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Ecclesiastica·Pastoralia

Das Fenster zur Welt Neutestamentliche Gedanken zu Kirchenaustritten und die Gefahren und Chancen offener Fenster


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Der Jargon der Betroffenheit hat wieder Konjunktur. Er reüssiert alljährlich, wenn die Deutsche Bischofkonferenz (DBK) und die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) die Entwicklungen und Zahlen der Kirchenaustritte der jüngeren Vergangenheit bekannt geben. In der Regel schaut man dann auf das vergangene Jahr zurück. In der Tat rangieren die Austrittszahlen schon länger auf hohem Niveau. Bereits 2018 konnte – auch ohne die MHG-Studie, die im September 2018 veröffentlicht wurde – ein „dramatischer Anstieg“1) verzeichnet werden, als die Zahlen der Austritte aus der Körperschaft des öffentlichen Rechtes (KöR) der römisch-katholischen Kirche im Vergleich zum Vorjahr 2017 bundesweit um 29% anstiegen. Die Zahlen wurde nun in 2019 noch übertroffen. Allein aus der KöR der römisch-katholischen Kirche waren nun über 270.000 Menschen ausgetreten2). Die Zahlen von 2018 wurden damit um weitere 26% übertroffen. Was 2019 im Anblick der Zahlen von 2018 noch ein „Drama“ war, entwickelte sich nun zu einem „großen Schock“, bei dem es „keine Hoffnung mehr“3) gibt.

Betroffenheitsübungen

Die Zahlen im Bereich der EKD sind nicht besser. Beide Großkirchen zusammen genommen haben über 500.000 Menschen den Austritt aus den jeweiligen Körperschaften des öffentlichen Rechtes erklärt. Das nämlich wird landläufig als „Kirchenaustritt“ bezeichnet, der nach Zahlung einer entsprechenden Gebühr je nach Region im Amtsgericht oder dem Standesamt erklärt wird. Eine Minutensache und man ist kein Kirchenmitglied mehr. Die Folgen sind klar: Befreiung von der Kirchensteuerpflicht, dafür Verzicht auf Mitgliedschaftsrechte. Es ist fast wie der Austritt aus einem Verein – zumindest aus Sicht vieler, die ihren Austritt aus der Kirche erklären.

Auf der Seite der in den Kirchen verbliebenen Verantwortlichen sieht die Sache anders aus. Sie sehen nicht nur ihre Schäfchen ziehen, sondern reiben sich ob des unübersehbaren Exodus auch betroffen die Augen. Nicht, dass da Abschiedstränen wären – nein: es sind in der Regel vollmundig geäußerte Betroffenheitsfloskeln, die im Allgemeinen dem Muster des „Wir haben verstanden“ folgen. Das ist letztlich eine Belanglosigkeit die frei von Verantwortung macht: Zwischen Austritt und Absturz erlebt man eben kurz den Zustand der Schwerelosigkeit bevor der Aufschlag harte Fakten schafft. Man redet so, wie Politiker reden, wenn sie eine Wahl verloren haben und nicht wirklich belangt werden wollen. Allein: Die Kirche ist keine Partei. Sie ist eine Gemeinschaft Glaubender, die ihren Zweck nicht in sich hat, sondern Mittel zum Zweck der Verkündigung ist. Nirgendwo hört man aus dem Munde Jesu den Auftrag: „Gründet Gemeinden!“. Wohl aber hört man den Auftrag:

Geht hinaus in die ganze Welt und verkündet das Evangelium der ganzen Schöpfung! Markus 16,15

Das ist der eigentliche Auftrag einer Kirche, die sich nach Ausweis der Apostelgeschichte sie

an der Lehre der Apostel und an der Gemeinschaft, am Brechen des Brotes und an den Gebeten [festhält]. Apostelgeschichte 2,42

