den Artikel
Die Kirche blickt auf eine Erfolgsgeschichte zurück. Anfangs sah alles nach einem gescheiterten Projekt aus, als die anfänglich kleine, aber stetig wachsende Bewegung des Jesus von Nazareth nach seinem Kreuzestod ihr jähes Ende vor Augen hatte und sich selbst die engsten Vertrauten zerstreuten. Aber sie sammelten sich schnell wieder. Die Erfahrung des Auferstandenen ließ aus der Asche verbrannter Erwartungen neue Verheißungen erstehen. Die Bewegung erfuhr frischen Wind. Begeistert verkündeten sie die Botschaft des vom Kreuzestod Auferstandenen – eine Botschaft, die manchem wie das Gerede von Verstandverlorenen anmuten musste, andere aber ob der Begeisterung und existentiellen Ergriffenheit in ihren Bann schlug. Wie viele Männer und Frauen mögen es gewesen sein, die aus den Graswurzeln Galiläas begonnen, eine glühend-blühende Bewegung in Gang zu setzen, die schließlich die ganze Welt umspannen sollte? 200, vielleicht 300 – mehr werden es nicht gewesen sein. An Pfingsten nach Kreuzestod und Auferstehung Jesus, 50 Tage danach, an Schawuot, dem Wochenfest, an dem man im Judentum für die Erstlingsfrüchte dankt, bricht die Bewegung aus sich selbst aus – so, dass etwas Neues entsteht. Die, denen sieben Wochen zuvor das Scheitern in Glieder und Geist gebrannt war, werden neu belebt. Geistgetrieben entfachen sie aus der Asche neue Glut die zum Brand wird. Innerhalb nur eines Tages wächst die Gemeinschaft rasant an:
An diesem Tag wurden ihrer Gemeinschaft etwa dreitausend Menschen hinzugefügt.
Und das war nur der Anfang, wie Lukas in der Apostelgeschichte nur wenige Verse später zu berichten weiß:
Und der Herr fügte täglich ihrer Gemeinschaft die hinzu, die gerettet werden sollten.
Eine Idee vom Anfang
Das waren für die Kirche offenkundig rosige Zeiten. Ein so exponentielles Wachstum hat sie wohl kaum mehr erlebt. Innerhalb kürzester Zeit hat sich ihre Mitgliederzahl um ein mehr als Zehnfaches gesteigert. Sollte man da nicht das Rezept befolgen, das Lukas mit romantischem Blick beschreibt?
Sie hielten an der Lehre der Apostel fest und an der Gemeinschaft, am Brechen des Brotes und an den Gebeten. Alle wurden von Furcht ergriffen; und durch die Apostel geschahen viele Wunder und Zeichen. Und alle, die glaubten, waren an demselben Ort und hatten alles gemeinsam. Sie verkauften Hab und Gut und teilten davon allen zu, jedem so viel, wie er nötig hatte. Tag für Tag verharrten sie einmütig im Tempel, brachen in ihren Häusern das Brot und hielten miteinander Mahl in Freude und Lauterkeit des Herzens. Sie lobten Gott und fanden Gunst beim ganzen Volk.
In der Tat findet sich bei so mancher Christin und so manchem Christen der Gegenwart, die mit berechtigter Trauer auf die steigenden Zahlen derer blicken, die der Kirche den Rücken kehren, ein Wunschdenken, das mit so verklärtem Blick auf eine vermeintlich reine und unversehrte Kirche zurückschaut und das Heil in Wundern und Zeichen, starrem Blick auf Lehrformeln und formelhafter Liturgie sucht. Wenn alles nur so wäre wie früher, dann würde alles eben wie früher sein.
