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Auf dürrem Boden erscheinen schon Flechtengewächse als blühendes Leben. Der oberflächliche Betrachter übersieht dabei, dass selbst in der Wüste unter dem Sand eine große Artenvielfalt des Lebens herrscht, das sich an die Bedingungen der Umwelt angepasst hat. Inkarnation ist eben kein bloß frommes Wort, Inkulturation auch nicht. Es sind die Bedingungen, unter denen das Leben überhaupt stattfinden kann. Dass das Leben aber in jeder kleinsten sich bietenden Ritze hervorsprießt, dass selbst die unwirtlichsten Gegenden, so denn die minimalsten Bedingungen stimmen, Leben hervorbringt, das zeigt, wie machtvoll der Lebenstrieb des Universums ist. Es ist daher nicht nur mehr als wahrscheinlich, dass es in den Myriaden Sonnensystemen und Galaxien, die das Universum beherbergt, weitere, ja viele Planeten geben wird, auf denen sich die Macht des Lebens den Raum nimmt, der ihm zusteht; mehr noch: jeder Garten, in dem auf Einheitsrasenhöhe fixierte Gärtnerinnen und Gärtner den in sich aussichtlosen Kampf gegen den so offenkundig schöpfungsimmanenten Trieb zur Artenvielfalt immer neu verlieren, wird auf diese Wiese letztlich zum Gottesbeweis: Der Gott des Lebens schafft immer neu! Auch heute noch! Und dieser Gott scheint die Vielfalt zu lieben. Unkraut ist kein Name Gottes, sondern eine bloß menschliche Kategorie.
Wider den Drang zur Monokultur
Die Vielfalt betonen auch die immer wieder gerne, die in der Kirche Gottes Ansehen zu haben scheinen. Katholisch – das allein heißt ja im besten Sinn des Griechischen καθόλον (gesprochen: kathólon) „allumfassend“ und „universell“. Die römisch-katholische Kirche folgt in diesem Sinne zwar dem römischen Ritus, versteht sich aber selbst als im besten Sinn „umfassende“ Kirche. Und „umfassend“ meint eben auch die Einheit in Vielfalt. Immer wieder fanden sich in der Kirche von Anfang an scheinbar oder tatsächlich widerstreitende Bewegungen: Judenchristen und Heidenchristen, Benediktiner und Zisterzienser, Franziskaner und Dominikaner, Progressive und Traditionalisten. Die Kirche war schon immer bunt. Gefährlich wurde es immer nur dann, wenn die einen anfingen, den anderen das Katholischsein abzusprechen, so wie es in der Gegenwart leider wieder allzu häufig geschieht, wenn einem die echten Argumente theologischen Ringens ausgehen und die Erkenntnis reift, das man selbst auf dem falsche, wenn nicht gar auf einem toten Pferd sitzt. Dann wird statt eines Gartens der Vielfalt eine Monokultur des Katholischseins beschworen, wobei geflissentlich übersehen wird, dass es zum Sosein der Schöpfung gehört, dass Monokulturen eher Kulturen des Todes sind. Der Gott des Lebens kann das nicht wollen, hat er selbst doch die Vielfalt hervorgebracht; mehr noch: der dreifaltige Gott zeigt doch in sich, dass er in der Einheit dynamische Vielfalt ist.
Wider den Drang des Desinteresses
Nun könnte man dem Drang zur Monokultur entgehen, indem jeder seinen eigenen Weg geht. Sollen die anderen doch machen, was sie wollen. Was soll man sich auch mit den Argumenten anderer auseinandersetzen, die der eigenen Apotheose entgegenstehen und das selbst gezimmerte Gottesbild als Götzen entlarven. Die Scheu zum Streit, die die vom Kampf und Ringen Ermatteten in die weichen Federn eines bloß gefühlten Glaubens fallen lässt, ist der erste Schritt zum Verlust der Einheit in Vielfalt. Auch hier droht der Tod, denn es fehlt der feste Boden, auf dem das Leben gedeihen kann. Leben erwächst eben auch im Widerstand gegen die Schwerkraft. Wie könnte eine Pflanze zum Licht streben, wenn da nichts ist, was sie hält. Leben ist Widerstand, Leben ist Vielfalt, Leben ist Ringen auf festem Boden, der Nahrung gibt. Auf dem einen Boden aber können viele Pflanzen wachsen. Bringt aber jeder Boden gute Früchte hervor?