Markanter Punkt in dieser frühkirchlichen Kirchendefinition ist der zweite Parameter, die κοινωνία (gesprochen: koinonía), die Gemeinschaft. Durch den Kirchenaustritt wird die Gemeinschaft aufgekündigt. Er sagt an sich nichts über den Glauben oder Unglauben der Ausgetretenen aus. Es mag unter den Ausgetretenen ebenso Glaubende geben, wie bei Nichtausgetretenen Nichtglaubende. Nicht jede und nicht jeder, der noch in der Kirche ist, hält an der Lehre der Apostel fest, nimmt am sonntäglichen Brechen des Brotes teil oder betet regelmäßig. Bei Ausgetretenen – und der Autor dieses Beitrages kann das in seiner Funktion als Leiter der KGI-Fides-Stelle Wuppertal, die Erwachsene beim Eintritt in die römisch-katholische Kirche durch Wiedereintritt, Konversion oder Taufe begleitet und sie darauf vorbereitet, aus eigener Erfahrung bezeugen – kann all das durchaus noch vorhanden sein. Das stellt eben die Frage nach den Gründen für den Austritt. Da die EKD in nahezu gleichem Maß von den Austrittszahlen betroffen ist, wie die DBK, liegt es nahe, dass die klassischen Marker, die kirchenintern gerne bemüht werden, wie der Zölibat oder die Nichtzulassung von Frauen zur Weihe nicht zu den signifikanten Parametern für einen Kirchenaustritt gehören. Auch ließ sich – anders als im Jahr 2009 – im Jahr 2018 kein signifikanter Anstieg der Austrittszahlen nach Veröffentlichung der MHG-Studie, in der der Missbrauch von Kindern durch römisch-katholische Kleriker untersucht wurde, verzeichnen. Die Gründe liegen also an anderer Stelle, wie nicht zuletzt die Austrittstudie des Bistums Essen aus dem Jahr 2018 vermuten lässt4). Ihr ist zu entnehmen, dass die Austrittsquoten nach Lebensalter zwei Höhepunkte verzeichnen – nämlich (besonders hoch) in der Alterskohorte der 25-30Jährigen und dann noch einmal in der Altersspanne der 46-50Jährigen5). Für beide Altersspannen gibt es gute Erklärungen. Die 25-30Jährigen befinden sich nach Ausbildung oder Studium in der Existenz- und Familiengründungsphase. Man verdient das erste Geld, sieht, was die Kirchensteuer ausmacht (je nach Region rund 9% des Betrages der Einkommensteuer), braucht aber eben jeden Cent für die Schaffung der eigenen Existenzgrundlagen.

Ein analoger Vorgang betrifft die zweite Alterskohorte der 46-50Jährigen, ist sie es doch jene Altersphase, in der nicht nur die Ehescheidungen ihre auf das Lebensalter bezogene zweithöchste Quote haben6), sondern auch die Ausbildung der Kinder finanziert werden muss. Auch hier zählt wieder jeder Cent.

Hinzu kommt, dass Steuerberater verpflichtet sind, auf mögliche Steuersparmöglichkeiten aufmerksam zu machen. Selbst im Kirchendienst tätigen pastoralen Diensten wird deshalb hin und wieder der Hinweis gegeben, dass bei der Kirchensteuer noch Einsparpotential läge – was bei Kirchenbediensteten der höchsten Loyalitätsstufe, der pastorale Dienste unterliegen, natürlich dazu führen würde, dass ob des Verlustes des Arbeitsplatzes die gesamte Steuer gespart würde …

Ein verfehlter Auftrag

Das Beispiel zeigt nur, dass man die finanzielle Motivation zum Kirchenaustritt nicht unterschätzen darf. Sie wirkt aber besonders dann, wenn es eben an der κοινωονία, der Gemeinschaft mangelt – und das ist nicht nur eine Bringschuld derer, die aus der Kirche austreten, sondern vor allem eine Frage an diejenigen, die in der Kirche Verantwortung tragen. Ob es hier bei Betroffenheitsphrasen bleiben kann? Die Kirche ist eben kein Verein, sondern eine Methode, Gottes Namen in der Welt bekannt zu machen, die frohe Botschaft zu verkünden, dass die Lahmen gehen, die Blinden sehen und die Tauben hören, und so immer wieder darauf zu verweisen, dass das Reich Gottes nahe ist. Wohlgemerkt: „die Kirche“ – mit Artikel! Wer von „Kirche“ ohne Artikel spricht, personalisiert eine Institution, die von Personen lebt, selbst aber keine Person ist. „Kirche“ ist kein Name wie Kevin und Chantal, Justus oder Sophie. „Kirche“ alleine kann nichts. Wer so von der Kirche redet, hat schon den ersten Fehler einer Delegation ins Nichts vollzogen. Wer hingegen von „der Kirche“ redet, realisiert, dass er oder sie selbst als lebendiger Stein mitgemeint ist und Verantwortung trägt, so wie es im 1. Petrusbrief heißt:

Lasst euch als lebendige Steine zu einem geistigen Haus aufbauen, zu einer heiligen Priesterschaft, um durch Jesus Christus geistige Opfer darzubringen, die Gott gefallen! 1 Petrus 2,5

Für alle, die auf diese Weise die Kirche bilden, gilt es, dem Wesen der Kirche entsprechend (vgl. Markus 16,15) undelegierbar ihren eigentlichen Zweck zu erfüllen:

Seid stets bereit, jedem Rede und Antwort zu stehen, der von euch Rechenschaft fordert über die Hoffnung, die euch erfüllt; antwortet aber bescheiden und ehrfürchtig, denn ihr habt ein reines Gewissen, damit jene, die euren rechtschaffenen Lebenswandel in Christus in schlechten Ruf bringen, wegen ihrer Verleumdungen beschämt werden. 1 Petrus 3,15-16

Und das gelegen oder ungelegen (vgl. 2 Timotheus 4,2)!

