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Eine nüchterne Analyse der Gegenwart kann nur zu dem Schluss führen, dass die Verkündigung der Kirche äußerst erfolgreich war. Sündensorgen? Ein Phänomen der Vergangenheit. Höllenangst? Der Teufel hat schon lange ausgedient. Die Furcht vor dem jüngsten Gericht? Wer noch an den Gott und Vater Jesu Christi glaubt, hat meist längst begriffen, dass im Kreuz gerade deshalb Hoffnung liegt, weil in der Auferstehung des Gekreuzigten die gottgewirkte Rettung des Gottverlassenen offenbar wird; und wer nicht an Gott glaubt, hat ohnehin seine Schwierigkeiten mit einer Gerechtigkeit, die über den Tod hinaus gewirkt werden soll. Wahrhaftig: Die Verkündigung dessen, der die Sünden vergibt und dabei betont, dass der Glaube derer hilft, die ihn um Heilung bitten, und die neutestamentliche Verheißung, wie sie im 1. Timotheusbrief überliefert ist, trägt endlich Früchte:
Vor allem fordere ich zu Bitten und Gebeten, zu Fürbitte und Danksagung auf, und zwar für alle Menschen, für die Herrscher und für alle, die Macht ausüben, damit wir in aller Frömmigkeit und Rechtschaffenheit ungestört und ruhig leben können. Das ist recht und wohlgefällig vor Gott, unserem Retter; er will, dass alle Menschen gerettet werden und zur Erkenntnis der Wahrheit gelangen. Denn: Einer ist Gott, Einer auch Mittler zwischen Gott und Menschen: der Mensch Christus Jesus, der sich als Lösegeld hingegeben hat für alle, ein Zeugnis zur vorherbestimmten Zeit, als dessen Verkünder und Apostel ich eingesetzt wurde – ich sage die Wahrheit und lüge nicht – , als Lehrer der Völker im Glauben und in der Wahrheit.
Wahrlich: Die Christinnen und Christen könnten zufrieden mit sich sein, dass ihre Botschaft nach fast 2.000 Jahren Kirche- und Verkündigungsgeschichte trotz aller Versuche, den Heilswillen des Heiligen zu zähmen und das Geschäft mit dem Heil institutionserhaltend zu gestalten, reiche Frucht gebracht hat. Und das ist ein echtes Problem!
Der Heilige braucht keine Heilsvermittler
Ein wesentliches Merkmal der wort- und tatkräftigen Verkündigung Jesu ist die Heilsunmittelbarkeit. Das ist gerade die gottgewirkte Gnade, die in seinem Reden und Handeln aufscheint: Die voraussetzungslose Liebe gerade zu den Sündern. Er verkündet einen Gott, der die Verlorenen sucht und dabei die Braven risikobereit zurücklässt – so wie ein Hirte ein verlorenes Schaf sucht und die 99 anderen schutzlos wahlweise in der Wüste (vgl. Lukas 15,4-7) oder in den Bergen (vgl. Matthäus 18,12-14) zurücklässt. Eigentlich ein unhaltbarer, irrationaler Vorgang. Was ist, wenn sich auch die 99 zerstreuen? Die Sorge scheint der Hirte ebensowenig zu haben, wie Gott, der sich gerade um die sorgt, die drohen, verloren zu gehen – was im Umkehrschluss letztlich heißt, dass er auch die 99 anderen, so sie sich denn zerstreuen würden, suchen würde. Muss man sich vor einem Gott, der denen nachläuft, die verloren gegangen sind, ängstigen? Braucht ein Gott, der sich selbst auf den Weg zu den Menschen macht und in Jesus Christus sogar selbst Mensch wird noch Heilsvermittler? Wohl kaum. Gerade darin mündet ja die prophetische Handlung Jesu, die in der sogenannten Tempelreinigung ihren kultkritischen Ausdruck findet:
Das Paschafest der Juden war nahe und Jesus zog nach Jerusalem hinauf. Im Tempel fand er die Verkäufer von Rindern, Schafen und Tauben und die Geldwechsler, die dort saßen. Er machte eine Geißel aus Stricken und trieb sie alle aus dem Tempel hinaus samt den Schafen und Rindern; das Geld der Wechsler schüttete er aus, ihre Tische stieß er um und zu den Taubenhändlern sagte er: Schafft das hier weg, macht das Haus meines Vaters nicht zu einer Markthalle!
