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Von der Tugend zur Sünde ist es oft nur ein kleiner Schritt. So kann Verschwiegenheit ebenso die Voraussetzung für menschliches Vertrauen, aber eben auch Ausdruck abgrundtiefen Misstrauens sein. Manch ein Zeitgenosse würde besser schweigen, um als weise zu gelten; andere hingegen sollten den Mund eher aufmachen, um des Glaubens wieder würdig zu sein. Gut, in der Kirche wird das stille Schweigen oft als Voraussetzung genannt, um Gott überhaupt hören zu können. Diese Vergottung des Schweigens macht Gott freilich kleiner als es einem Allmächtigen zusteht. In der Schrift ist das Schweigen Gottes jedenfalls immer laut, denn wenn Gott schweigt, wird es schwierig für sein Volk – so schwierig, dass der Psalmist flehend ausruft:
Gott, schweig doch nicht, bleib nicht still, Gott, und bleib nicht ruhig! Denn siehe, deine Feinde toben, die dich hassen, erheben das Haupt.
Ein allzu leiser Gott, der sich nur mitteilen könnte, wenn der Mensch still ist, erschiene doch zu schwach1). Deshalb wird es meist laut in der Schrift, wenn Gott sich mitteilt, so wie in Psalm 29 wo Gottes Stimme wie Donnerhall (קול יהוח – gesprochen: qol JHWH) ist, die die Zedern des Libanon brechen und Wüsten beben lässt. Die Lautheit seiner Stimme ist so groß, dass das Volk sich Mittler wünscht, wie im Buch Exodus2):
Das ganze Volk erlebte, wie es donnerte und blitzte, wie Hörner erklangen und der Berg rauchte. Da bekam das Volk Angst, es zitterte und hielt sich in der Ferne. Sie sagten zu Mose: Rede du mit uns, dann wollen wir hören! Gott soll nicht mit uns reden, sonst sterben wir. Da sagte Mose zum Volk: Fürchtet euch nicht! Gott ist gekommen, um euch auf die Probe zu stellen. Die Furcht vor ihm soll über euch kommen, damit ihr nicht sündigt. Das Volk hielt sich in der Ferne und Mose näherte sich der dunklen Wolke, dort, wo Gott war.
Laut ist es auch bei Ezechiel. Dort verbirgt sich der Herrlichkeit Gottes, die von Menschen nicht unmittelbar geschaut werden kann, hinter vier geflügelten Wesen. Noch bevor überhaupt ein Wort gesprochen wird, wird es laut:
Ich hörte das Rauschen ihrer Flügel; es war wie das Rauschen gewaltiger Wassermassen, wie die Stimme des Allmächtigen, wenn sie gingen; es war ein tosendes Rauschen gleich dem Lärm eines Heerlagers. Wenn sie standen, ließen sie ihre Flügel herabhängen. Und es war ein Rauschen oberhalb des Gewölbes, über ihren Häuptern. Wenn sie standen, ließen sie ihre Flügel herabhängen.
Wie laut wird erst die Stimme Gottes sein, wenn sie in diesem Rauschen hörbar sein wird. Nein, es muss nicht still werden, damit man Gottes Stimme vernimmt. Sie ist laut hörbar und sichtbar in der ganzen Schöpfung. Gott weiß sich sogar im Lärm mitzuteilen. Wenn Gott aber spricht, dann wird verstummt der Mensch. So ist es auch bei Elija am Horeb. Gott zeigt dort, dass er nicht nur im Lauten ist, sondern auch im leisen Säuseln des Windes:
Da zog der HERR vorüber: Ein starker, heftiger Sturm, der die Berge zerriss und die Felsen zerbrach, ging dem HERRN voraus. Doch der HERR war nicht im Sturm. Nach dem Sturm kam ein Erdbeben. Doch der HERR war nicht im Erdbeben. Nach dem Beben kam ein Feuer. Doch der HERR war nicht im Feuer. Nach dem Feuer kam ein sanftes, leises Säuseln. Als Elija es hörte, hüllte er sein Gesicht in den Mantel, trat hinaus und stellte sich an den Eingang der Höhle. Da vernahm er eine Stimme, die ihm zurief: Was willst du hier, Elija?