Pastorale Spielwiesen

Es ist also ein eklatanter Schwund an Beziehungen, der dem Kirchenaustritt vorausliegt. Dabei ist schon lange bekannt, dass durch die klassische gemeindliche Pastoral nur rund 20% der Gemeindemitglieder erreicht werden (bei rund 10% Gottesdienstbesuch). 80% der Gemeindemitglieder werden durch die klassischen pastoralen Angebote nicht erreicht. Auf diese Weise schwindet die Beziehung, bis nicht unberechtigt die Frage gestellt wird, was man von einer Kirche hat, für die man monatlich Steuern abführt, und über die man mittlerweile seit Jahren wenig frohe Botschaften, sondern eher Nachrichten von kleinen Blamage und größeren Skandalen bekommt. Hingegen ist offenkundig die Grundbotschaft des Christentums, dass die Erlösung durch die Auferstehung des Gekreuzigten vollumfänglich und für alle gilt, angekommen. So heißt es im 1. Timotheusbrief:

Vor allem fordere ich zu Bitten und Gebeten, zu Fürbitte und Danksagung auf, und zwar für alle Menschen, für die Herrscher und für alle, die Macht ausüben, damit wir in aller Frömmigkeit und Rechtschaffenheit ungestört und ruhig leben können. Das ist recht und wohlgefällig vor Gott, unserem Retter; er will, dass alle Menschen gerettet werden und zur Erkenntnis der Wahrheit gelangen. Denn: Einer ist Gott, Einer auch Mittler zwischen Gott und Menschen: der Mensch Christus Jesus, der sich als Lösegeld hingegeben hat für alle, ein Zeugnis zur vorherbestimmten Zeit, als dessen Verkünder und Apostel ich eingesetzt wurde – ich sage die Wahrheit und lüge nicht – , als Lehrer der Völker im Glauben und in der Wahrheit. 1Timotheus 2,1-6

Die Erlösung an sich scheint nach diesen Worten nicht zwingend an eine Kirchenmitgliedschaft gebunden zu sein. Die alten Drohungen des Heilsverlustes ziehen nicht mehr. Das haben die Menschen verstanden. Allerdings will Gott eben nicht nur, dass alle Menschen gerettet werden – diese Rettungstat ist in Kreuzestod und Auferstehung Jesu Christis längst offenbar geworden; es steht eben auch an, dass alle (!) zur Erkenntnis der Wahrheit gelangen, damit ein ruhiges Leben in Frömmigkeit und Rechtschaffenheit möglich wird. Das korrespondiert mit dem Auftrag der Kirche, das Evangelium in Wort und Tat allen Geschöpfen in aller Welt zu verkünden (vgl. Markus 16,15). Stattdessen aber werden landauf und landab in den (Erz-)Bistümern und Landeskirchen Konzeptabteilungen und Zukunftsprozesse betrieben, die das Wachstum der Kirche zum Ziel haben – als sei die Kirche eben Ziel und nicht Zweck … Judith Müller, Organisations- und Gemeindeberaterin in München stellt daher bereits im Jahr 2017 zu Recht fest:

„Gemessen an der Zahl von Abteilungen oder Agenturen, die in deutschen Diözesen und Landeskirchen sei es als interne oder als externe Dienstleister mit der Vokabel „Entwicklung“ (Kirchen-, Organisations-, Pastoral-, Gemeinde-) auftreten, müsste das kirchliche Leben im Lande nur so brummen (…). Nimmt man noch die Initiativen und Firmen hinzu, die sich durch ein X (z.B. FreshX, PfinXten, Xpand) oder eine 2 im Namen (Kirche², Futur2) empfehlen, könnte man den Eindruck gewinnen, wir erlebten gerade eine kraftvolle kirchliche Aufbruchszeit.
Dass dem nicht so ist, dass weithin das Gegenteil erlebt wird, dass vielen Haupt- und Ehrenamtlichen eine schwere Müdigkeit in den Knochen steckt, dass trotz gut gemeinter Aufrufe zu Innovation und Experiment, trotz zahlreicher Impulse für eine sozialräumliche, milieu- und ressourcenorientierte Pastoral die Energiekurven hoffnungsbereiter Williger meist schnell wieder abfallen, das können alle bezeugen, die sich aus pastoralen Planungs- und Konzeptabteilungen und Forschungszentren regelmäßig in die Niederungen der konkreten pastoralen Wirklichkeit vor Ort begeben.“7)