Anders als die Synoptiker (vgl. hierzu Markus 11,15-19 parr) berichtet Johannes nicht nur über das Umstürzen der Tische und die Vertreibung der Händler. Er führt auch aus, womit dort gehandelt wurde – nämlich mit Schafen, Rindern und Tauben (vgl. Leviticus 1,1-17). Das sind genau jene Tiere, die für den Kult im Tempel gebraucht wurden. Die Opfertiere traten an die Stelle der Menschen. Ihr Brandopfer und der nach oben steigende Rauch stellte eine Beziehung zwischen Mensch und Gott her, die aber eben immer kultisch vermittelt und reglementiert war. Weil die Opfertiere makellos sein sollten und es schwierig war, ein Tier – zumal ein größeres – makellos über längere Strecken zum Tempel zu schaffen, wurden die Opfertiere in der Nähe des Tempels verkauft. Anlässlich der Wallfahrten, die nach Exodus 23,14-19 dreimal im Jahr stattfinden sollten, konnte dann auch die Tempelsteuer entrichtet werden, wobei die Pilger ihre heimischen Währungen in den sogenannten „tyrischen halben Schekel“ tauschen konnten, der als alleinige Währung im Tempel galt. Tempelhändler und Geldwechsler stehen also in engem Bezug zum Tempelkult. Dabei mangelt es schon in den prophetischen Schriften nicht an kultkritischen Stimmen. So heißt es etwa bei Hosea:
Denn an Liebe habe ich Gefallen, nicht an Schlachtopfern, an Gotteserkenntnis mehr als an Brandopfern.
Hosea stellt so der reglementieren kultischen Heilsvermittlung die fast anarchische Kraft der Liebe gegenüber, so dass er später konsequent folgert:
Nehmt Worte der Reue mit euch, kehrt um zum HERRN und sagt zu ihm: Nimm alle Schuld hinweg und nimm an, was gut ist: Anstelle von Stieren bringen wir dir unsere Lippen dar.
In ähnlicher Weise heißt es auch bei Joël:
Zerreißt eure Herzen, nicht eure Kleider, und kehrt um zum HERRN, eurem Gott! Denn er ist gnädig und barmherzig, langmütig und reich an Huld und es reut ihn das Unheil.
Gleichwohl scheint soviel mögliche Heilsunmittelbarkeit dem Menschen nicht geheuer. Wer Gott allzu anthropomorph denkt und ihn nach Menschenart handeln lassen möchte, fällt immer wieder in das Prinzip des „Do ut des“ – „Ich gebe, damit Du gibst“ zurück. Dann muss man sich das Heil „verdienen“ bzw. erwirken. So fällt die Menschheit immer wieder in die selbstverschuldete Unmündigkeit durch Errichtung eines Kultpriestertums zurück. Was hilft es da schon, wenn Gott durch seine Propheten ausrichten lässt:
Denn ich bin Gott, nicht ein Mensch, der Heilige in deiner Mitte. Darum komme ich nicht in der Hitze des Zorns.
Was hilft es, wenn die Botschaft der prophetischen Tat Jesu in den Vorhallen des Tempels in ihrer Tiefe nicht erkannt wird, dass es keiner kultischen Vermittlung der Unmittelbarkeit des Heiligen mehr bedarf? Was hilft es, wenn Paulus wenige Jahre später, als schon in der frühen Kirche ein Rückfall in einer käufliche Heilsgewissheit drohte, die Verkünderinnen und Verkünder warnt:
Denn wir sind nicht wie die vielen anderen, die mit dem Wort Gottes Geschäfte machen. Wir verkünden es aufrichtig, von Gott her und vor Gott in Christus.
Erlöst? Wovon?