Im Gesamtkontext wird aber vor allem deutlich, dass Gott sich dem Elija hier so mitteilt, wie er es in dieser Situation braucht – nach all den Machterweisen in einem Zeichen der Ruhe.
Wider die menschliche Logorrhoe
Gottes Rede ist voraussetzungslos. Er teilt sich mit – so oder so. Die Frage ist bloß, ob der Mensch ihn hören will. So kann der bloß stille Mensch durchaus die Stimmen seines Inneren hören, die er dann möglicherweis mit der Stimme Gottes verwechselt. Ein solcher Mensch würde dann letztlich sich selbst vergotten. Ein gefährliches Missverständnis, dem nicht viele Fromme erliegen. Stille und Schweigen sind also keine Werte in sich. Sie sind im biblischen Sinn eher Reaktionen staunenden Erschreckens – oder, theologisch ausgedrückt, der Gottesfurcht – angesichts der Größe Gottes. Der nämlich braucht kein menschliches Geplapper, sondern existentielle Zugewandtheit. Deshalb weiß der Psalmist auch:
Dir ist Schweigen Lobgesang, Gott, auf dem Zion, dir erfüllt man Gelübde.
Und Jesus selbst mahnt in seiner persönlichen Lehre des Betens:
Wenn ihr betet, macht es nicht wie die Heuchler! Sie stellen sich beim Gebet gern in die Synagogen und an die Straßenecken, damit sie von den Leuten gesehen werden. Amen, ich sage euch: Sie haben ihren Lohn bereits erhalten. Du aber, wenn du betest, geh in deine Kammer, schließ die Tür zu; dann bete zu deinem Vater, der im Verborgenen ist! Dein Vater, der auch das Verborgene sieht, wird es dir vergelten. Wenn ihr betet, sollt ihr nicht plappern wie die Heiden, die meinen, sie werden nur erhört, wenn sie viele Worte machen. Macht es nicht wie sie; denn euer Vater weiß, was ihr braucht, noch ehe ihr ihn bittet.
Das Schweigen hat daher wohl einen Wert, aber eben keinen spirituellen Wert in sich. Es ist nicht die Voraussetzung für die Rede Gottes; vielmehr beinhaltet es eine Mahnung, dass der Mensch seine eigenen Worte – die inneren wie die geäußerten – nicht für die Rede Gottes halten soll – ganz im Sinne der Warnung aus dem Mund des Propheten:
Meine Gedanken sind nicht eure Gedanken und eure Wege sind nicht meine Wege – Spruch des HERRN. So hoch der Himmel über der Erde ist, so hoch erhaben sind meine Wege über eure Wege und meine Gedanken über eure Gedanken.
Deshalb gibt schon die Thora einen entscheidenden Hinweis, echte Gottesrede von menschlichen Fake News über Gott zu unterscheiden:
Und wenn du denkst: Woran können wir ein Wort erkennen, das der HERR nicht gesprochen hat?, dann sollst du wissen: Wenn ein Prophet im Namen des HERRN verkündet und sein Wort sich nicht erfüllt und nicht eintrifft, dann ist es ein Wort, das nicht der HERR gesprochen hat. Der Prophet hat sich nur angemaßt, es zu sprechen. Du sollst dich dadurch nicht aus der Fassung bringen lassen.
Wenn das klargestellt ist, wird der Weg frei für die geradezu schöpferische Urgewalt des Wortes Gottes, mit dem er nicht nur schafft, sondern das sich gerade deshalb auch unüberhörbar im Großen wie im Kleinen in der Schöpfung mitteilt:
Denn wie der Regen und der Schnee vom Himmel fällt und nicht dorthin zurückkehrt, ohne die Erde zu tränken und sie zum Keimen und Sprossen zu bringen, dass sie dem Sämann Samen gibt und Brot zum Essen, so ist es auch mit dem Wort, das meinen Mund verlässt: Es kehrt nicht leer zu mir zurück, ohne zu bewirken, was ich will, und das zu erreichen, wozu ich es ausgesandt habe.
