Gibt es Antijudaismus in der Bibel, speziell im Neuen Testament? Es gibt Forscher die sagen, es gibt keinen Antijudaismus in der Bibel. Was es wohl gibt, das sind deutliche Worte gegen die führenden Schichten – wie sie zum Beispiel die Propheten immer wieder ins Wort bringen (Amos, Hosea, Jesaja, Jeremia). Ein Antijudaismus ist das aber noch nicht.
Antijudaismus als die Haltung, die ohne Differenzierung “Die Juden” – und zwar aller Generationen – als gesamte Volksgruppe für etwas verantwortlich machen, gibt es mit wenigen Ausnahmen in der Bibel nicht. Selbst diese Ausnahmen werden auch nur deshalb als antijudaistisch wahrgenommen, weil sie aus dem Zusammenhang gerissen werden. Woher kommt dann die Vorstellung, es gäbe Antisemitismus und Antijudaismus in der Hl. Schrift? Es hat mit der Geschichte der Kirche und einem undifferenzierten Umgang der Kirche mit der Schrift und ihrer Auslegung zu tun. Dies lässt sich bereits in den Evangelien feststellen.
Erste Hinweise: Es gibt Texte, die antijudaistisch interpretiert wurden und werden.
Ein klassisches Beispiel dafür ist das Gleichnis vom königlichen Hochzeitsmahl (Matthäus 22,1-9) Bei Lukas geht es noch nur um die Hochzeit des Sohnes eines Mannes. Die geladenen Gäste kommen nicht und so lädt er andere Menschen ein. Bei Matthäus wird aus diesem Mann ein König, der, als die geladenen Könige nicht kommen, ihre Städte niederbrennt. Matthäus hat hier die Zerstörung Jerusalems 70 nach Christus vor Augen. Auch bei Lukas werden die Geladenen wegen ihrer Weigerung ausgeschlossen. Es ist davon auszugehen, dass Lukas hier die Juden meint, die sich der Botschaft Jesu nicht angeschlossen haben. Das muss aber nicht bedeuten, dass er alle Juden, das gesamte Volk Israel meint, denn immerhin berichtet er beim Pfingstereignis, dass sich 3000 Menschen den Jüngern anschlossen. Bei der Auslegung dieses Textes, findet sich diese Differenzierung in der Regel nicht.
Immer dann, wenn die Evangelisten so schreiben, haben sie in der Regel nicht die konkrete Zeit Jesus sondern die Auseinandersetzung der jungen Gemeinde – nicht Jesu – mit der jüdischen Obrigkeit vor Augen. Dieser Zusammenhang von heutigem Schrifttext und der konkreten Situation der Autoren wird in den häufigsten Fällen nicht beachtet.
„Die Juden“ und die Passionsgeschichte
In der Passionsgeschichte die als eine der ältesten Überlieferungen angesehen wird, sind es die Machthaber des jüdischen Volkes, die die Verurteilung Jesus betreiben und das Volk aufhetzen. Hier zeigt sich offensichtlich ein historischer Kern, nämlich die Tatsache, dass die zentralen Gegenspieler Jesu die politischen Eliten waren – und nicht einmal unbedingt die Pharisäer. Wenn es bei Matthäus heißt: Sie aber schrien: Ans Kreuz mit ihm!, dann waren es nur die, die damals dabei waren und nicht die Nachfahren 500, 1000, oder 2000 Jahre später. Und auch hier wird häufig übersehen, dass es vorher heißt:
„Inzwischen überredeten die Hohenpriester und die Ältesten die Menge (den Mob) die Freilassung des Barabbas zu fordern, Jesu aber hinrichten zu lassen,“
Trotzdem kann man bis heute Aussagen hören wie:
„Wieso halten Sie so engen Kontakt zu den Juden? Die haben doch Jesus getötet.“
Eine der fatalsten Schriftstellen der Passionsgeschichte ist schließlich der Satz bei Matthäus:
“Da rief das ganze Volk: sein Blut komme über uns und unsere Kinder!”
Mit diesem Satz wurde die Kollektivschuld “der Juden” über die Jahrhunderte fest geschrieben und ihnen die Verantwortung für den Tod Jesu angelastet. (In Deutschland aber denken viele, dass sie 70 Jahre nach dem Ende der Naziherrschaft mit der Shoah nichts mehr zu tun hätten). Heinz-Günter Schöttler, fordert deshalb, dass in der Passionsgeschichte die Lesung an dieser Stelle unterbrochen wird und mit ein paar Worten auf die schreckliche Wirkungsgeschichte dieses Satzes hingewiesen wird1).
