am Gegenüber orientiert. Die Symptome dieser wahren Gerechtigkeit sind nicht banaler Gesetzesgehorsam, sondern Solidarität, Respekt und Rücksichtnahme:
Denn das ganze Gesetz ist in dem einen Wort zusammengefasst: Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst! Wenn ihr einander beißt und verschlingt, dann gebt acht, dass ihr euch nicht gegenseitig umbringt.
Ein neues Gesetz
Dass es Paulus nicht um die Abschaffung des Gesetzes geht, wird deutlich, wenn er selbst ein Gesetz formuliert – das Gesetz Christi:
Einer trage des anderen Last, so werdet ihr das Gesetz Christi erfüllen.
Das Gesetz hat keinen Sinn in sich. Das Gesetz und die bloße Gesetzesbefolgung an sich schafft keine Gerechtigkeit. Die Gerechtigkeit erweist sich erst in der Mitmenschlichkeit. Das Gesetz führt erst dann zur Gerechtigkeit, wenn das Recht der anderen in den Blick kommt. Nicht das Ich, sondern der Andere wird zum Objekt des Gesetzes. So versteht sich auch die abschließende Mahnung des Paulus im Galaterbrief:
Deshalb wollen wir, solange wir noch Zeit haben, allen Menschen Gutes tun, besonders aber denen, die mit uns im Glauben verbunden sind.
Die Nagelprobe der Straßenverkehrsordnung
Recht haben und Recht bekommen sind nicht immer deckungsgleich. Die praktische Wahrheit dieses Satzes wird täglich in der Realität des Straßenverkehrs sichtbar. Die Straßenverkehrsordnung regelt das Miteinander im öffentlichen Verkehr. Die Sinnhaftigkeit der Straßenverkehrsordnung wird wohl niemand in Frage stellen. Und doch macht sie alle früher oder später zu Übertretern. Wer kann von sich schon behaupten, im Straßenverkehr ohne Sünde zu sein? Und wer im Straßenverkehr auf das sture Durchsetzen des eigenen Rechtes besteht, gehört deshalb nicht unbedingt zu den angenehmen Verkehrsteilnehmern. Nicht ohne Grund heißt es in §1 Satz 1 der StVO:
Die Teilnahme am Straßenverkehr erfordert ständige Vorsicht und gegenseitige Rücksicht.
Die Essenz dieses Satzes hat Paulus schon rund 2000 Jahre vorher formuliert: Das Gesetz verschafft nicht zuerst dem Selbst Recht, sondern dem Anderen. Erst wenn das Gesetz nicht zur Selbstrechtfertigung dient, sondern der Nächste in den Blick kommt, wird aus der Verheißung der Gerechtigkeit gelebte Wirklichkeit.
Bildnachweis
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Einzelnachweis
1. | ↑ | Vgl. H. Merklein, Die Bedeutung des Kreuzestodes Christi für die paulinische Gerechtigkeits- und Gesetzesthematik, in: ders., Studien zu Jesus und Paulus , Bd. 1 (WUNT 43), Tübingen 1987, S. 1-106, hier: S. 10. |