Herausforderndes Verhalten
Gott redet also. Permanent. Er teilt sich mit. Sein Wort nahm immer schon Gestalt an. Deshalb kann es nicht verwundern, dass Jesus als der fleischgewordene λόγος (gesprochen: lógos) auch nicht gerade schweigsam ist. Er redet und verkündet, wohl eher laut als leise. Wie soll man sich sonst die Szene mit den 5.000 vorstellen, die das Brot miteinander teilen, wie sein Reden in einem Haus, das so voll ist, dass die Menschen noch vor der Tür stehen müssen (vgl. Markus 2,1-12 parr). Kann man sich wirklich vorstellen, dass er die Wehe-Reden gegen die Pharisäer (vgl. Matthäus 23,1-39) nach Art der Frommen mit schief gelegtem Kopf und einer behauchten Stimme, die wohl andeuten soll, dass der Geist durch die Worte der so Sprechenden weht, dann aber letztlich doch eher logopädische Probleme nach sich ziehen wird, gesprochen hat. Selbst im Lesen ist der hart an Zynismus grenzende Spott doch laut hörbar:
Weh euch, ihr Schriftgelehrten und Pharisäer, ihr Heuchler! Ihr seid wie getünchte Gräber, die von außen schön aussehen, innen aber voll sind von Knochen der Toten und aller Unreinheit. So erscheint auch ihr von außen den Menschen gerecht, innen aber seid ihr voll Heuchelei und Gesetzlosigkeit.
Wie wird es wohl gewesen sein, als Jesus nach Prophetenart den Tempelkult in Frage stellte:
Dann kamen sie nach Jerusalem. Jesus ging in den Tempel und begann, die Händler und Käufer aus dem Tempel hinauszutreiben; er stieß die Tische der Geldwechsler und die Stände der Taubenhändler um und ließ nicht zu, dass jemand irgendetwas durch den Tempelbezirk trug. Er belehrte sie und sagte: Heißt es nicht in der Schrift: Mein Haus soll ein Haus des Gebetes für alle Völker genannt werden? Ihr aber habt daraus eine Räuberhöhle gemacht.
Da heißt es zwar, dass Jesus sie „belehrte“ (ἐδίδασκεν – gesprochen: edídasken). Das hört sich freilich nach einer eher gemäßigten Tonlage an. Bei näherem Hinsehen aber wird klar, dass Jesus hier sein Handeln seinen Jüngerinnen und Jüngern erschließt. Sein Auftreten im Tempel ist ein prophetischer Akt, der hier gedeutet wird. Der Akt selbst ist laut und wild – so wild, dass er nicht nur nicht verborgen bleiben kann; sein Handeln ist eine Herausforderung, die die so Angegriffenen nötigt, Konsequenzen zu ziehen:
Die Hohepriester und die Schriftgelehrten hörten davon und suchten nach einer Möglichkeit, ihn umzubringen. Denn sie fürchteten ihn, weil das Volk außer sich war vor Staunen über seine Lehre. Als es Abend wurde, verließ Jesus mit seinen Jüngern die Stadt.
In aller Öffentlichkeit
Dieser Jesus von Nazareth lebt öffentlich, wirkt öffentlich, redet öffentlich. So stellt er nicht nur Beziehungen her, sondern löst eine Bewegung aus, die schon zu seinen Lebzeiten wächst und letztlich über seinen Tod hinauswirkt, weil, ja weil sich in seiner Auferstehung vom Kreuzestod zeigt, dass Gott lauter ist als der Tod. Das Herstellen öffentlicher Beziehungen könnte man neudeutsch auch als „Public Relations“ bezeichnen. Das geht nicht leise. Um die Aufmerksamkeit der Menschen zu bekommen, muss man sichtbar agieren, reden, handeln. Man muss laut sein, um zu Massen sprechen zu können. Man muss die große Geste beherrschen, wenn fünf Brote Fünftausend satt machen sollen. Nein, dieser Jesus hat nicht nur nicht geschwiegen. Er war nicht nur nicht leise. Er war öffentlich hörbar.