Genau von dieser Sorge, dass das Heil in irgendeiner Weise verdient werden müsste, ja insbesondere nur kultisch vermittelt erlangt werden könnte, erlöst die Botschaft der Auferstehung des Gekreuzigten. Paulus bringt das in seinen Briefen mehrfach auf den Punkt, wenn er etwa den Korinther gegenüber betont:
Ist aber Christus nicht auferweckt worden, dann ist unsere Verkündigung leer, leer auch euer Glaube. Wir werden dann auch als falsche Zeugen Gottes entlarvt, weil wir im Widerspruch zu Gott das Zeugnis abgelegt haben: Er hat Christus auferweckt. Er hat ihn eben nicht auferweckt, wenn Tote nicht auferweckt werden. Denn wenn Tote nicht auferweckt werden, ist auch Christus nicht auferweckt worden. Wenn aber Christus nicht auferweckt worden ist, dann ist euer Glaube nutzlos und ihr seid immer noch in euren Sünden; und auch die in Christus Entschlafenen sind dann verloren.
Im Römerbrief betont Paulus deshalb voller Gewissheit das neue Sein derer, die durch Jesus Christus durch die Taufe auf seinen Tod und seine Auferstehung ähnlich geworden sind:
Wisst ihr denn nicht, dass wir, die wir auf Christus Jesus getauft wurden, auf seinen Tod getauft worden sind? Wir wurden ja mit ihm begraben durch die Taufe auf den Tod, damit auch wir, so wie Christus durch die Herrlichkeit des Vaters von den Toten auferweckt wurde, in der Wirklichkeit des neuen Lebens wandeln. Wenn wir nämlich mit der Gestalt seines Todes verbunden wurden, dann werden wir es auch mit der seiner Auferstehung sein. Wir wissen doch: Unser alter Mensch wurde mitgekreuzigt, damit der von der Sünde beherrschte Leib vernichtet werde, sodass wir nicht mehr Sklaven der Sünde sind. Denn wer gestorben ist, der ist frei geworden von der Sünde. Sind wir nun mit Christus gestorben, so glauben wir, dass wir auch mit ihm leben werden. Wir wissen, dass Christus, von den Toten auferweckt, nicht mehr stirbt; der Tod hat keine Macht mehr über ihn. Denn durch sein Sterben ist er ein für alle Mal gestorben für die Sünde, sein Leben aber lebt er für Gott.
Darin liegt die frohe Botschaft nicht nur der Worte und Taten Jesu, sondern auch der frühen christlichen Verkünderinnen und Verkünder, die aus der Auferstehung des Gekreuzigten, also der gottgewirkten Rettung des gottverlassen Gestorbenen theologisch konsequent folgern, dass Gott unmittelbar und unvermittelt selbst die Sünderinnen und Sünder liebt. Auf den Punkt gebracht heißt das nichts anderes als:
Was kann uns scheiden von der Liebe Christi?
Und wenig später:
Denn ich bin gewiss: Weder Tod noch Leben, weder Engel noch Mächte, weder Gegenwärtiges noch Zukünftiges noch Gewalten, 39 weder Höhe oder Tiefe noch irgendeine andere Kreatur können uns scheiden von der Liebe Gottes, die in Christus Jesus ist, unserem Herrn.
Sicherheitsbedürfnisse
Der Mensch allerdings bleibt, was er ist – ein Mensch. Und der Mensch an sich ist von misstrauischem Wesen. Wer Gott zu klein denkt – und Menschen können Gott eigentlich immer nur zu klein denken –, der glaubt nicht nur zu wissen, wie Gott denkt und was Gott sagt. Der an und in sich misstrauische Mensch traut deshalb auch dem gnadenvollen und unvermittelten Heilsgeschenk nicht – weil es eben nicht verdient werden kann, sondern unverdient ist. Kann das möglich sein? Was helfen da schon die Worte des Herrn daselbst aus dem Munde des Propheten:
Meine Gedanken sind nicht eure Gedanken und eure Wege sind nicht meine Wege – Spruch des HERRN. So hoch der Himmel über der Erde ist, so hoch erhaben sind meine Wege über eure Wege und meine Gedanken über eure Gedanken. Denn wie der Regen und der Schnee vom Himmel fällt und nicht dorthin zurückkehrt, ohne die Erde zu tränken und sie zum Keimen und Sprossen zu bringen, dass sie dem Sämann Samen gibt und Brot zum Essen, so ist es auch mit dem Wort, das meinen Mund verlässt: Es kehrt nicht leer zu mir zurück, ohne zu bewirken, was ich will, und das zu erreichen, wozu ich es ausgesandt habe.