Dass dabei übersehen wird, dass selbst Lukas das Bild einer Urgemeinde romantisierend übertreibt, um seine Erstadressaten zu neuem Glaubensschwung zu motivieren, wird schon daran deutlich, dass schon wenige Absätze später von ebenso tiefgreifenden wie tödlichen Konflikten in der Urgemeinde berichtet wird, wenn die heile Welt und Gütergemeinschaft der frühen Gemeinde durch den Betrug des Hananias und der Saphira gestört wird:
Ein Mann namens Hananias aber und seine Frau Saphira verkauften zusammen ein Grundstück und mit Einverständnis seiner Frau behielt er etwas von dem Erlös für sich. Er brachte nur einen Teil und legte ihn den Aposteln zu Füßen. Da sagte Petrus: Hananias, warum hat der Satan dein Herz erfüllt, dass du den Heiligen Geist belügst und von dem Erlös des Grundstücks etwas für dich behältst? Hätte es nicht dein Eigentum bleiben können und konntest du nicht auch nach dem Verkauf frei über den Erlös verfügen? Warum hast du in deinem Herzen beschlossen, so etwas zu tun? Du hast nicht Menschen belogen, sondern Gott. Als Hananias diese Worte hörte, stürzte er zu Boden und starb. Und über alle, die es hörten, kam große Furcht. Die jungen Männer standen auf, hüllten ihn ein, trugen ihn hinaus und begruben ihn. Nach etwa drei Stunden kam seine Frau herein, ohne zu wissen, was geschehen war. Petrus fragte sie: Sag mir, habt ihr das Grundstück für so viel verkauft? Sie antwortete: Ja, für so viel. Da sagte Petrus zu ihr: Warum seid ihr übereingekommen, den Geist des Herrn auf die Probe zu stellen? Siehe, die Füße derer, die deinen Mann begraben haben, stehen vor der Tür; auch dich wird man hinaustragen. Im selben Augenblick brach sie vor seinen Füßen zusammen und starb. Die jungen Männer kamen herein, fanden sie tot, trugen sie hinaus und begruben sie neben ihrem Mann. Da kam große Furcht über die ganze Gemeinde und über alle, die davon hörten.
Es gab also eine Idee des Anfangs, ein Ideal, das aber, wenn überhaupt, wohl nur kurz Bestand hatte. Das urkirchliche Paradies erfährt eben seinen Sündenfall. Die heilige Kirche ist nicht vor menschlicher Fehlerhaftigkeit gefeit!
Die Herausforderungen der Gegenwart
Es bringt also wenig, vermeintliche Ideale eines Anfangs zu beschwören, die eben selbst nicht dauerhaft Bestand hatten. Das gilt zu allen Zeiten der Kirchengeschichte. Nie gab es den Idealzustand einer einen, heiligen Kirche, der von dauerhaftem Bestand war. Die Rückschau verklärt dabei oft den Blick. Rückschauend weiß man ohnehin alles besser. Wer Montags in der Zeitung die Lottozahlen liest, weiß natürlich, wie er Samstags hätte tippen müssen. Wer heute von den Taten der Eltern oder Großeltern erzählt, verklärt ihr Wesen oft so, dass man den Eindruck hat, es handele sich nicht um Menschen. Entweder müssen es Engel oder Teufel gewesen sein, die einem wahlweise das Paradies oder die Hölle auf Erde bereiteten. So ist es auch mit der Kirche. Die einen verklären die vorkonziliare Zeit als Zeit einer heiligen und mystischen Kirche – und übersehen dabei, dass das Zweite Vatikanische Konzil nicht vom Himmel fiel, sondern schon Ergebnis eines Prozesses der Entfremdung von Kirche und Welt war, der heute noch sichtbarer zutage tritt; die anderen hingegen verklären ihrerseits das Zweite Vatikanische Konzil als Bruch mit einer vermeintlich erstarrten vorkonziliaren Zeit und übersehen dabei, dass das Konzil eine Reform, aber keine Revolution der Theologie darstellt, eine Erneuerung des Denkens auf dem Grund der vorgängigen Tradition, so wie Tradition immer ein Prozess des Fortschreitens aus Vergangenem in die Zukunft bedeutet – oder, um es mit den Worten des Evangeliums zu sagen:
Da kamen die Jünger des Johannes zu ihm und sagten: Warum fasten deine Jünger nicht, während wir und die Pharisäer fasten? Jesus antwortete ihnen: Können denn die Hochzeitsgäste trauern, solange der Bräutigam bei ihnen ist? Es werden aber Tage kommen, da wird ihnen der Bräutigam weggenommen sein; dann werden sie fasten. Niemand setzt ein Stück neuen Stoff auf ein altes Gewand; denn der neue Stoff reißt doch wieder ab und es entsteht ein noch größerer Riss. Auch füllt man nicht jungen Wein in alte Schläuche. Sonst reißen die Schläuche, der Wein läuft aus und die Schläuche sind unbrauchbar. Jungen Wein füllt man in neue Schläuche, dann bleibt beides erhalten.
Das Festhalten an Vergangenem bewirkt eben keinen steten Aufbruch. Ein Aufbruch ohne die Erfahrung des Vergangenen hingegen ist ziellos. Und das alles fordert im Heute, im Hier und Jetzt heraus. Haben das diejenigen, die in vielen (Erz-)Bistümern Zukunftsprozesse steuern und planen, im Blick?
Jetzt!