Nur an einem bestimmten Punkt in seinem Leben verweigert er die Rede:
Nach der Verhaftung führte man Jesus zum Hohepriester Kajaphas, bei dem sich die Schriftgelehrten und die Ältesten versammelt hatten. Petrus folgte Jesus von Weitem bis zum Hof des Hohepriesters; er ging in den Hof hinein und setzte sich zu den Dienern, um zu sehen, wie alles ausgehen würde. Die Hohepriester und der ganze Hohe Rat bemühten sich um falsche Zeugenaussagen gegen Jesus, um ihn zum Tod verurteilen zu können. Sie fanden aber nichts, obwohl viele falsche Zeugen auftraten. Zuletzt kamen zwei Männer und behaupteten: Er hat gesagt: Ich kann den Tempel Gottes niederreißen und in drei Tagen wieder aufbauen. Da stand der Hohepriester auf und fragte Jesus: Willst du nichts sagen zu dem, was diese Leute gegen dich vorbringen? Jesus aber schwieg.
Hier findet sich eine der wenigen Verwendung des Verbes σιωπεῖν (gesprochen: siopeîn – schweigen). Angesichts der aussichtlosen Lage in der er sich, nicht zuletzt durch falsche Zeugenaussagen, befindet, erkennt er, dass jedes weitere Wort nicht der Wahrheitsfindung dienen wird. Sie werden es ihm doch nur weiter verdrehen. Die Würfel sind ja längst gefallen. Der Todesbeschluss gegen ihn steht schon zwei Tage vor diesem Verhör fest (vgl. Matthäus 26,1-5). Und doch wird auch diese Szene nicht mit einem Schweigen Jesu enden:
Darauf sagte der Hohepriester zu ihm: Ich beschwöre dich bei dem lebendigen Gott, sag uns: Bist du der Christus, der Sohn Gottes? Jesus antwortete: Du hast es gesagt. Doch ich erkläre euch: Von nun an werdet ihr den Menschensohn zur Rechten der Macht sitzen und auf den Wolken des Himmels kommen sehen. Da zerriss der Hohepriester sein Gewand und rief: Er hat Gott gelästert! Wozu brauchen wir noch Zeugen? Jetzt habt ihr die Gotteslästerung gehört. Was ist eure Meinung? Sie antworteten: Er ist des Todes schuldig. Dann spuckten sie ihm ins Gesicht und schlugen ihn. Andere ohrfeigten ihn und riefen: Christus, du bist doch ein Prophet, sag uns: Wer hat dich geschlagen?
Im Johannesevangelium wird diese Szene weiter entfaltet:
Der Hohepriester befragte Jesus über seine Jünger und über seine Lehre. Jesus antwortete ihm: Ich habe offen vor aller Welt gesprochen. Ich habe immer in der Synagoge und im Tempel gelehrt, wo alle Juden zusammenkommen. Nichts habe ich im Geheimen gesprochen. Warum fragst du mich? Frag doch die, die gehört haben, was ich zu ihnen gesagt habe; siehe, sie wissen, was ich geredet habe. Als er dies sagte, schlug einer von den Dienern, der dabeistand, Jesus ins Gesicht und sagte: Antwortest du so dem Hohepriester? Jesus entgegnete ihm: Wenn es nicht recht war, was ich gesagt habe, dann weise es nach; wenn es aber recht war, warum schlägst du mich?
Jesus betont geradezu den öffentlichen Charakter seiner Verkündigung. Nichts (οὐδέν – gesprochen: oudén) hat er im Geheimen (ἐν κρυπτῷ – gesprochen: en kryptô) gesprochen, alles war öffentlich. Das am Satzende stehende οὐδέν (oudén) betont dabei sogar, dass wirklich nicht, gar nichts im Verborgenen geblieben ist. Er hat immer mit Freimut (παρρησία – gesprochen: parrhesía), eben öffentlich geredet. Genau deshalb bedarf es jetzt keiner weiteren Worte mehr. Alles liegt offen zutage.
