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Selbst in einer Demokratie kann Rassismus herrschen, wenn ganz gewöhnliche Bürgerinnen und Bürger Rassisten sind. Eine rechtliche Gleichstellung allein ändert noch nicht den Alltag – das wird umso eindringlicher deutlich, wenn freie Bürger voller Wut und Verzweiflung betonen müssen, dass auch „black lives matter“ – dass die Würde eines Menschen unabhängig von seiner oder ihrer Hautfarbe schützenswert ist. 1865 wurde in den USA die Sklaverei vollständig abgeschafft, aber ihr Erbe ist bis heute in der Gesellschaft verankert. Noch bis in die 1960er Jahre bestand dort ein umfassendes System der Segregation: Afroamerikaner wurden in fast allen Lebensbereichen gegenüber „weißen“ Bürgern systematisch benachteiligt. Die Folgen sind bis heute, vor allem in der Wirtschaft und im Bildungssystem sichtbar – und die überbordende Polizeigewalt gegen Afroamerikaner ist immer wieder ein zerstörerisches Symptom dieser Krankheit.
1859 hatte Jefferson Davis, der später erste und einzige Präsident der Konföderierten Staaten von Amerika, auf einer Versammlung der Demokratischen Partei die Sklaverei und den Sklavenhandel als „Import der Rasse Hams“ und als Erfüllung des Schicksals der Afrikaner, „Sklave der Sklaven“ zu sein, verteidigt. In seinen Worten bezog er sich auf die sogenannte „Verfluchung Hams“, deren Interpretation in der US-amerikanischen Kultur zu einem Ankerpunkt für einen sich christlich ausgebenden Rassismus wurde. Eine solche Interpretation der Erzählung in Genesis 9,18-27 ist ein Paradebeispiel für die durch Rassismus bedingte Blindheit für das auf der Hand liegende.
Die Söhne Noachs, die aus der Arche gekommen waren, sind Sem, Ham und Jafet. Ham ist der Vater Kanaans. Diese drei sind die Söhne Noachs; von ihnen aus verzweigten sich alle Völker der Erde.
Die Erzählung beginnt nicht mit einer trennenden Rassentheorie, sondern verweist auf die familiären Anfänge der Menschheit. Alle Menschen stammen von drei Brüdern ab: Sem, Ham und Jafet – aus ihnen geht die Völkerfamilie hervor.
Noach, ein Ackerbauer, war der Erste, der einen Weinberg pflanzte. Er trank von dem Wein, wurde davon betrunken und entblößte sich drinnen in seinem Zelt. Ham, der Vater Kanaans, sah die Blöße seines Vaters und erzählte davon draußen seinen beiden Brüdern. Da nahmen Sem und Jafet einen Überwurf; den legten sich beide auf die Schultern, gingen rückwärts und bedeckten die Blöße ihres Vaters. Sie hatten ihr Gesicht abgewandt, sodass sie die Blöße ihres Vaters nicht sahen.
Und wie in jeder guten Familie gibt es auch hier – bereits am Anfang – Probleme und ein sogenanntes „schwarzes Schaf“ in der Familie. Es geht hier um eine Frage von Scham und Ehre des Vaters. Dass Ham die entblößte Scham seines Vaters sieht, verletzt in der damaligen Welt dessen Würde und Integrität. Doch das eigentliche Vergehen ist die fehlende Diskretion. Er entehrt seinen Vater vor Sem und Jafet, die nun so handeln, wie Ham hätte handeln sollen. Ohne darüber zu reden und ohne hinzusehen, bedecken sie ihren Vater.
Als Noach aus seinem Weinrausch erwachte und erfuhr, was ihm sein jüngster Sohn angetan hatte, sagte er: Verflucht sei Kanaan. Sklave der Sklaven sei er seinen Brüdern! Und weiter sagte er: Gepriesen sei der HERR, der Gott Sems, Kanaan aber werde sein Sklave. Raum schaffe Gott für Jafet. In Sems Zelten wohne er, Kanaan aber werde sein Sklave.