Wie sehr das Hier und Jetzt für die Kirche bedeutsam sein sollte, wird schon daran sichtbar, dass Jesus Christus selbst zu seinen irdischen Zeiten nichts auf den nächsten Tag verschiebt:
Sucht aber zuerst sein Reich und seine Gerechtigkeit; dann wird euch alles andere dazugegeben. Sorgt euch also nicht um morgen; denn der morgige Tag wird für sich selbst sorgen. Jeder Tag hat genug an seiner eigenen Plage.
Man kann freilich an den leichten Unterschieden der matthäischen und der lukanischen Version des Vaterunsers erkennen, dass hier wohl kaum ein naives Gottvertrauen gemeint sein kann, das ohne menschliches Zutun auskommt. Heißt es bei Matthäus noch
Gib uns heute das Brot, das wir brauchen!
überliefert Lukas:
Gib uns täglich das Brot, das wir brauchen!
Der Unterschied ist minimal und doch markant. Bei Matthäus geht es tatsächlich ums heute (σήμερον – gesprochen: sémeron), bei Lukas hingegen um ein stets neues heute, eben ein tägliches Brot (ἡμέραν – gesprochen: heméran). Lukas, denkt eben typisch hellenistisch schon von heute aus in die Zukunft, während Matthäus eher semitisch das Heute selbst zu sich kommen lässt. Morgen wird ein neues Heute sein, aber jetzt ist eben jetzt – und dieses Jetzt ist der Zeitpunkt, an dem sich Gottes Gegenwart ereignet. Vielleicht ist das der Grund, warum es Jesus im Markusevangelium so eilig hat. Sage und schreibe 42mal findet sich die kleine Temporalpartikel εὐθύς (gesprochen: euthys) laut Auskunft einer Konkordanz im ältesten der Evangelien und markiert eine unverzügliche, sofortige Handlung. Alles geschieht in heiliger Eile, im Jetzt, nichts duldet Aufschub, nichts wird in eine ungewisse Zukunft verschoben. Das Heil, das Wort, die Verkündigung ereignen sich jetzt, sogleich, sofort – eben εὐθύς.
Dieses „Jetzt!“ ist charakteristisch und offenbarend. Gott ist Gegenwart. Er ist, der „ich bin“. Gott wird und vergeht nicht. Er kennt keine Zukunft und keine Vergangenheit. Er ist pure, reine Gegenwart in höchster Dynamik. Deshalb kennt auch die Ewigkeit keine Vergangenheit und keine Zukunft. Ewigkeit ist unvergänglich, pure reine Gegenwart, ein Zustand, der in Raum und Zeit kaum fassbar ist, wird jeder gelebte Moment im Augenblick seiner Existenz schon vergangene Zukunft. Liegt hier der Grund, warum viele Pastoralplaner sich einer Zukunft verlieren, die so nie Gegenwart werden wird, anstatt sich mit einer Gegenwart auseinanderzusetzen, die schon Herausforderung genug ist? Die Zukunft ist ja nie erreichbar, ein ebenso bleibender wie beliebter Fluchtpunkt für Visionäre, die als Utopisten keinen Ort in der Gegenwart haben. Dabei gehört das „Heute“ zu den Herausforderungen, denen Jesus selbst am Kreuz in einem seiner letzten Worte noch Bedeutung gibt, wenn er dem Mitgekreuzigten, der sich an ihn wendet zuspricht:
Amen, ich sage dir: Heute (σήμερον) noch wirst du mit mir im Paradies sein.
Gott ist und bleibt Gegenwart. Er kommt nicht, er ist da! Sollten die Verkünderinnen und Verkünder sich nicht darauf besinnen?