Schweigen ist Blech, Reden ist Gold
Was soll man angesichts dieses Vorbildes sagen, wenn man auf die Tendenz zum Vertuschen und Geheimhalten in der Kirche geht, gerade wenn es um den Missbrauch durch Kleriker geht. Da ist alles leise, Schweigen breitet sich aus – und Gott spricht nicht. Nein! Er spricht doch. Er klagt an aus dem Mund der Betroffenen. Ist da ein Ohr, das diese Klage Gottes hört?
Die Zahl der Betroffenen wurde 2018 mit der MHG-Studie offengelegt. 3.677 Kinder und Jugendliche waren von Missbrauch durch 1.670 Kleriker betroffen. Das ist nur die Hellziffer der Fälle, die offen zutage gefördert wurden. Es steht zu befürchten, dass die Dunkelziffer weitaus höher ist. Der MHG-Studie folgend haben die (Erz-)Bistümer eigene Gutachten mit unterschiedlichen Auftragslagen in Arbeit gegeben. In Aachen 3) und Berlin4) wurden nun die ersten veröffentlicht, in Köln5) hingegen hat man die Veröffentlichung eines Gutachtens ausgesetzt, was zu immenser Kritik in den Medien, aber auch an der Basis führte. Dabei wurden bisher weder in Aachen noch in Berlin direkte Konsequenzen aus den Erkenntnissen gezogen. Teilweise wurden zwar Namen Verantwortlicher genannt. Aber reicht das schon? Vielmehr fällt in der kommunikativen Strategie das laute Schweigen auf. So wurde der Einladung zur Presskonferenz zur Veröffentlichung des Berliner Gutachtens zwar vorab eine pdf-Datei mit dem Gutachten an die Vertreterinnen und Vertreter der Medien verschickt, in der aber mehrere hundert Seiten fehlten6). In Köln wartet man derweil auf die Veröffentlichung eines neuen Gutachtens am 18. März 2021. Bis dahin hüllen sich die Verantwortlichen in ein lautes Schweigen, das in den Ohren der Basis so laut dröhnt, dass die nicht mehr schweigen kann. Der Kölner Stadtdechant Robert Kleine fasst die Stimmungslage auf den Punkt genau zusammen:
„Die Ankündigung war: ‘Wir werden alles offen legen, wir werden die Namen nennen.’ Die Namen kennt aber doch schon heute jeder. Alle wissen, wer im Erzbistum in verantwortlicher Position war: Erzbischöfe, Generalvikare, Personalchefs. Wir haben im Erzbistum nach meiner Überzeugung im Bereich Intervention und Prävention von sexuellem Missbrauch Vorbildliches geleistet – ich würde sagen: für ganz Deutschland. Aber das fällt derzeit in sich zusammen wie ein Soufflé, in das man mit der Gabel pikst. Jetzt fragen die Leute zurecht: ‚Wie arbeitet ihr das auf, was nicht gut war, wo Verantwortliche nicht richtig gehandelt haben?‘ Mag sein, dass dieses
Fehlverhalten kein böser Wille war. Umso mehr ärgert es mich dann, wenn diejenigen, die doch wissen, dass ihr Tun und Unterlassen untersucht wird, nicht zwischendurch, schon vor der Veröffentlichung der Ergebnisse sagen: ‚Also, ich muss aus heutiger Sicht sagen: Ich habe Fehler gemacht, habe Situationen falsch eingeschätzt, bin von falschen Voraussetzungen ausgegangen – und daraus ziehe ich die Konsequenz.‘“7)
Robert Kleine verweist zu Recht darauf, das im politischen Bereich Verantwortungsträger diese selbst dann übernehmen und Konsequenzen ziehen, wenn es sich um Fehler von Vorgängern handelt:
„Bei uns waren Verantwortliche auch persönlich involviert. Daher müssten sie erst recht sagen: Dafür stehe ich ein. Das wünsche ich mir sehr. Denn sonst werden die Wellen der Empörung nach dem 18. März noch höher schlagen.“8)
Laut, lauter, Lauterkeit
Was also fehlt, ist genau jene παρρησία, jener Freimut, der das Reden und Handeln Jesu ausmachte – und das offenkundig auch zu den zentralen Tugenden der Verkünderinnen und Verkünder der frühen Kirche gehörte. Angesichts des öffentlichen Prozesses, dem sich Paulus gegenüber sieht, stärkt Gott ihn:
Fürchte dich nicht! Rede nur, schweige nicht! Denn ich bin mit dir, niemand wird dir etwas antun. Viel Volk nämlich gehört mir in dieser Stadt.