Seitdem hat sich eigentlich nichts geändert. Die Zukunftsprozesse planen weiter pastorale Luftschlösser und entwickeln ekklesiale Utopien, die einem Feldzug mit Armeen gleichen, die längst aufgerieben sind, während die Menschen in ein Leben ohne Kirche gehen, in dem Gott gewollt oder ungewollt, bewusst oder unbewusst weiter gegenwärtig ist. Wer in die Zukunft schaut, braucht sich halt nicht mit den Herausforderungen der Gegenwart geschäftigen. Da blühen zwar hier und da immer wieder ein paar pastoral hippe Projekte auf, die gebunden an zeitliche, räumliche und personale Kontexte funktionieren, aber, da die Kontexte eben gebunden sind, streng genommen nicht nachzuahmen sind. Das sind – bei allem Respekt gegenüber dem oft leidenschaftlichen Engagement der Beteiligten – keine Leuchttürme, sondern bestenfalls pastorale Glühwürmchen. Es ist gut, dass es diese Projekte gibt. Eine Lösung für das Grundproblem sind sie nicht …

Ausge- und überliefert

Auch das Problem ist nicht neu. Das Zweite Vatikanische Konzil verdankt seine Einberufung der Erkenntnis Johannes XXIII, dass die Kirche ein Aggiornamento, eine Verheutigung braucht. Das vergessen selbsternannte Traditionshüter gerne, dass die Entwicklung gesellschaftlicher Veränderungen, mit denen die Kirche sich auseinandersetzen muss und die heute unübersehbar ist, schon nach dem 2. Weltkrieg eingesetzt. Die alten Botschaften müssen in Wort und Tat eben immer neu gesagt werden. Das ist das eigentliche Wesen der Überlieferung. Überlieferung aber ist das deutsche Wort für das lateinische traditio. Tradition ist eben kein Zu- oder Bestand, sondern ein Prozess, der auf griechisch παράδοσις (gesprochen: parádosis) genannt wird. Es ist eben kein Zufall, dass dieses Wort als Verb verwendet wird, wenn es um die „Überlieferung“ Jesu geht – etwa Johannesevangelium:

Auch Judas, der ihn auslieferte (ὁ παραδιδούς – ho paradidoús), kannte den Ort, weil Jesus dort oft mit seinen Jüngern zusammengekommen war. Johannes 18,2

Oder weiter auch im Prozess vor Pilatus:

Jesus antwortete ihm: Du hättest keine Macht über mich, wenn es dir nicht von oben gegeben wäre; darum hat auch der eine größere Sünde, der mich dir ausgeliefert (ὁ παραδούς) hat. Johannes 19,11

Aus der Auslieferung Jesu, die eben auch eine Überlieferung ist, entsteht die Überlieferung der frohen Botschaft von der Auferstehung des Gekreuzigten, so dass Paulus sagen kann:

Denn vor allem habe ich euch überliefert (παρέδωκα – gesprochen: parédoka), was auch ich empfangen habe: Christus ist für unsere Sünden gestorben, gemäß der Schrift, und ist begraben worden. Er ist am dritten Tag auferweckt worden, gemäß der Schrift, und erschien dem Kephas, dann den Zwölf. 1 Korinther 15,3-5

Offene Fenster ...

Die Überlieferung dieser Botschaft ist der eigentliche Auftrag einer Kirche, die ihr Wesen verfehlt, wenn sie sich selbst zum Ziel macht. Damit die Überlieferung in neue Zeiten und neue Räume gelingen kann, muss sie immer neu Gestalt annehmen. Wohlgemerkt: Nicht die Botschaft verändert sich, allerdings ihre Gestalt. Auch das hat Anhalt an einer Weisung Jesu:

Niemand näht ein Stück neuen Stoff auf ein altes Gewand; denn der neue Stoff reißt vom alten Gewand ab und es entsteht ein noch größerer Riss. Auch füllt niemand jungen Wein in alte Schläuche. Sonst zerreißt der Wein die Schläuche; der Wein ist verloren und die Schläuche sind unbrauchbar. Junger Wein gehört in neue Schläuche. Markus 2,21-22 parr

Das Wort macht deutlich, dass es nicht mit ein wenig Kosmetik oder Flickschusterei getan ist. So wie der Geist Gottes durch die Zeiten weht und sie stets neu schafft, muss auch die immer junge Botschaft vom nahen Reich Gottes, das in der Auferstehung des Gekreuzigten offenbar geworden ist, immer neue Gestalt annehmen. Das ist Tradition!