Gestaltwandel
Nun könnte man aus diesem Befund ableiten, dass es dann doch einen bleibenden Zustand der Kirche geben müsse, den man nur widerherzustellen brauche, damit die Blumen des Glaubens wieder blühten. Dieser Schluss übersieht freilich, dass die Ewigkeit zwar die Fülle der Zeiten ist, die Zeit selbst in ihr aufgehoben ist, in der Zeit aber letztlich Vergänglichkeit, Werden und Vergehen wirksam sind. Nichts bleibt, wie es ist. Nichts wird, wie es war. Nichts war, wie es sein wird. Die Zeit erweist sich somit als eine Art Himmel, die die Herrlichkeit des Ewigen solange verbirgt, bis er sich vollkommen offenbaren wird. Das bedeutet aber eben auch, dass die Kirche selbst nicht nur das Reich Gottes, sondern in sich eine zeit-räumliche Existenz ist, die im Reich Gottes selbst aufgehoben sein wird. Als Teil der zeit-räumliche Existenz ist sie Werden und Vergehen unterworfen – nicht in dem Sinn, dass sie vergehen könnte, wohl aber in dem Sinn, dass sich ihre Gestalt beständig wandelt. Veränderung, Reform, Erneuerung sind in ihre DNA eingeschrieben. Deshalb verharren Christen heute eben nicht mehr wie die Urgemeinde Tag für Tag einmütig im Tempel und brechen täglich in ihren Häusern das Brot (vgl. Apostelgeschichte 2,46). Keine Christin und kein Christ der Gegenwart versteht sich wohl kaum mehr als Anhänger einer alternativen Form des jüdischen Glaubens, der sich nach dem Tempel sehnte – auch wenn es den Christgläubigen der Gegenwart gut zu Gesicht stünde, sich immer wieder der jüdischen Wurzeln des eigenen Glauben gegenwärtig zu werden; auch wird heute das Brotbrechen als Feier des Abendmahls bzw. der Eucharistie meist nicht mehr in Häusern gefeiert, sondern in Kathedralen, Domen und Kirchen, die eher großen, manchmal heutzutage gar zu großen Versammlungsräumen gleichen denn Gebäuden, in denen Hausgemeinschaften zusammen kommen, auch wenn die Hausgemeinschaften, von denen in der frühen Kirche die Rede ist, nicht als rein familiäre Zusammenkünfte im modernen Sinn verstehen darf1). Dabei hat sich die Abwendung vom Tempel schon in frühchristlicher Zeit vollzogen – und das nicht ohne Konflikte. Es war wohl in Antiochia, wo Diasporajuden, die zum Glauben an den vom Kreuzestod Auferstandenen gekommen waren, die Bedeutung dieses Ereignisses theologisch reflektierten und das fundamental Neue ihrer Erkenntnis nicht nur in einem neuen Namen zum Ausdruck brachten:
In Antiochia nannte man die Jünger zum ersten Mal Christen.
Auch die Verkündigungsweise änderte sich, indem man sich nun auch an Nichtjuden, an die sogenannten Heiden, richtete und ihnen das Evangelium verkündete und neue, heidenchristliche Gemeinden gründete – eine Vorgehensweise, die zum Konflikt mit den althergebrachten Sichtweisen in der Jerusalemer Urgemeinde führt, auf dem Apostelkonzil letztlich doch bestätigt wurde, was den Konflikt aber nur langsam befriedete, wie unter anderem der antiochenische Zwischenfall zwischen Paulus, einem Vertreter der antiochenischen Theologie, und Petrus (hebräisch „Kephas“ genannt), einer Säule der Jerusalemer Urgemeinde, zeigt:
Als Kephas aber nach Antiochia gekommen war, habe ich ihm ins Angesicht widerstanden, weil er sich ins Unrecht gesetzt hatte. Bevor nämlich einige von Jakobus eintrafen, hatte er mit den Heiden zusammen gegessen. Nach ihrer Ankunft aber zog er sich zurück und sonderte sich ab, weil er die aus der Beschneidung fürchtete.
Bei allen Konflikten aber zeigt sich, dass schon die früheste Kirche in stetem Gestaltwandel war – ein Prozess, dem sich die Kirche in ihrer Geschichte letztlich immer wieder stellen musst. Es gab die Zeit der iro-schottischen Mission, die von Wandermönchen getragen wurde, der Klöster und ihrer Kultur, schließlich der Pfarrei mit einer Idee der Pfarrfamilie, der viele heute noch anhängen, die aber mit etwa 150 Jahren noch jung und kirchengeschichtlich eine ziemlich einmalige Erscheinung ist. Und doch prägt sie die kirchliche Gegenwart und Befindlichkeit vieler Christinnen und Christen, so das jede Veränderung emotional als Bedrohung empfunden wird. Das ist verständlich – und doch hindert das Beharren ein Fortschreiten der Kirche in Raum und Zeit. Vor allem verstellt es den Blick auf den eigentlichen Auftrag der Kirche, der ja nicht im Selbsterhalt besteht, sondern in der Verkündigung des Evangeliums in Wort und Tat. Die Kirche ist nicht Ziel, sondern Zweck aller Sendung; eben so stellt es auch das Zweite Vatikanische Konzil fest:
„Die Kirche ist ja in Christus gleichsam das Sakrament, das heißt Zeichen und Werkzeug für die innigste Vereinigung mit Gott wie für die Einheit der ganzen Menschheit.“2)
Es ist also immer Zeit für Veränderung!