Sicher ist halt sicher. Was man sich verdient hat, darauf hat man auch einen Anspruch. Geld für Ablässe, Riten für Rettung und sakramentale Handlungen als heilsgewisse Vermittlungsinstanzen sind menschheitsgeschichtlich immer wieder aufgekommen, um des Heiligen sicher zu sein – eine Sicherheit, die der Liebe Gottes eigentlich unwürdig ist. Wer so handelt, vermenschlicht Gott nicht nur auf unzulässige Weise; er macht ihn auch zu klein …
Problemlöser
Die Botschaft Jesu Christi vom nahen Reich Gottes, sein Aufruf zur μετάνοια (gesprochen: metánoia), also wörtlich zum Umdenken, löst dieses urtümliche menschliche Problem – und zwar in Kreuzestod und Auferstehung unüberbietbar anschaulich. Gerade weil der Kreuzestod nach Deuteronomium 21,23 als verfluchter Tod der Gottverlassenheit galt, die Auferstehung aber nur gottgewirkt sein kann, durchbricht das so aufscheinende Paradox der Auferstehung des Gekreuzigten die klassischen Denkmuster: Heil kann man nicht nur nicht verdienen; der Heilswille Gottes ist unmittelbar und universell (vgl. 1 Timotheus 2,4). Dass diese Botschaft das Problem der Heilsungewissheit, die die Menschen damals beherrschten, handgreiflich, weil – wie 1 Korinther 15,1-8 darlegt – sicher in Kreuzestod und Auferstehung geschehen, löst, macht den Erfolg der frühchristlichen Verkündigung aus.
Zweifellos führt dieser Erfolg zu neuen Problemen – etwa dem im korinthischen Charismeneifer aufscheinenden Konflikt- und Spaltungspotential (vgl. etwa 1 Korinther 1,10-17) oder der gerade auch in Korinth zu beobachtenden Schlussfolgerung, dass, wenn man nicht aus der Liebe fallen könne, man auch tun und lassen könne, was man wolle. Die Antwort des Paulus auf dieses neue Problem ist lapidar:
Alles ist mir erlaubt – aber nicht alles nützt mir. Alles ist mir erlaubt – aber nichts soll Macht haben über mich. a href=”https://www.bibleserver.com/EU/1.Korinther6%2C12″ class=”bibleserver extern” target=”_blank” rel=”noopener noreferrer”>1 Korinther 6,12
Er spiegelt damit die Frage nach dem, was erlaubt ist, in das Gewissen der einzelnen zurück und mahnt sie gleichzeitig, ihr Verhalten im Spiegel der anderen zu prüfen. Mit Blick auf die bei einigen Mitglieder der korinthischen Gemeinde wohl weiter gepflegten Praxis der Teilnahme an Kultmählern, bei denen Götzenopferfleisch verzehrt wurde, schreibt er:
Doch gebt Acht, dass diese eure Freiheit nicht den Schwachen zum Anstoß wird! Wenn nämlich einer dich, der du Erkenntnis hast, im Götzentempel beim Mahl sieht, wird dann nicht sein Gewissen, da er schwach ist, verleitet, auch Götzenopferfleisch zu essen? Der Schwache geht an deiner Erkenntnis zugrunde, er, dein Bruder, für den Christus gestorben ist. Wenn ihr euch auf diese Weise gegen eure Brüder versündigt und ihr schwaches Gewissen verletzt, versündigt ihr euch gegen Christus.