Wurzelgrundanalyse
Die Qualität des Bodens ist nicht zuletzt für die Qualität der Früchte verantwortlich. Jeder Weinkenner weiß das ebenso, wie jeder Weihrauchliebhaber. Sowohl bei den Reben als auch bei den Boswellien entscheidet nicht zuletzt der Boden darüber, ob die Ernte gut oder schlecht ist. Umgekehrt sind es die Früchte, aus denen sich Schlüsse über den Zustand des Bodens ziehen lassen. Das ist der Hintergrund des jesuanischen Gleichniswortes aus der Bergpredigt, mit dem er vor den falschen Propheten warnt:
Hütet euch vor den falschen Propheten; sie kommen zu euch in Schafskleidern, im Inneren aber sind sie reißende Wölfe. An ihren Früchten werdet ihr sie erkennen. Erntet man etwa von Dornen Trauben oder von Disteln Feigen? Jeder gute Baum bringt gute Früchte hervor, ein schlechter Baum aber schlechte. Ein guter Baum kann keine schlechten Früchte hervorbringen und ein schlechter Baum keine guten. Jeder Baum, der keine guten Früchte hervorbringt, wird umgehauen und ins Feuer geworfen. An ihren Früchten also werdet ihr sie erkennen.
Die Metaphorik von den guten und schlechten Früchten war den damaligen Leserinnen und Hörern des Matthäusevangeliums wohl ebenso aus dem alltäglichen Erleben vertraut wie denen, zu denen Jesus unmittelbar gesprochen hat. Es erschließt sich ohne Umwege, dass das Wachsen der Gemeinde in dieser Metapher einen Spiegel findet. Auch hier gibt es guten und schlechten Boden. Nicht jeder Prophet, nicht jede Verkünderin meint es wirklich gut mit denen, die sie um sich scharen. Wie bedeutsam dabei die botanische Metaphorik, die möglicherweise auf Jesus selbst zurückgeht, in der frühen Kirche gerade mit Blick auf die Erstevangelisierung und Neugründung von Gemeinden war, zeigt eine retrospektivische Bemerkung des Paulus im 1. Korintherbrief, die nicht zufällig auch die Einheit in Vielfalt durchblicken lässt:
Was ist denn Apollos? Und was ist Paulus? Diener, durch die ihr zum Glauben gekommen seid, und jeder, wie der Herr es ihm gegeben hat: Ich habe gepflanzt, Apollos hat begossen, Gott aber ließ wachsen. So ist weder der etwas, der pflanzt, noch der, der begießt, sondern nur Gott, der wachsen lässt. Wer pflanzt und wer begießt: Beide sind eins, jeder aber erhält seinen eigenen Lohn entsprechend seiner Mühe. Denn wir sind Gottes Mitarbeiter; ihr seid Gottes Ackerfeld, Gottes Bau.
Vielfalt ohne Einheit
Im Hintergrund der paulinischen Betonung der Einheit in Vielfalt steht freilich eine drohende Zersplitterung der Gemeinde, die immer wieder durch die Zeilen des 1. Korintherbriefes durchschimmert. Sie bestimmt schon das Prooemium, also die Einleitung des Schreibens:
Ich ermahne euch aber, Brüder und Schwestern, im Namen unseres Herrn Jesus Christus: Seid alle einmütig und duldet keine Spaltungen unter euch; seid vielmehr eines Sinnes und einer Meinung! Es wurde mir nämlich, meine Brüder und Schwestern, von den Leuten der Chloë berichtet, dass es Streitigkeiten unter euch gibt. Ich meine damit, dass jeder von euch etwas anderes sagt: Ich halte zu Paulus – ich zu Apollos – ich zu Kephas – ich zu Christus. Ist denn Christus zerteilt? Wurde etwa Paulus für euch gekreuzigt? Oder seid ihr auf den Namen des Paulus getauft worden?