Kleiner Anfang, große Herausforderung, gewaltige Wirkung – ein Erfolgskonzept!
Ob Paulus je gedacht hat, er könnte den Mund zu voll genommen haben, als er sich vornahm, das Evangelium bis nach Spanien zu tragen (vgl. Römer 15,24) – also bis an das Ende der ihm bekannten Welt? Auf jeden Fall stellt er sich mit Geist und Seele, mit Haut und Haar, mit seiner ganzen Existenz in den Dienst des Evangeliums:
Ich will aber, dass ihr wisst, Brüder und Schwestern, dass alles, was mir zugestoßen ist, die Verbreitung des Evangeliums gefördert hat.
Wie geht also einer vor, der sich ganz der Sache verschrieben hat, den Auftrag des Auferstandenen nicht nur mit Lippen zu bekennen, sondern mit Herz und Hand und Fuß Wirklichkeit werden zu lassen, ja ihm in sich selbst Gestalt zu geben? Jenen Auftrag, den Markus überliefert:
Geht hinaus in die ganze Welt und verkündet das Evangelium der ganzen Schöpfung!
In vergleichbarer Weise heißt es bei Matthäus:
Darum geht und macht alle Völker zu meinen Jüngern; tauft sie auf den Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes.
Paulus scheint den Geist dieser Weisungen in sich eingefleischt zu haben. Wäre er ein bloß charismatisch eingebildeter Schwärmer gewesen, hätte er sich in dieser Herausforderung verloren. Freilich wusste er, dass Begeisterung alleine nicht reicht, sondern Weisheit, Glaubenskraft und Erkenntnis (vgl. 1 Korinther 11,8-10) ebenso wie Verstand und Vernunft (vgl. 1 Korinther 14,19), vor allem aber die Fähigkeit, die Geister zu unterscheiden (vgl. 1 Korinther 12,10). Bei seiner selbstgestellten Aufgabe, das Evangelium bis an die Grenzen der (ihm bekannten) Erde zu verkünden, muss er also planvoll vorgehen. Er muss sein Missionswerk verwalten!
Form follows function
In der Gegenwart wird viel und gerne beklagt, bei Veränderung gehe es nur um Strukturen. Dabei sind es die Strukturen, die der Pastoral Form geben. Ein unstrukturierter Inhalt ist nicht nur form-, sondern vor allem belanglos. So wie ein Leib der Seele Heimat gibt, so informieren Strukturen Inhalte. Das bedingt, dass die Strukturen den Inhalten folgen sollten, besteht doch zwischen Inhalten und Strukturen ein Verhältnis der wechselseitigen Abhängigkeit. Wenn es nur um Strukturen ginge, werden sich die Inhalte anpassen – und in der Tat ist das wohl auch in der Kirche immer wieder passiert und wird geschehen, wenn die Form über den Inhalt gesetzt wird. Wenn formale Kriterien wie Amtsfragen und Hierarchien zum Inhalt erhoben werden, bleibt die Dynamik des Geistes ebenso auf der Strecke wie die schöpferische Kraft des Wortes Gottes. Werden hingegen Strukturen als zeit- und raumbedingt erkannt, kann das Wort Gottes immer neu Fleisch werden (vgl. Johannes 1,14), weil das Fleisch eben den Gesetzen der Veränderung unterworfen ist. Nicht ohne Grund weiß Paulus, dass wir
diesen Schatz (…) in zerbrechlichen Gefäßen [tragen]; so wird deutlich, dass das Übermaß der Kraft von Gott und nicht von uns kommt.
Deshalb kann er ausrufen:
Wir verkünden nämlich nicht uns selbst, sondern Jesus Christus als den Herrn, uns aber als eure Knechte um Jesu willen. Denn Gott, der sprach: Aus Finsternis soll Licht aufleuchten!, er ist in unseren Herzen aufgeleuchtet, damit aufstrahlt die Erkenntnis des göttlichen Glanzes auf dem Antlitz Christi.
Sein Missionswerk benötigt also eine Form, die aber nicht für sich selbst steht, sondern seinem Werk dient – mehr noch: Im Idealfall leuchte in der Form der Inhalt selbst auf. Wie also organisiert der große Missionar sein Werk?