Nichts wird von der Botschaft der umfassenden Liebe Gottes genommen. Nichts kann von dieser Liebe trennen. Sie ist unverdient und allem menschlichen Handeln vorgängig. Aber gerade deshalb sollen Christinnen und Christen als von Gott Geliebte leben und nicht durch laxes Verhalten anderen, die nicht so einen starken Glauben haben, den Blick auf diese unverdiente göttliche Gnade vernebeln.
Instruktionen
Die oben genannten Zitate aus den Propheten zeigen, dass die Erkenntnis der heilsunmittelbaren göttlichen Liebe kein neutestamentliches Phänomen ist. Neu ist aus christlicher Sicht die in Kreuzestod und Auferstehung Jesu Christi ultimativ sichtbare Selbstoffenbarung Gottes. Was man vorher noch als intellektuellen Denkversuch hätte abtun können, ist nun eigentlich faktische Gewissheit. Heilsgewissheiten lösen auf jeden Fall Sündenängste, Todesfurcht und Verdammungssorgen. So entstehen neue Probleme, wenn die Gemeinde müde und schlaff wird. Wenn man sich das Heil nicht verdienen muss, erlahmt eben auch der Glaubenseifer schnell. Dieses Phänomen kann man schon zu neutestamentlichen Zeiten erkennen. So heißt es etwa im Schreiben an die Hebräer:
Lasst uns an dem unwandelbaren Bekenntnis der Hoffnung festhalten, denn er, der die Verheißung gegeben hat, ist treu! Lasst uns aufeinander achten und uns zur Liebe und zu guten Taten anspornen! Lasst uns nicht unseren Zusammenkünften fernbleiben, wie es einigen zur Gewohnheit geworden ist, sondern ermuntert einander, und das umso mehr, als ihr seht, dass der Tag naht!
Solche Mahnungen fallen nicht vom Himmel. Sie werden ausgeführt, wenn es notwendig ist. Der Autor des Schreibens an die Hebräer hat in seiner Instruktion deshalb auch schon ein entsprechendes rhetorisches Motivationsmittel parat:
Denn wenn wir vorsätzlich sündigen, nachdem wir die Erkenntnis der Wahrheit empfangen haben, gibt es für diese Sünden kein Opfer mehr, sondern nur die schreckliche Erwartung des Gerichts und ein wütendes Feuer, das die Gegner verzehren wird.
Für ihn ist Jesus Christus, der einzige und letzte Kultpriester, nur einmal am Kreuz gestorben und auferstanden. Deshalb gibt es durch die Taufe nur einmal die Chance auf Erlösung. Wer danach wieder sündigt, ist auf ewig verloren …
Das motivatorische Moment ist eindeutig erkennbar. Es widerspricht sogar der paulinischen Theologie, nach der die, die durch die Taufe auf Kreuzestod und Auferstehung Jesu Christi der Sünde selbst gestorben sind, nie und nimmer aus der Liebe Gottes fallen können. Es widerspricht sogar dem universalen Heilswillen Gottes, wie er in 1 Timotheus 2,4 verheißen wird. Die Frage ist also, ob hier tatsächlich einem soteriologischen Eklektizismus gefrönt wird oder ob es sich nicht tatsächlich eher um ein rhetorisch bemerkenswerte Motivationselement handelt, mit der man eine müde gewordene Gemeinde zu neuem Leben erwecken kann: Seht! Euer Heil schwindet. Wacht endlich wieder auf!