Genau das hat Papst Johannes XXIII wohl erkannt, als er vom Aggiornamento, von der Verheutigung der Kirche sprach. Laut einer unbestätigten Anekdote soll er zu seinem Amtsantritt das Motto ausgegeben haben:

„Macht die Fenster der Kirche weit auf!“8)

Dieses Wort wird gerne von Verantwortlichen in der Kirche zitiert, wenn sie sagen wollen, dass sich etwas ändern soll: Die Fenster auf, damit frische Luft hineinkommt … und man sich wieder an die angestammten Plätze setzt. Dabei ist das Wort vom offenen Fenster zwiespältig. Nicht nur, dass es unangenehm ziehen kann. Manch ein offenes Fenster verleitet eben auch zum Fenstersturz mit unabsehbaren Konsequenzen, wie Paulus in Troas erfahren muss:

Als wir am ersten Tag der Woche versammelt waren, um das Brot zu brechen, redete Paulus zu ihnen, denn er wollte am folgenden Tag abreisen; und er dehnte seine Rede bis Mitternacht aus. In dem Obergemach, in dem wir versammelt waren, brannten viele Lampen. Ein junger Mann namens Eutychus saß im offenen Fenster und sank in tiefen Schlaf, als Paulus immer länger sprach; überwältigt vom Schlaf, fiel er aus dem dritten Stock hinunter; als man ihn aufhob, war er tot. Paulus lief hinab, warf sich über ihn, umfasste ihn und sagte: Beunruhigt euch nicht: Er lebt! Dann stieg er wieder hinauf, brach das Brot und aß und redete mit ihnen bis zum Morgengrauen. So verließ er sie. Den jungen Mann aber führten sie lebend von dort weg und sie wurden nicht wenig getröstet. Apostelgeschichte 20,7-12

... in beiden Richtungen!

Die lukanische Erzählung ist bemerkenswert – und das nicht nur, weil sie aus der Perspektive eines Erzählers vorgetragen wird, der offenkundig selbst dabei war. Die Nutzung der 1. Person Plural ist für den Kontext ungewöhnlich. Die Erzählung selbst unterbricht anekdotisch einen Reisebericht. Nach der Erzählung vom Aufstand der Silberschmiede in Ephesus (vgl. Apostelgeschichte 19,21-40) werden in Apostelgeschichte 20,1-6 summarisch einige Begebenheit und Stationen der Reise des Paulus und seiner Gefährten in Mazedonien und Griechenland aufgezählt. Die Einführung des „Wir“ in Apostelgeschichte 20,7 ist ein markanter Einschnitt, der nicht nur die Anekdote von Troas einleitet, sondern auch die Aufmerksamkeit der Leserinnen und Hörer besonders anspricht: Hier spricht ein Augenzeuge. Tatsächlich bleibt die „Wir“-Perspektive auch in der folgenden Weiterführung der Reiseberichte in Apostelgeschichte 20,13-16 erhalten.

Die Erzählung vom Fenstersturz des Eutychus beansprucht mit der Nennung des „Wir“ eine durch Augenzeugen – zu denen der Erzähler sich selbst zählt – verbriefte Begebenheit. Dass die Erzählung in der Tat einen historischen Kern hat, wird durch zwei weitere Beobachtungen verstärkt. Zum einen erwähnt Paulus selbst in einer autobiographischen Notiz in 2 Korinther 2,12, dass er in Troas war und der Herr ihm dort eine Tür zur Verkündigung des Evangeliums öffnete; zum andere findet sich eine außerbiblische Variante der Erzählung in den apokryphen Paulusakten (Acta Pauli 11,1)9). Die Ähnlichkeiten beider Erzählungen sind frappierend, weisen allerdings auch Unterschiede auf:

„In der einen fällt Eutychus, in der andere Patroklus, die beide als παῖς10), ‚junger Mann‘ oder ‚Knabe‘, bezeichnet werden, bei einer Predigt des Paulus aus einem Fenster (θύρις)11); beide sterben und werden durch dei Intervention des Apostels auferweckt. Aber der Rahmen ist ein anderer. Eutychus, der Glaubende, ist nicht Patroklus, der Mundschenk des Cäsar. Auf der einen Seite feiert die Gemeinde der Gläubigen ihren Gottesdienst unter der Leitung des Apostels, der sich auf dem Weg zum Martyrium befindet; auf der anderen Seite steht zwar Paulus‘ Ende ebenfalls nah, aber der Sturz des Heiden Patroklus wird als Angriff des bösen interpretiert, womit die Bruderliebe der Gemeinde auf die Probe gestellt werden soll (…). Seitens der Apostelgeschichte eine ekklesiologische Herausforderung, seitens der Paulusakten ein Wunder in apologetischer Absicht.“12)

Die doppelte Überlieferung macht deutlich, dass der Anekdote durchaus eine gewisse Bedeutung zugemessen wurde, die zu der Frage nach der eigentlichen Bedeutung führt.