Nimmt sich das dröhnende (Ver-)Schweigen vieler Verantwortlicher in der Kirche der Vergangenheit und der Gegenwart da nicht wie das Verhalten Kleingläubiger aus, die der lauten Macht Gottes nicht über den Weg trauen? Haben sie nichts daraus gelernt, dass (Ver-)Schweigen zu nichts führt, sondern das so Beschwiegene sich auf anderem Weg laute bemerkbar machen wird? Auch hier könnte es helfen, wenn sie sich an dem orientieren, dem zu folgen sie vorgeben:
Als er sich schon dem Abhang des Ölbergs näherte, begann die Schar der Jünger freudig und mit lauter Stimme Gott zu loben wegen all der Machttaten, die sie gesehen hatten. Sie riefen: Gesegnet sei der König, der kommt im Namen des Herrn. Im Himmel Friede und Ehre in der Höhe! Da riefen ihm einige Pharisäer aus der Menge zu: Meister, weise deine Jünger zurecht! Er erwiderte: Ich sage euch: Wenn sie schweigen, werden die Steine schreien.
Lautes Schweigen führt zu lauterer Klage. Das Einzige, was helfen würde, wäre laute Lauterkeit, in der sich wahres Gottvertrauen gerade in der Krise erweisen würde:
Weil wir also eine solche Hoffnung haben, treten wir mit großem Freimut auf.
Je größer der Freimut (πολλῇ παρρησίᾳ – gesprochen: pollê parrhesía), desto mehr Gottvertrauen wird auch offenbar. Umgekehrt gilt also wohl: Schweigen ist nicht nur keine zwingende Voraussetzung für die Rede Gottes; zum falschen Zeitpunkt kann es sogar Erweis mangelnden Gottvertrauens sein, denn Gottes Weisung ist klar:
Rede nur, schweige nicht! Denn ich bin mit dir.
Unter dem Teppich modert es
Die Absichten derer, die jetzt (noch) schweigen, mögen durchaus hehr und lauter sein. Kommunikation aber ist keine Einbahnstraße. Das Gemeinte muss nicht das Verstandene sein. Schweigen ist zu ambivalent. Vor allem, wenn das Offenkundige längst zu Tage getreten ist und jede und jeder weiß, wer verantwortlich ist, kann das Schweigen in sein Gegenteil verkehrt werden. Dann wird es laut. Dann weckt Schweigen kein Vertrauen, sondern Misstrauen. Die edelste Speise, unter den Teppich gekehrt, wird anfangen zu stinken. Schweigen ist jetzt gerade nicht das Gebot der Stunde. Im Gegenteil: Wer angesichts der Krise um den Missbrauch zu lange schweigt und Aufklärung aufschiebt, steht selbst bei bestem Willen in der Verantwortung für die Folgen eines immer mehr verloren gehenden Vertrauens. Wer zu lange schweigt, ist des Glaubens dann nicht mehr würdig. Deshalb: redet endlich, schweigt nicht! Omertà? No!
Bildnachweis
Titelbild: Skulptur “Der Rufer” an der Straße des 17. Juni (Gerhard Marcks – Foto: OTFW, Berlin) – Quelle: Wikicommons – lizenziert als CC BY-SA 3.0.
Video: “Gott schweigt nicht”, Onlinediskussion zwischen Dr. Till Magnus Steiner und Dr. Werner Kleine (Dei Verbum direkt, 5.10.2016) – Quelle: Vimeo – Alle Recht vorbehalten.