Und mehr Probleme – mit neuen Lösungen
Entrückt man den Hebräerbrief seiner historischen Situation und liest ihn als biblische Instruktion, dann führt der Weg direkt in eine Kirche als Heilsinstitution, die die Gnade verwaltet und amtlich gesichert vermittelt. Wenn jemand sein Heil nach der Taufe durch eine sündige Tat auf ewig zu verlieren droht, dann ist es besser, sich erst auf dem Sterbebett taufen zu lassen. Die Praxis dieser sogenannten „Klinikertaufe“ ist für die Kirche natürlich ein Problem, weil ein Rückgang der Taufen zu einer faktischen Schwächung der Gemeinden führt. Da glauben dann zwar viele; aufgrund der fehlenden Taufe gehören sie aber auch nicht ganz dazu. Die Lösung für dieses neue Problem liegt in der Entwicklung dessen, was über viele weitere Entwicklungsstufen heute als Bußsakrament bekannt ist. Die Kirche lernt, dass sie nicht nur aus „Heiligen“ besteht. Dieses Problem bedurfter neuer Lösungen, zu denen der Bonner Kirchenhistoriker Georg Schöllgen ausführt:
„Christen, die nach der Taufe schwere Sünden begingen – und dazu zählte man Mord, Ehebruch und Abfall vom Glauben -, waren keine seltene Ausnahme mehr. Die Kirche war also zu einem mixtum compositum von Heiligen und Sündern geworden. Dementsprechend entschied man sich nach langen inneren Kämpfen dafür, diese Sünder nicht ohne Hoffnung zu lassen, ihnen vielmehr mit dem Bußinstitut eine zweite und letzte Möglichkeit zu eröffnen, wieder in die Gemeinde zurückzukehren. Ein anspruchsvolles Programm sah vor, dass die Büßer ihre Sünden öffentlich vor der Gemeinde zu bekennen hatten und dann vom Bischof aus der Gemeinde ausgeschlossen wurden, aber nicht auf alle Zeit. Vielmehr hatten sie die Möglichkeit, sich in einem langjährigen Bußprozess, der vom Bischof und den Presbytern intensiv begleitet wurde, der Gemeinde wieder anzunähern, bis sie reif für die communio mit der Gemeinde waren. Für den Bischof (…) [war] die Bußpastoral (…) ein neuer, wichtiger und auch zeitraubender Teil seiner Amtspflichten.“1)
Es bedarf wenig Phantasie, um zu ahnen, dass auch diese restriktive Bußpraxis so keinen dauerhaften Bestand haben konnte. Nicht nur die Frage, wo denn die heilsgefährdende Grenze von Sünden verläuft, auch die harte Bußpraxis haben auf Dauer zu neuen (pastoralen) Problemen geführt, für die immer wieder neue Lösungen gefunden wurden. Wer heute in den Beichtstuhl geht, wird gefragt oder berichtet von selbst, wann seine letzte Beichte war. Diese Frage erübrigte sich in der oben zitierten Beichtpraxis, bei der die Beichte eine einmalige und zugleich letzte Möglichkeit zur (Wieder-)Erlangung des Heils war.
Und nun?
Seit der Aufklärung hat der moderne Mensch sich zunehmend aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit und damit nicht selten eben auch von den Fesseln einer ekklesial verwalteten Heilsvermittlung befreit. Der Glaube an Höllenfeuer und Teufel ist weitestgehend passé. Gott sei Dank! – möchte man sagen. Die Sündenangst hat ausgedient. Das aber war die Urintention der wort- und tatkräftigen Verkündigung Jesu und der frühesten Christen. Ist der Erfolg nach 2.000 Jahren endlich eingetreten?
Wohl kaum! Denn die religionskritisch motivierte Befreiung aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit führt zu neuen Problemen. Die Gegenwart ist voll davon: Die Schere zwischen Arm und Reich geht immer weiter auseinander. Der Klimawandel bedroht die Lebensgrundlagen in weiten Teilen einer Erde, die als Gottes gute Schöpfung doch ein Leben für alle ermöglichen sollte. Die Corona-Krise bringt viele Blüten neuer menschlicher Unmündigkeit und eines infantilen Glaubens an und Folgens von Verschwörungsphantasien hervor, die man im nachaufklärerischen Zeitalter kaum für möglich gehalten hätte. Derweil bringen Verantwortliche aus der Kirche eine neue „Instruktion zu pastoralen Umkehr der Pfarreien“2) heraus, die trotz eines unübersehbaren Priestermangels, steigender Austrittszahlen (zumindest in Deutschland) und leerer werdender Gemeinden einem Status quo betont, der sich längst überholt zu haben scheint. Diese Instruktion soll eine Lösung sein – aber auf welches Problem?