Tatsächlich führt der Text aus, dass am ersten Tag der Woche eine Versammlung stattgefunden hatte, bei der das Brot gebrochen wurde und Paulus redete. Damit sind mit Blick auf die oben zitierte Kirchendefinition der Apostelgeschichte schon zwei Parameter angedeutet: Brotbrechen und Gemeinschaft.

Paulus nutzt die Versammlung, um zu reden – genauer: um lange zu reden … sehr lange … nämlich bis Mitternacht. Was er geredet hat, wird zwar nicht erwähnt; es ist aber davon auszugehen, dass es um die Überlieferung geht, um das, was er selbst empfangen hat, um es weiterzugeben. In der Diktion der Kirchendefinition von Apostelgeschichte 2,42 konnotiert das mit der „Lehre der Apostel“, ist es Paulus doch selbst wichtig, dass seine Verkündigung mit dieser übereinstimmt, wie er im Galaterbrief betont:

Ich ging hinauf aufgrund einer Offenbarung, legte der Gemeinde und im Besonderen den Angesehenen das Evangelium vor, das ich unter den Völkern verkünde; ich wollte sicher sein, dass ich nicht ins Leere laufe oder gelaufen bin. Galater 2,2

Nur gebetet wurde nicht – oder? Zumindest erwähnt die Anekdote das nicht – jedenfalls nicht auf den ersten Blick. Stattdessen wird betont, dass die Versammlung in einem Obergemach stattfand und viele (!) Lampen brannten. Bei den genannten λαμπάδες (gesprochen: lampádes) handelt es sich wohl um die damals überall zu findenden Öllämpchen – ein Massenprodukt für den alltäglichen Bedarf, dessen Nutzung den Sauerstoff schnell aufgezehrt haben dürfte. Das, die späte Stunde und die vielleicht gerade für ein Kind ermüdende Rede führt dazu, dass ein Jüngling (νεανίας – gesprochen: neanías) namens Eutychus, der im Fenster saß, aus eben diesem fällt. Die Bewegung geschieht also nicht durch das Fenster nach innen, sondern nach außen. Nicht frischer Wind in die gemeindliche Versammlung, sondern ein durch Verkündigungsmüdigkeit und abgestandene Luft bewirkter Sturz nach draußen. Wahrhaftig: Ein Kirchenaustritt der Sonderklasse! Spektakulär – aber irgendwie auch vorhersehbar. Eutychus wird so zum Patron all derjenigen, die heute aus der Kirche fallen, weil sie müde der langen Reden und der abgestandenen Botschaften sind, die ihnen nichts mehr für ihr Leben geben …

Der Patron der Abgefallenen

An dieser Stelle kommt Bewegung in die Gemeinde. Was sonst. Einen Sturz aus dem dritten Stock überlebt man nicht so leicht. Eutychus ist tot, gestorben für die Gemeinde. Der Lebensfaden ist gerissen. Aus der Notiz in V. 10 wird deutlich, dass die Gemeinde in Aufruhr war. Die Einheitsübersetzung von 2016 übersetzt vorsichtig: „Beunruhigt euch nicht!“ – als wenn das eine angemessene Reaktion wäre. Besser wäre, das θορυβεῖσθε (gesprochen: thorybeîsthe) mit „Regt euch nicht auf!“ zu übersetzen; tatsächlich aber trifft wohl die revidierte Lutherübersetzung von 2015 den richtigen Ton, wenn sie interpretiert: „Macht kein Geschrei!“.

Paulus, der spontan dem Herausgefallenen hinterhereilt und sich nicht vom Schock vereinnahmen lässt, erkennt, dass noch Leben in ihm ist: Die Seele ist noch in ihm (vgl. Apostelgeschichte 20,10). Er ist nicht verloren. Die Frage ist, wie er das erkennt. Die Beschreibung ist eindrücklich:

Er warf sich über ihn und umfasst ihn. Apostelgeschichte 20,10

Eindrücklich ist hier zuerst, dass der griechische Urtext mit „Er warf sich über ihn“ dasselbe Verb verwendet, mit dem auch der Sturz des Jünglings beschreiben wurde: πίπτειν (gesprochen: píptein). Paulus rekonstruiert damit in gewisser Weise den Unfall des Jünglings. So wie er fiel, fällt er und wirft sich auf ihn. Gleichzeitig assoziiert Paulus auf diese Weise eine prophetische Handlung, die in den Erzählungen über den Propheten Elischa überliefert ist, der den toten Sohn der einer Schunemiterin wieder zum Leben erweckt:

Als Elischa in das Haus kam, lag das Kind tot auf seinem Bett. Er ging in das Gemach, schloss die Tür hinter sich und dem Kind und betete zum HERRN. Dann trat er an das Bett und warf sich über das Kind; er legte seinen Mund auf dessen Mund, seine Augen auf dessen Augen, seine Hände auf dessen Hände. Als er sich so über das Kind hinstreckte, kam Wärme in dessen Leib. Dann stand er auf, ging im Haus einmal hin und her, trat wieder an das Bett und warf sich über das Kind. Da nieste es siebenmal und öffnete die Augen. 2 Könige 4,32-38

Bedeutsam ist hier, dass der sehr physische, ja im Verhältnis eines Erwachsenen zu einem Kind brachial wirkende Akt des Sich-auf-das-Kind-Werfens geistlich als Gebet gedeutet wird. Geistliches ohne physische Korrespondenz bleibt eben nur heiße Luft. Erst die physische Konsequenz des geistlichen Betens bewirkt Leben und Lebenswärme. Es ist die geradezu fleischlich-körperliche Gestaltgebung des Gebetes die hier wie dort Leben bewirkt. Damit ist die vierte Eigenschaft der Gemeinde real vor Augen geführt: Lehre, Brotbrechen, Gemeinschaft und Gebet – aber eben kein Gebet mit Worten, sondern ein Gebet physisch kaum zu überbietender Tat!

Bemerkenswert ist, dass Paulus nach vollzogenem Tatgebet in die Gemeinde zurückkehrt, das Brot mit ihnen bricht und seine Verkündigung fortsetzt. Den Jüngling hingegen führt man leben von dort weg. Bleibt der Gefallene also auch der Ferne? Er geht aber zuerst seiner Wege. Die Erzählung lässt offen, ob er zurückkehrt. Das darf offenkundig so sein. Auch so wird er von der heilenden Botschaft in Wort und Tat erzählt haben. Wer könnte so etwas für sich behalten?

Die Tatsache, dass der Wir-Erzähler dieser beeindruckenden Anekdoten in der Apostelgeschichte den Namen des Gestürzten überliefert: Eutychus. So bekommt der Gestürzte nicht nur eine Identität. Er ist auch identifizierbar und könnte das Erzählte bestätigen. Es ist also nicht unwahrscheinlich, dass Eutychus wieder zur Gemeinde gefunden hat …

Betet nicht betroffen, werft euch ins Leben!

Die Geschichte vom Fenstersturz des Eutychus ist eine Erzählung, aus der Verkünderinnen und Verkünder durch die Zeiten für den Umgang mit aus der Gemeinde Gefallenen lernen können:

1. Offene Fenster haben zwei Richtungen: Sie lassen frische Luft hinein, deren erquickende Wirkung verpufft, wenn man an Konferenztischen sitzen bleibt. Fenster auf Kipp machen die Luft auch nicht wirklich besser. Die, die am offenen Fenster sitzen und frische Luft einsaugen, können nämlich auch schnell herausfallen …

2. Schaut den Herausgefallenen nicht betroffen hinterher, sondern sucht sie, nicht mit Briefen, die Monate nach dem Fenstersturz verschickt werden, sondern persönlich. Macht euch berührbar, nicht mit geistlich heißer Luft, sondern mit geistlicher Physis. Macht euch berührbar, sucht sie und stürzt euch auf sie. Wer weiß: Vielleicht ist noch Leben in ihnen.

3. Lasst sie dann trotzdem ziehen, wenn sie ziehen wollen. Ihr aber öffnet nicht nur die Fenster, sondern auch die Türen. Stellt Lampen auf, damit sie den Weg zurück finden, wenn sie ihn suchen. Zeigt euch öffentlich auf den Straßen und Plätzen, in den analogen und digitalen Medien. Es hat noch nie geschadet, wenn ihr die frohe Botschaft nicht mit dem belämmerten Blick begossener Pudel, sondern mit dem fröhlichen Gesang der Spatzen von den Dächern pfeift. Niemand bereut die Trennung von selbstmitleidigen Geliebten; die Sehnsucht nach dem minniglichen Liebesgesang ist da schon anders. Also tretet nicht betroffen von einem Fuß auf den anderen, sondern tanzt den Tanz des Lebens!