Mitarbeiter, Nachbarschaften – und ein Verwaltungszentrum
Es ist bemerkenswert, das Paulus in seinen Briefen immer wieder enge Mitarbeiter nicht nur erwähnt, sondern als Mitautoren nennt. Nimmt man die sieben echten Paulusbriefe3)), werden als Mitautoren Sosthenes (1 Korinther), Timotheus (2 Korinther, 1 Thessalonicher und Philemon), alle anwesenden Brüder (Galater), Aufseher und Diener (ἐπισκόποι4) καὶ διακόνοι – gesprochen: episkópoi kaì diakónoi) sowie Silvanus (1 Thessalonicher) genannt. Der Befund zeigt rein quantitativ, dass es sich bei Sostehnes, Silvanus und insbesondere bei Timotheus wohl um engere Mitarbeiter des Paulus handelt, denen er auch Aufgaben delegiert und als Emissäre an seiner Statt aussendet. Die Briefschlüsse zeigen darüber hinaus in den Grußlisten einen weitaus größeren Kreis weiterer mit Paulus verbundener Personen, Männern wie Frauen an, die offenkundig in den Gemeinden vor Ort tragende Funktionen hatten, wobei betont wird, dass das eben für Männer wie für Frauen gilt!
Paulus greift also sowohl in seiner nächsten Nähe, aber auch in den Gemeinden vor Ort auf ihm vertraute Personen zurück. Das an sich zeigt schon ein grundlegendes Strukturprinzip, das eine Dialektik von Zentrale und Dezentralisierung andeutet. Die Zentrale des Paulus lag wohl in Ephesus – darauf deuten jedenfalls Notizen in 1 Korinther 16,8.19 oder die lukanischen Schilderungen seines Aufenthaltes in Ephesus in Apostelgeschichte 19 hin. Von dort aus scheint er nicht nur seine Missionsreisen organisiert und einen Teil seiner Briefe geschrieben zu haben. Möglicherweise unterhielt er hier auch eine Art Archiv. Darauf deutet jedenfalls der Befund hin, dass Paulus eigene Briefe, die nicht erhalten sind, zitiert – so etwa in 1 Korinther 5,95) oder 2 Korinther 2,46).
Paulus agiert also zentral, unterhält aber mit seinen Gemeinden eine rege Kommunikation mit Briefen, den fernkommunikativen Mitteln seiner Zeit. Er hat einen Stab engerer Mitarbeiter, die er mit Kompetenzen versehen delegiert und entsendet. In den Gemeinden vor Ort kann er auf Vertraute setzen, die das Leben der Gemeinden vor Ort leiten und begleiten. Dabei setzt er offenkundig auf eine räumliche Nähe und Nachbarschaft. Nicht nur, dass sich die Gemeinden in Hauskirchen treffen – wobei „Hauskirche“ hier mehr als einen engeren familiären Bereich umfasst, sondern den gesamten Hausstand umfasst. Schon früh strahlt von den Keimzellen in einzelnen Städten die Botschaft in das Umland aus, wo neue Gemeinden entstehen. Das spiegelt sich in den Adressierungen der beiden Korintherbriefe wider. Richtet sich 1 Korinther noch
an die Kirche Gottes, die in Korinth ist – die Geheiligten in Christus Jesus, die berufenen Heiligen – , mit allen, die den Namen unseres Herrn Jesus Christus überall anrufen, bei ihnen und bei uns.
adressiert 2 Korinther schon
die Kirche Gottes, die in Korinth ist, und an alle Heiligen in ganz Achaia.
Als Achaia wird das Umland Korinths bezeichnet, die Landschaft gewissermaßen, in der es offenkundig bereits Ableger der korinthischen gibt. Der Zentrale in Ephesus korrespondiert also eine zunehmende Dezentralisierung. Hier die Organisation, dort die Verkündigung vor Ort. Das war – zumindest gemessen an der nachhaltigen Bedeutung des Paulus, eine Struktur von nicht zu unterschätzender Dynamik und Wirksamkeit.