Das ist die fatale Wirkungsgeschichte der biblischen Schriften, weil sie nicht aus der eigenen Zeit heraus verstanden und gedeutet wurden, sondern zum Teil von den Schrifttellern selbst oder den nachfolgenden Genrationen generalisiert wurden.
Jesus und die Pharisäer
Eine besondere Rolle in der antijudaistischen Tradition spielt das Verhältnis Jesu zu den Pharisäern. In den Schriften der Evangelien werden sie als die großen Gegner Jesu und seiner Lehre dargestellt. Wir wissen heute aber, dass Jesus den Pharisäern in Vielem sehr nahe stand. Wenn wir uns die diversen Streitgespräche genauer anschauen, lässt sich zeigen, dass die Evangelisten zum Teil eine Differenz in die Gespräche hineintragen, die zunächst einmal überhaupt nicht zur Debatte steht.
Ganz deutlich zeigt sich das bei der von den Synoptikern überlieferten Diskussion um die Frage, was das wichtigste Gebot ist (Matthäus 22,34-40; Markus 12,28-31; Lukas 10,25-28).
Bei Markus wird deutlich, dass ein Schriftgelehrter hier eine ernste Frage hat. Es gibt in der jüdischen Religion so viele Gebote und Verbote, dass es schwer ist den Überblick darüber zu behalten, was denn wichtig und was weniger wichtig ist. Im Grunde geht es uns im Christentum nicht anders. Wir helfen uns im Glaubensverständnis mit der Rede von der „Hierarchie der Wahrheiten“. Auch unterscheiden wir zwischen Kirchengeboten und göttlichen Geboten.
Wir dürfen also durchaus im Markusevangelium davon ausgehen, dass der Schriftgelehrte Jesus eine Frage stellt, die ihn und seine Kollegen ernsthaft beschäftigte. Der Verlauf des Gespräches zeigt deutlich, dass sich hier zwei Partner einander annähern und zu einer gemeinsamen Haltung finden. Davon ist in der Auslegungstradition nichts mehr zu merken. Bei Matthäus und Lukas wird diese Perikope mit dem Hinweis eingeleitet: „Sie wollten ihm eine Falle stellen.“ Aber beide Texte lassen in ihrem Fortgang nichts von dieser “Bösartigkeit” erkennen.
Es gilt also bei jeder biblischen Aussage genau zu überprüfen, worum es in der überlieferten Geschichte oder Aussage genau geht und was möglicherweise die Intention des Verfassers ist. Ist diese mit der Textaussage identisch oder will der Verfasser uns etwas anderes glauben machen.
Auch ist immer wieder genau zu prüfen, wie die alttestamentlichen Zitate, die sich an Prophetenworten orientieren “hören sollen sie, aber nicht verstehen” im jeweiligen Kontext sowohl des Textes als auch der Intention des Autors zu verstehen sind. Es darf nicht übersehen werden, dass die Evangelisten, als auch die Schreiber der Briefliteratur, aus der Erfahrung schreiben, dass Jesus und seine Sendung von einem großen Teil der Juden seiner Zeit nicht anerkannt wurde und die judenchristliche Gemeinde von der Synagoge ausgeschlossen worden war.
Die Mär von den Gottesmördern
Der christliche Antijudaismus ist davon geprägt, dass über zwei Jahrtausende die jüdische Bevölkerung aller Zeiten und Regionen dafür verantwortlich gemacht wurde, dass Jesus getötet wurde Das wird dann in dem einfache Satz zusammengefasst: “Die Juden haben Jesus umgebracht.“
Dass die Römer Jesus aus Angst vor politischen Unruhen hingerichtet haben, wird völlig ignoriert. Dazu kommt die Rede vom neuen Bund, der den „alten Bund“ abgelöst hat, wie es in Hebräer 8,13 geschrieben ist:
„Indem er von einem neuen Bund spricht, hat er den ersten für veraltet erklärt.“
Da können die Christen schnell sagen, dass der „neue Bund“ ihnen gilt, Gegen diese Vorstellung haben auch alle paulinischen Texte nichts geholfen, die genau das Gegenteil aussagen und vom ungekündigten Bund sprechen. Auch wird bei dem Zitat aus dem Hebräerbrief übersehen, dass in den vorhergehenden Versen 8-12 davon die Rede ist, dass der neue Bund mit Israel geschlossen wird. Ein typisches Beispiel für eine selektive Exegese.