4. Freut euch am Leben, das Gott auch mit denen lebt, die eure Gemeinschaft mit euch nicht teilen wollen. Helft allen! Segnet alle! Gottes Wege sind so vielfältig und sein Tempel ist die Welt. Sperrt ihn um Gottes willen auch heute nicht ein – ihn über den der Tempelbauer Salomo bekennt:

Wohnt denn Gott wirklich auf der Erde? Siehe, selbst der Himmel und die Himmel der Himmel fassen dich nicht, wie viel weniger dieses Haus, das ich gebaut habe. 1 Könige 8,27

5. Macht die Gesichter hell, freut euch des Lebens und seid nicht griesgrämig. Mit wem würdet ihr eher das Brot brechen: Mit Miesepetras und Griesgramen oder mit lebensfrohen und gottvertraut gelassenen Zeitgenossen! Ihr habt es in der Hand: Reißt die Fenster auf und springt ins Leben! Da sind die, die ihr sucht …

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Bildnachweis

Titelbild: Solinger Fenstersturz von Rudolf Alfons Scholl am Museum Baden in Solingen-Gräfrath (Frank Vincentz) – Quelle: Wikicommons – lizenziert als CC BY-SA 3.0.

Video: Kirchensteuer (Christoph Schönbach/Katholische Citykirche Wuppertal) – Quelle: Vimeo – alle Rechte vorbehalten.

Bild 1: Und sie lebt doch (Knut “Kumi” Junker/Katholische Citykirche Wuppertal) – Quelle: Kath 2:30 – alle Rechte vorbehalten.

Einzelnachweis   [ + ]

1. Vgl. hierzu https://www.katholisch.de/artikel/22379-statistik-katholische-kirche-kirchenaustritte-2018 [Stand: 5. Juli 2020].
2. Vgl. hierzu https://dbk.de/nc/presse/aktuelles/meldung/kirchenstatistik-2019/detail/ [Stand: 5. Juli 2020].
3. So etwa Felix Neumann am 26.6.2020 in einer Analyse zu den Austrittszahlen von 2019 auf der Plattform katholisch.de: https://www.katholisch.de/artikel/25979-kirchliche-statistik-2019-der-grosse-schock-und-keine-hoffnung-mehr [Stand: 5. Juli 2020].
4. Siehe hierzu Markus Etscheid-Stams/Regina Laudage-Kleeberg/Thomas Rünker (Hrsg.), Kirchenaustritt – oder nicht? Wie Kirche sich verändern muss, Freiburg i.Br. 2018.
5. Vgl. hierzu die Übersicht bei Markus Etscheid-Stams/Regina Laudage-Kleeberg/Thomas Rünker (Hrsg.), Kirchenaustritt – oder nicht? Wie Kirche sich verändern muss, Freiburg i.Br. 2018, S. 51.
6. Vgl. hierzu https://de.statista.com/statistik/daten/studie/653692/umfrage/ehescheidungen-nach-alter-und-ehedauer-bei-maennern-in-deutschland/ [Stand: 5. Juli 2020].
7. Judith Müller, „Nichts ist zu tun – ohne in Tatenlosigkeit zu versinken“, feinschwarz.net, 30.5.2017, Quelle: https://www.feinschwarz.net/nichts-ist-zu-tun-ohne-in-tatenlosigkeit-zu-versinken/?fbclid=IwAR1J47FrInFhas__21kZwlCO1aNCskOO4WRRSdGQ0eLVhcF8XUP9Rar02zc%23fnref-8626-1 [Stand: 5. Juli 2020].
8. Vgl. hierzu etwa https://www.domradio.de/nachrichten/2009-01-25/vor-50-jahren-kuendigt-johannes-xxiii-ein-oekumenisches-konzil [Stand: 5. Juli 2020].
9. Vgl. hierzu Wilhelm Schneelmelcher, Neutestamentliche Apokryphen in deutscher Übersetzung, Band II: Apostolisches, Apokalypsen und Verwandtes, Tübingen 1997, S. 193-243. Die Stelle Acta Pauli 11,1 findet sich auf S. 238f.
10. Gesprochen: paîs.
11. Gesprochen: thyris.
12. Daniel Marguerat, Lukas, der erste christliche Historiker. Eine Studie zur Apostelgeschichte, Zürich 2003, S. 368.
Weitere Beiträge:

1 Reply

  1. Herzlichen Dank für Ihre inspirierenden Gedanken und Bibelverknüpfungen, Hr. Dr. Kleine!

    In Ihren Worten liegt wahrhaftige Gelassenheit (lt. Wikipedia von “Gottergebenheit”). In einfachen Worten – frei nach Konfuzius – resumiert: “Was Du liebst, lass frei (nicht ohne ihm Deine ganze Liebe mitzugeben). Kommt es aus freien Stücken zu dir zurück, ist es wahrhaftig…” Gott selbst mutet dem Menschen die freie Entscheidung und Verantwortung zu. Nicht ohne, dass wir auf das Wirken des Heiligen Geistes in Raum und Zeit vertrauen dürfen und es – gerade auch jetzt und heute in dieser ach so rationalen Zeit massenhafter Kirchenaustritte – mit in Gottes Hand legen können…