Die Instruktion redet viel von heiligen Orten und heiligen Gaben. Sie betont die Rolle des Pfarrers, der letztlich die heiligen Dinge verwalten soll. Die Frage ist aber, ob es überhaupt noch eine Nachfrage nach diesen heiligen Dingen gibt. Das Angebot ist da. Aber wird es noch gebraucht? Die Menschen von heute sind offenkundig nicht mehr von jener Sündenangst geprägt, mit der etwa der Autor des Schreibens an die Hebräer noch arbeiten konnte. Sicher – es werden immer wieder Stimmen laut, es müsse wieder öfter von der Hölle, dem Teufel oder dem Fegefeuer gepredigt werden. Freilich würde das nicht nur wenige erreichen. Die meisten aufgeklärten Zeitgenossen würden sich sogar noch weiter von einer sich so unaufgeklärt gebenden Verkündigung, die in ihrer Weise, die Welt und den Menschen zu verstehen, nicht mit der Zeit gegangen ist. Dieses Problem haben die Menschen eben nicht mehr. Und das ist das Problem: Die Kirche von heute hat Lösungen für die Probleme von gestern. Kennt Sie überhaupt die Probleme von heute? Nimmt sie sie wahr? Und ist sie bereit, dafür Lösungen zu finden – so wie sie immer wieder fähig war, neue Lösungen für neue Probleme zu suchen?
Startup!
Die aktuelle Instruktion aus dem Vatikan lässt daran zweifeln. Zweifellos erinnert sie an einen kirchenrechtlichen Status quo, der eigentlich allen bekannt ist. Sie formuliert so den Schatz aus Altem. Das Neue aber, das heute notwendig wäre, kommt nicht in den Blick. Das ist schade. Eine Kirche, die tatsächlich eine ecclesia semper reformanda wäre, also eine sich stets erneuernde Kirche, gleicht – modern gesprochen – einem steten Startup. Bei Startups aber wird danach gefragt, ob es für die Lösungen, die sie anbieten, überhaupt Probleme gibt3). Also, liebe Kirche, gibt es für Deine Lösungen überhaupt eine passende Nachfrage? Hast Du für die Fragen der Welt von heute Lösungen in Wort und Tat? Oder werden Probleme suggeriert, die es gar nicht gibt? Machst Du also Probleme, die man ohne Dich nicht hätte – nur, damit Deine Lösungen passen? Wer braucht so etwas schon … Löse immer nur die Probleme, die es tatsächlich gibt … Die Frage der Fragen, die handlungsleitend sein sollte, ist nämlich: Wo ist das Problem? Dann suche dafür – genau dafür die Lösung!
Bildnachweis
Titelbild: Problem-Lösung (geralt, Ausschnittbearbeitung: Werner Kleine) – Quelle: Pixabay – lizenziert mit Pixabay-Lizenz.
Video: Kath 2:30 – Episode 27 – metanoieîn (Katholische Citykirche Wuppertal/Christoph Schönbach) – Quelle: Vimeo – alle Rechte vorbehalten.
Einzelnachweis
1. | ↑ | Georg Schöllgen, Vom Freizeitkleriker zum hauptamtlichen Gemeindeleiter. Die Professionalisierung des Klerus – Ursachen und Folgen, in: Welt und Umwelt der Bibel, 3/2020, S. 47-53, hier: S. 48 (Hervorhebungen im Original). |
2. | ↑ | Vgl. hierzu https://dbk.de/fileadmin/redaktion/diverse_downloads/presse_2020/2020-07-20_Instruktion-Die-pastorale-Umkehr-der-Pfarrgemeinde.pdf [Stand: 2. August 2020]. |
3. | ↑ | Vgl. hierzu das Interview mit Lina Tim (Medialab Bayern), Deutschlandfunkt Nova, Eine Stunde was mit Medien, 23.7.2020, mp3, ab Minute 26:00, Quelle: https://ondemand-mp3.dradio.de/file/dradio/2020/07/23/deutschlandfunknova_sommerinterviews_20200723_9826b0b4.mp3 [Stand: 2. August 2020]. |