So konnte sich in unserer christlichen Glaubenstradition eine antijudaistische Grundstimmung breitmachen, die wir häufig überhaupt nicht mehr bemerken. So können sich in Predigten antijudaistische Tendenzen einschleichen, ohne dass der Prediger sich dessen bewusst ist. Hier gilt es eine besondere Sensibilität für die Wirkung der eigenen Worte zu entwickeln.
Unbewusste Antijudaismen in der Predigt
In einer Predigt zu Lk 4,21-30 (Jesus in der Synagoge von Nazareth) findet sich folgende Passage2):
„Die Leute in der Synagoge gerieten in Wut. Sie sprangen auf und trieben Jesus zur Stadt hinaus. Vom Abhang eines Berges wollten sie ihn hinunterstürzen. Lukas lässt mit diesen Sätzen schon anklingen, dass die Botschaft Jesu von den Juden nicht angenommen wurde. Die Heiden aber haben die Frohe Botschaft aufgenommen.“
Was der Autor übersieht, ist der Bericht des Lukas vom Pfingstwunder bei dem 3000 Juden sich taufen ließen. An anderer Stelle heißt es: und täglich führte der Herr der Gemeinde neue Mitglieder hinzu. Es kann also nicht die Rede davon sein, dass „die Juden“ Jesus ablehnten. Die Obrigkeit lehnte ihn aus politischen und einige der Schriftgelehrten und Pharisäer aus theologischen Gründen ab. Das Volk aber war ihm eher zugewandt.
Beim Alten bleiben oder was Neues?
In einer Predigt zu Johannes 15 wählt der Prediger zunächst das Beispiel vom alten Hut, beim alten bleiben oder einen neuen Hut kaufen, Ihm kommt es dann darauf an, das „Bleiben“, das in dem Evangelium eine entscheidende Rolle spielt heraus zu arbeiten, Jesu fordert uns auf, in ihm zu bleiben.
Der Schrifttext Johannes 15 beginnt mit dem Wort Jesu:
„Ich bin der wahre Weinstock.“
Dann entwickelt Johannes den Zusammenhang zwischen ihm und seinen Jüngern und wählt das Bild vom Weinstock und den Reben. Diese müssen am Weinstock bleiben, damit sie nicht vertrocknen. Es wird deutlich, dass es Johannes auf dieses Verhältnis ankommt. Es geht demnach nicht um die Frage wer der wahre und wer der „falsche“ Weinstock ist. Die Vulgata übersetzt an dieser Stelle auch ohne Artikel: „Ego sum vitis vera“ – ich bin ein wahrer Weinstock. Es erschließt sich nicht, warum der Autor hier fortfährt:
„Jesus wählt das aus der Geschichte Israels bekannte Bildwort vom Weinstock. Gott hatte den Weinberg Israel gepflanzt, aber er wurde enttäuscht. Nun hat er seinen Sohn als ‚wahren Weinstock‘ in die Welt gepflanzt.“
Für den Fortgang der Predigt ist dieser Hinweis völlig unerheblich. Es bedient lediglich ein antijudaistisches Klischee.
Diese unbewussten anitjudaistischen Aussagen machen deutlich, wie sehr dieses Denken in den Köpfen unserer Theologen noch verhaftet ist. Das liegt zum Teil auch daran, dass es diese Tendenzen auch in der Bibel schon gibt.
Der dankbare Samariter oder Die Heilung der zehn Aussätzigen
In Lukas 17,11-19 wird erzählt, dass zehn Aussätzige sich Jesus nähern und geheilt werden möchten. Jesu geht auf ihr Anliegen ein und sagt ihnen lediglich, dass sie sich den Priestern im Tempel zeigen sollen. Diese stellen dort die Heilung fest und sie bringen ein Dankopfer dar.