Offenkundig hatten sich in der korinthischen Gemeinde, deren Mitgliederzahl man wohl auf etwa 250-300 Personen schätzen kann, verschiedene Parteien gebildet, die miteinander im Streit lagen. Paulus verwendet hier das Wort ἔρις (gesprochen: éris), das nicht die konstruktive Dimension des streitenden Ringens etwa um die Wahrheit betont, sondern den Aspekt der Zwietracht in sich trägt, die letztlich zu den σχίσματα (gesprochen: schísmata) führt, vor denen er in V. 10 mahnt. Hier herrscht gerade nicht mehr Einheit in Vielfalt; vielmehr ist die Einheit dadurch bedroht, dass sich die Parteien gegenseitig absprechen, auf dem richtigen Weg zu sein – angesichts der doch relativ kleinen Zahl der Gemeindemitglieder ein Zustand mit dem Potential zur Selbstzerstörung.
Auf einen Grund kommt Paulus später zu sprechen, wenn er sich im 12. Kapitel gegen diejenigen wendet, die für sich in Anspruch nehmen, mehr im Besitz des Heiligen Geistes als die anderen zu sein, also denen, die sich im Besitz außergewöhnlicher Geistesgaben, der πνευματικά (gesprochen: pneumatiká), wähnen (vgl. 1 Korinther 12,1). Hier führt er nicht nur als Gegenbegriff die χαρισμάτα (gesprochen: charismáta – vgl. 1 Korinther 12,4) ein. Er beschreibt im Folgenden dann auch eine Einheit des Leibes Christi in der Vielfalt seiner Glieder (vgl. 1 Korinther 12,12-31), um dann doch noch einen Schritt weiterzugehen, wenn er zur Erreichung dieser Einheit im Angesicht der faktisch drohenden Zertrennung der korinthischen Gemeinde ausführt:
Strebt aber nach den höheren Gnadengaben! Dazu zeige ich euch einen überragenden Weg.
Wurzelbehandlung
Paulus weist einen ὁδὸν καθ᾽ ὑπερβολήν (gesprochen: hodón kath‘ hyperbolén), einen „überragenden Weg“, der über das bisher von ihm Gesagt hinausgeht. Und so singt er sein Hoheslied der Liebe (1 Korinther 13,1-13), das in den ebenso jubelnden wie mahnenden Ausruf mündet:
Für jetzt bleiben Glaube, Hoffnung, Liebe, diese drei; doch am größten unter ihnen ist die Liebe.
Es ist die Liebe, die alles erträgt (vgl. 1 Korinther 13,4-7), ja sogar den Andersdenkenden, den Gegner, den Feind. Der Feind mag immer Feind bleiben und der Gegner Gegner. Man muss den anderen nicht mögen, ihn zu lieben aber ist die Pflicht derer, die sich in der Nachfolge des vom Kreuzestod Auferstandenen befinden.
Der Grund für diese Art Wurzelbehandlung ist die schlichte Einsicht, dass das eigene, subjektive Erkennen immer auch Stückwerk ist:
Die Liebe hört niemals auf. Prophetisches Reden hat ein Ende, Zungenrede verstummt, Erkenntnis vergeht. Denn Stückwerk ist unser Erkennen, Stückwerk unser prophetisches Reden; wenn aber das Vollendete kommt, vergeht alles Stückwerk.
Niemand darf deshalb für sich in Anspruch nehmen, den einzigen Weg zu Gott zu kennen – schon gar nicht, wenn er nicht primär Christus als den Weg, die Wahrheit oder das Leben verkündet (vgl. Johannes 14,6), sondern die Pfade selbsternannter Prophetinnen und Propheten, die für sich in Anspruch nehmen, nach fast 2.000 Jahren neue katechumenale Wege, charismatische Erneuerungen oder die Fokussierung auf das familiäre Herdfeuer als ultima ratio der Kirche verheißen. Die eitle Demut vieler Gründerinnen und Gründer solcher Bewegungen verdeckt die eigentliche Botschaft: Man muss den Weg so gehen, wie sie es geheißen – und genau damit verdecken sie den, den die wahren Propheten verheißen. Die Parteiungen sind wieder da. Es genügt offenkundig nicht, sich auf den Weg der Nachfolge Jesu Christi zu begeben; es muss der Weg Kiko Argüello oder Chiara Lubichs sein. Sind diese wirklich gefeit vor einer Gefahr, die offenkundig auch Paulus sich selbst mahnend ahnt:
Wir verkünden nämlich nicht uns selbst, sondern Jesus Christus als den Herrn, uns aber als eure Knechte um Jesu willen.
Quo vadis?