Zentrale Verwaltung, dezentrale Pastoral – ein Lob der Nachbarschaft
Die Kirche der Gegenwart steht wieder einmal vor der Herausforderung, eine neue Struktur zu finden, die ihrem Auftrag, das Evangelium in aller Welt allen Geschöpfen zu verkünden gerecht wird. Dabei haben sich im Laufe der Kirchengeschichte zahlreiche Elemente entwickelt – möglicherweis durch Zutun des Geistes, möglicherweise aber auch durch menschliches Wollen (hier ist die Unterscheidung der Geister vonnöten!) – die die Kirche prägen und den Weg der Kirche aus Vergangenem durch das Heute in die Zukunft determinieren. In Westeuropa steigen nicht nur die Zahlen der Kirchenaustritte, es sinken auch die Zahlen der hauptberuflichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in der Kirche. Gleichwohl bleibt die Aufgabe der Verkündigung erhalten. Das vertraute Prinzip der Pfarrei, die als Pfarrfamilie um den priesterlichen Pfarrvater eine Gemeinde bildet, hat sich überlebt. Man kann nun natürlich danach rufen, die Zulassungsbedingungen für das Priesteramt zu verändern, den Zölibat aufheben und Frauen zu Priesterinnen zu weihen. All das sind Diskussionen, die notwendig sind und trotz vermeintlich abschließender päpstlicher Entscheidungen nicht verstummen werden. Allein: Selbst wenn diese Entscheidungen heute revidiert würden, bräuchte es Jahre, bis sie Wirkung in der Praxis zeigten, wobei noch unklar ist, ob das allein zu einem Wachstum der Kirche beitrüge. Die Herausforderungen aber müssen heute beantwortet werden. Jeder „Zukunftsprozess“ muss sich dieser heutigen Aufgabe schon jetzt stellen. Sie ist nicht zu vertagen. Dabei muss mit wenig hauptamtlichen Personen eine größer werdende Fläche erreicht werden. Es ist fast wie in der frühen Kirche, als Paulus von Ephesus aus den gesamten östlichen Mittelmeerraum missioniert und Pläne sogar für den westlichen Bereich hat. Was für ein Sendungsraum, was für eine Organisation, was für ein Erfolg eines Konzeptes, das bis heut nachhallt! Davon kann man lernen:
1. Zentralisiert Verwaltung, um Gottes willen aber dezentralisiert die Pastoral!
In manchen Bistümern denkt man schon in diese Richtung, wenn zunehmend zwischen Pfarrei und Gemeinde unterschieden wird. Pfarreien sind dann Verwaltungseinheiten, Gemeinden pastorale Größen.
2. Seid nah beim Haus!
„Pfarrei“ – das kommt vom latinischen parochia, das als griechisches Lehnwort von παρ´ οἰκία (gesprochen: par´ oikía) „nah beim Haus“ heißt. Die frühe Kirche bildete Hausgemeinschaften, in denen sich alle versammelten, die zum Hausstand gehörten. Die Kirche war nah bei den Menschen, in der Nachbarschaft. Wo die Gemeinden wuchsen und zu groß wurden – auch territorial – wurden neue Gemeinden gegründet. Das ist ein Vorbild für heute!
3. Werdet Zeugen!
Die Mitarbeiter des Paulus waren Profis, die für ihr Werk Unterhalt von den Gemeinden erhielten (vgl. etwa 1 Korinther 9,5). Die Mitarbeiter und Paulus reisten von der Zentrale aus, vor Ort. ). In den Gemeinden aber wirkten Ortsansässige. In manchen Bistümern wird das neu entdeckt, wenn die hauptamtlichen Pastoralteams auf der Ebene der Pfarrei (als übergeordnete Verwaltungseinheit) zurüstend tätig sind, während vor Ort in den Gemeinden Gemeindeleitungsteams oder Teams von Verantwortlichen tätig sind oder sein sollen. So bleibt nicht nur die Kirche im Dorf, sondern vor allem nah bei den Menschen. Es braucht heute wieder die Phoebes und Lydias, die Erastus‘ und Stephanas‘, die ihre Nachbarschaften und Orte kennen und wissen, was dort getan werden muss und wie es getan werden kann. Man muss sie schätzen wie Paulus seine Leute schätze und ihnen zutraute, das Evangelium in Wort und Tat und mit Vollmacht zu verkünden. Und wenn es Fragen gibt, weiß man, wohin man sich wenden kann, denn:
4. Kommuniziert!
Früher schrieb man Briefe, heute haben wir das Internet. Kommunikation ist alles! Mails, Messenger, Ticket- und Team-Apps, aber auch Plattformen, durch die Gemeinden erreicht werden können, wie das Pfarrbüro24 (www.pfarrbuero24.de) schaffen neue und schnell Möglichkeiten der Kommunikation. Mehr εὐθύς (euthys) ging nie! Die Verantwortlichen sollten dem Vorbild Jesu gerecht werden und nicht auf die lange Bank der Zukunft schieben, was heute schon getan werden kann.
Die frühen Christen versammelten sich noch in Häusern. Die Gemeinschaft braucht Orte. Lasst deshalb die Kirchen im Dorf, reißt sich nicht ab! Wo soll sich das Volk Gottes sonst versammeln. Gebt ihm Raum und Orte, denn ohne äußere Struktur kann keine Gemeinschaft überleben. Dazu gehören auch Räume der Versammlung!