Wie Noach erkennen konnte, dass Ham ihn nackt gesehen hatte, während er schlief, erzählt der Text nicht. Auch wird nicht erklärt, warum nun der Sohn Hams, Kanaan, und nicht der eigentliche Übeltäter verflucht wird. Und eine Hautfarbe spielt in dem Text gar keine Rolle – selbst im Falle des „schwarzen Schafs der Familie“. Doch für die rassistische Auslegung wurde die Verfluchung Kanaans entscheidend:
Verflucht sei Kanaan. Sklave der Sklaven sei er seinen Brüdern!
Selbst in der rassistischen Auslegung dieses Verses ist die keine Rolle spielende Hautfarbe nicht der Ausgangspunkt. Sondern entscheidend ist hier, dass der Status des Sklaventums festgeschrieben wird. Kanaan soll für den Rest der Völkerfamilie zum Sklaven werden – wie der Superlativ „Sklave der Sklaven“ sogar verdeutlicht, soll Kanaan der idealtypische Sklave sein. Losgelöst von seiner biblischen Aussage wurde dieser Fluch dann auf die aus Afrika nach Nordamerika gebrachten Sklaven übertragen und nun auf die sogenannte „Verfluchung Hams“ bezogen. Dass in der biblischen Geschichte Noach –nicht Gott! – Kanaan und nicht Ham verfluchte, wurde im frühen Judentum dadurch erklärt, dass Gott zuvor bereits Ham gesegnet hatte und Noach daher nicht ihn, sondern nur seinen Sohn verfluchen konnte. In der rassistischen Interpretation dieser Erzählung handelt es sich jedoch um die „Verfluchung Hams“ – nicht weil dies gerechter wäre, sondern weil das hebräische Wort für „braun“ ähnlich wie der Name Hams klingt und weil aus dem Völkervater Ham unter anderem das Volk Kusch hervorgegangen ist, als dessen besonderes äußeres Merkmal in der Bibel die schwarze Hautfarbe herausgestellt wird (siehe Jeremia 13,23 und dazu „Die Bedeutung der Hautfarbe in der Bibel“).
Zur Welt des Alten Testaments gehört das Sklaventum dazu. Das lässt sich heute nicht wegdiskutieren, sondern muss kritisch hinterfragt werden. Die Erzählung in Genesis 9,18-27 lässt sich nicht „weißwaschen“, auch wenn darin keine Grundlage für Rassismus gegeben wird. Es ist ein höchst ideologischer Text, der eine Grundlage dafür gibt, wieso es dazu kam, dass Israel durch die Landnahme das Volk Kanaan enteignen durfte. Immer wieder wird im Alten Testament darauf hingewiesen, dass der Landverlust für die Kanaaniter auch durch deren eigene Schuld verursacht (siehe Genesis 15,16; Levitikus 20,22-23) und somit die Landnahme durch Israel gerechtfertigt ist. Dass es im Endeffekt bereits am Anfang der Bibel um die erst im Buch Josua erzählte Landnahme Israels geht, zeigt sich schon daran, dass in Genesis 9,18-27 Ham als Vater Kanaans eingeführt wird, obwohl in der folgenden Erzählung Kanaan eigentlich gar keine Rolle spielt und auch unerklärt bleibt, warum ihn der Fluch trifft – Kanaan ist zumindest hier im Endeffekt der unschuldig Leidende.
Kein Mensch sollte unter Rassismus leiden müssen. Rassismus muss aus den menschlichen Gesellschaften eliminiert werden und im christlichen Glauben sollte man sich wieder darauf besinnen, dass alle Menschen von dem betrunkenen und entblößten Noach abstammen.
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Titelbild: Boy reading Holy Bible, fotografiert von Samantha Sophia, veröffentlicht auf Unplash – Lizenz: gemeinfrei.