Einzelnachweis
1. | ↑ | Vgl. hierzu auch die Online-Diskussion zwischen Till Magnus Steiner und Werner Kleine zum Thema “Gott schweigt nicht”, Dei Verbum direkt, 5.10.2016, Vimeo – Quelle: https://vimeo.com/showcase/3714451/video/187797043 [Stand: 1. Februar 2021]. |
2. | ↑ | Vgl. hierzu auch Deuteronomium 5,23ff. |
3. | ↑ | Vgl. hierzu https://www.bistum-aachen.de/aufarbeitung/ [Stand: 31. Januar 2021]. |
4. | ↑ | Vgl. hierzu https://www.erzbistumberlin.de/medien/pressestelle/aktuelle-pressemeldungen/pressemeldung/news-title/vorstellung-des-gutachtens-naechste-schritte-5762/ [Stand: 31. Januar 2021]. |
5. | ↑ | Vgl. hierzu https://www.erzbistum-koeln.de/news/Informationen-zum-aktuellen-Stand-der-Unabhaengigen-Untersuchung/ [Stand: 31. Januar 2021]. |
6. | ↑ | Vgl. hierzu Christiane Florin, Stand Missbrauchs-Aufklärung in Erzbistümern Berlin und Köln, Deutschlandfunk, Informationen am Mittag, 30.1.2021 – Quelle: https://ondemand-mp3.dradio.de/file/dradio/2021/01/29/stand_missbrauchs_aufklaerung_in_erzbistuemern_berlin_und_dlf_20210129_1323_09219afa.mp3 [Stand: 31. Januar 2021]. |
7. | ↑ | Robert Kleine im Gespräch mit Joachim Frank, „Namen der Verantwortlichen kennt jeder“. Stadtdechant Kleine fordert persönliche Konsequenzen aus Missbrauchsskandal, Kölner Stadtanzeiger online, 1.2.2021 – Quelle: https://www.ksta.de/koeln/stadtdechant-im-interview–ich-kann-den-kirchenaustritt-derzeit-niemandem-verdenken–38000036 [Stand: 1. Februar 2021]. |
8. | ↑ | Robert Kleine im Gespräch mit Joachim Frank, „Namen der Verantwortlichen kennt jeder“. Stadtdechant Kleine fordert persönliche Konsequenzen aus Missbrauchsskandal, Kölner Stadtanzeiger online, 1.2.2021 – Quelle: https://www.ksta.de/koeln/stadtdechant-im-interview–ich-kann-den-kirchenaustritt-derzeit-niemandem-verdenken–38000036 [Stand: 1. Februar 2021]. |
Ist dieses Chorgebet mehr Lippenbekenntnis als echtes Bekenntnis?
“Ich bekenne Gott, dem Allmächtigen, und allen Brüdern und Schwestern, dass ich Gutes unterlassen und Böses getan habe –
ich habe gesündigt in Gedanken, Worten und Werken durch meine Schuld, durch meine Schuld, durch meine große Schuld.
Darum bitte ich die selige Jungfrau Maria,
alle Engel und Heiligen und euch, Brüder und Schwestern, für mich zu beten bei Gott, unserm Herrn.”
Eine Schuld vergeben, sollte nicht nur von Gott in der Beichte erfolgen, sondern an denen Unrechtes getan wurde!
“Kannst du mir verzeihen, denn ich habe Sünde an dir getan!”; diese Worte fallen sicher vielen sehr schwer.
Sprach Jesus nicht:
“Bittet und euch wird gegeben!”
Lieber Herr Fässler,
ich bin überzeugt, dass die Vergebung bei aufrichtiger Bitte erfolgt. Psychologisch aber hat die “objektiv” zugesagte Vergebung noch eine besondere Qualität, insofern sie eben nicht rein subjektiv, sondern “von außen” gewährt, der eigenen Subjektivität enthoben ist. Das kann (muss nicht!) für manch eine und manch einen schon noch eine besondere Bedeutung haben. Insofern hat die Beichte – als amtlich zugesagte Vergebung – ihre Berechtigung. Als alleiniger Weg aber ginge sie sicher an dem von Ihnen zitierten Wort Jesu vorbei.