Ob das alles wirkt? Wer weiß das schon. Vor rund 2.000 Jahren hat es gewirkt. Als Graswurzelbewegung hat es in Galiläa angefangen und drohte zu scheitern. Aus der Asche erglomm neue Glut und fing an zu brennen. Das Feuer nahm immer neue Gestalten an und breitete sich aus – von Jerusalem nach Antiochia, von dort in den östlichen und dann den westlichen Mittelmeerraum, später nach Irland und Brittanien, dann nach Europa, schließlich in die ganze Welt. Ein Senfkorn wuchs zum großen Baum. Wie anders sind heute die Bedingungen, wo schon so viel gewachsen ist. Darauf kann man aufbauen. Der Boden ist nicht unbeackert wie zu Paulus‘ Zeiten. Klagen hilft deshalb nicht, Verkünden schon! Die Herausforderung liegt offen, die Fakten sind unabänderlich. Aus ihnen heraus muss sich die kirchliche Struktur weiterentwickeln und eine neue Form finden – eine Form und Struktur, die nicht sich selbst dient, sondern der Verkündigung. So hat es schon Paulus gesagt:
Wir verkünden nämlich nicht uns selbst, sondern Jesus Christus als den Herrn, uns aber als eure Knechte um Jesu willen. Denn Gott, der sprach: Aus Finsternis soll Licht aufleuchten!, er ist in unseren Herzen aufgeleuchtet, damit aufstrahlt die Erkenntnis des göttlichen Glanzes auf dem Antlitz Christi.
Und so kann auch heute das Licht wieder leuchten. Habt Mut! Verändert euch! Lasst die Kirche im Dorf, um den Fernen nah zu sein!
Bildnachweis
Titelbild: Panorama (geralt) – Quelle: Pixabay – lizenziert mit Pixabay-Lizenz.
Bild 1: Die Pfarrei der Zukunft – Schaubild Erzbistum Köln (Erzbistum Köln) – Quelle: zukunftsweg.koeln – veröffentlicht mit freundlicher Genehmigung der Herausgeber
Video: Pfarrei der Zukunft (WDR Lokalzeit Bergisch Land – 9.9.2020) – Quelle: Youtube – veröffentlicht nach mündlicher Rücksprache.
Einzelnachweis
1. | ↑ | Siehe hierzu auch Martin Ebner, Hausgemeinden – kein Phantom, in: Welt und Umwelt der Bibel, 3/2020, S. 17 sowie Georg Schöllgen, Vom Freizeitkleriker zum hauptamtlichen Gemeindeleiter. Die Professinalisierung des Klerus – Ursachen und Folgen, in: Welt und Umwelt der Bibel, 3/2020, S. 47-53. |
2. | ↑ | Zweites Vatikanisches Konzil, Dogmatische Konstitution „Lumen gentium“ über die Kirche, Nr. 1 – Quelle: http://www.vatican.va/archive/hist_councils/ii_vatican_council/documents/vat-ii_const_19641121_lumen-gentium_ge.html [Stand: 12. September 2020]. |
3. | ↑ | Römer, 1. und 2. Korintherbrief, Galaterbrief, Philipperbrief, 1. Thessalonicher, Philemon (in der Reihenfolge des neutestamentlichen Kanons |
4. | ↑ | Bei den hier genannten ἐπισκόποι (episkópoi) handelt es sich noch nicht um eine Amtsbezeichung im Sinn der wenige Jahrzehnte und in den Pastoralbriefen angesprochenen Bischöfe. Dagegen spricht der Plural der Bezeichnung, steht doch in späterer Zeit immer nur ein Bischof einer Gemeinde vor. Es handelt sich damit höchstwahrscheinlich um einen allgemeinen Begriff, der auch in der paganen hellenistischen Welt vorzufinden ist und dort allgemein eine Vorsteherfunktion – etwa die eines Amtsvorstehers – bezeichnet. Bei den so Bezeichneten spricht Paulus also Personen an, die in der Gemeinde von Philippe allgemein eine leitende Stellung hatte. |
5. | ↑ | „Ich habe euch in meinem Brief geschrieben, dass ihr nichts mit Unzüchtigen zu schaffen haben sollt.“ 1 Korinther 5,9. |
6. | ↑ | „Denn ich schrieb euch aus großer Bedrängnis und Herzensnot, unter vielen Tränen, nicht um euch zu betrüben, nein, um euch meine übergroße Liebe spüren zu lassen.“ 2 Korinther 2,4. |