Zu dieser Perikope gibt das Stuttgarter Neues Testament mit Erklärung folgenden Kommentar:
„Neben den mustergültigen ‚barmherzigen‘ (10,33-37) tritt jetzt noch der mustergültige ‚dankbare‘ Samariter (vgl. auch 7,9). Mustergültig ist schon die Spontaneität, mit der er Gott lobt … mehr aber noch dass die Lobpreisung Gottes sich verbindet mit einer spontanen ‚Umkehr‘ zu Jesus (vgl. 15,18) und damit endet, dass der Mann Jesus dankte.
Auch die neun anderen werden Gott gepriesen und ihm gedankt haben; das war sogar offiziell vorgesehen im Zusammenhang der Reinerklärung durch die Priester. Doch um wirklich Gott zu ehren – in dieser heilsgeschichtlichen Stunde und angesichts des Heils, das in ihr durch Jesus
erfahrbar wird – muss man sich Jesus zuwenden. Er ist der ‚Ort‘, an dem Gott sich wirklich zeigt, wo ihm gedankt und wo er gepriesen werden muss.“
Die Botschaft ist eindeutig: die wahre Heilung geschieht nur durch Jesus. Dabei kommt noch eine deutliche antijudaistische Tendenz des Evangelisten selbst zum Tragen. Lukas lässt Jesus fragen:
„Sind nicht zehn rein geworden? Wo sind denn die neun? Ist denn keiner umgekehrt um Gott zu ehren, außer diesem Fremden?“
Schon die Überschrift zu diesem Abschnitt ist vielsagend. Dort heißt es: „Der dankbare Samariter“. Der Subtext dazu heißt dann; die undankbaren Juden. Man hätte auch schreiben können: Die Heilung von zehn Aussätzigen.
Auch die Einführung ins Evangelium wie sie der Schott formuliert zeigt eine Tendenz zum antijudaistischen Klischee:
„ZUM EVANGELIUM Nicht die Krankheit ist für Jesus das Problem, sondern der Mensch. Er heilt die zehn Aussätzigen, aber nur einer kommt zurück, um zu danken. Nur an ihm ist das Wunder ganz geschehen. Dieser eine, ein Samariter, glaubt und weiß, dass er nicht nur geheilt, sondern auch angenommen ist. Die anderen haben keine Zeit, sie haben Nachholbedarf Ansprüche an das Leben. Den aber, der ihnen das wirkliche Leben geben könnte, lassen sie stehen.“
Woher weiß der Verfasser, was mit den neun anderen los ist? Sie haben sich an das Wort Jesu gehalten; zeigt euch den Priestern, Im Biblischen Kommentar EKK geht H.D. Betz von einer mündlich überlieferten Erzählung ohne große christliche Konnotationen aus,
„die Jesus als Wundertäter in den Mittelpunkt stellte und bereits die Rückkehr des Aussätzigen enthielt. Diese Erzählung wurde dann einem lehrhaften Anliegen und einer polemischen Absicht angepasst: das Wunder in seiner wahren Dimension zu verstehen, nämlich in jener des Christlichen Heils.“3)
Augen auf
Es ist oft nicht einfach, die antijudaistischen Tendenzen in der Schriften des Zweiten Testamentes zu erkennen. Das Gleiche gilt für solche Tendenzen in den Predigten. Die meisten Prediger und Predigerinnen würden sich heftig dagegen wehren, wenn man ihnen Antijudaismus vorwirft. Sie merken es nicht. Das liegt oft sicher auch daran, dass die Anknüpfungspunkte für dieses Denken oft schon in den Schrifttexte selbst angelegt sind. Es ist also wichtig, bei der Auslegung der Schrift immer zwei Dinge im Blick zu behalten,
1. Was genau steht im Text und wie deckt sich dies mit Möglichweise anderen Texten. Dass hierbei auch zum Teil falsche Übersetzungen eine Rolle spielen, ist noch ein zusätzliches Problem.
2. Was ist der historische Kontext, in den die Texte gestellt sind. Werden also Erfahrungen oder auch Erkenntnisse in den Text hineingetragen, die mit der Ausgangslage nichts oder wenig zu tun haben.
Einzelnachweis
1. | ↑ | vgl. BiLi Jahrgang 89 Heft 1. |
2. | ↑ | Botschaft Heute 1998 zum 1. Februar. |
3. | ↑ | Francois Bovon, EKK III/3 das Evangelium nach Lukas, S 147. |