Die klare Einfachheit unkomplexer Botschaften sollte jeden Verständigen skeptisch machen. Ist es wirklich zulässig, wenn Weihbischöfe doch mehr oder weniger einseitig für bestimmte sogenannte geistliche Gemeinschaften werben?1) Ist es gut, wenn sogenannte geistliche Gemeinschaften ganze Gemeinden übernehmen, um sie zu „verlebendigen“, letztlich aber zerteilen, weil es dann „normale“ und „wahre“ Christen gibt, die sich sogar zu unterschiedlichen Osternachtfeiern treffen? Warum müssen Päpste die sogenannte „neue geistliche Gemeinschaften“ wie den neokatechumalen Weg aufrufen, die Einheit der Kirche zu wahren und vor Isolationismus und aggressiver Glaubensverkündigung warnen2)? Wohin geht eine Kirche, in der manche für sich in Anspruch nehmen, mehr im Besitz von Wahrheit und Geist zu sein, als die, die im Alltag völlig unscheinbar und normal ihren Mann und ihre Frau als Glaubende stehen, ohne das eisig-verzückte Lächeln, das vielen „Begeisterten“ ins Gesicht gemeißelt ist, sondern im einfachen Zeugnis ohne Worte derer, die ahnen, dass Gott Mensch und kein Übermensch wurde – jenem Gott, der den Erdendreck so liebt, dass er überall Leben aus ihm sprießen lässt?
Wie sehr sich manche geistliche Gemeinschaft von dem, den sie vermeintlich verkünden, faktisch entfernt haben, zeigt nicht nur das Beispiel Doris Wagners, die als ehemaliges Mitglied der „geistlichen Gemeinschaft“ „Das Werk“ über die dort zu findenden Strukturen des geistlichen Missbrauchs, der eben auch in sexuellen Missbrauch mündete, berichtet3). Auch der Münsteraner Bischof Felix Genn macht auf diese Gefahr aufmerksam, wenn er mit Blick auf die Diskussionen um den sexuellen Missbrauch darauf verweist, dass Bischöfe und die Arbeitsgruppe „Kirchliche Bewegungen und neue geistliche Gemeinschaften“ der Deutschen Bischofskonferenz auf das Phänomen des geistlichen Missbrauchs aufmerksam wurden:
„Allzu oft, so die Befürchtung, geht psychischer und geistlicher Missbrauch dem sexuellen Missbrauch voraus. Opfer sexuellen Missbrauchs werden durch eine falsche geistliche Begleitung in Abhängigkeiten gebracht und gefügig gemacht.“4)
Der Geist hyperventiliert nicht
Angesichts der ebenso nüchternen wie erschütternden Feststellung Bischof Felix Genns erscheint die auf dem katholischen Internetportal katholisch.de zu findenden Meldung, nach dem Weltjugendtag 2019 in Panama hätten sich „tausende Jugendliche“ für ein geistliches Leben entschieden wie eine Warnung:
„Nach dem Weltjugendtag haben sich über tausend junge Menschen für ein geistliches Leben entschieden. Das behauptet die Gemeinschaft ‚Neokatechumenaler Weg‘ nach einem Bericht des Portals ‚Rome Reports‘ (Mittwoch). Demnach hatte bei einem Treffen der Gruppe einen Tag nach dem Weltjugendtag in Panama ein Vertreter der Bewegung die Menge nach Berufungen gefragt. Daraufhin hätten sich 700 Jungen für einen Weg ins Priesteramt und 650 Mädchen für ein klösterliches Leben ausgesprochen. Außerdem hätten 600 Familien zugesagt, ihr Leben Gott zu geben. Bei dem Treffen waren demnach 25.000 Jugendliche aus aller Welt anwesend. Geleitet wurde die Zusammenkunft vom Bostoner Erzbischof Kardinal Sean O’Malley und dem Ko-Initiator des ‚Neokatechumenalen Wege‘, Kiko Argüello.“5)
Man stelle sich die Szenerie einfach einmal vor: 25.000 Jugendliche, also Menschen, die sich vor, in oder kurz nach der Pubertät befinden, also in einer Phase hormonverwirrender Identitätsfindungsprozesse anfällig sind für endorphingesteuerte Begeisterungen aller Art, geraten allein angesichts dieses Massenereignisses in einen fremdgesteuerten Zustand sich seligmachender Trance, wie man sie allsamstäglich in Fußballstadien, bei der Hadsch in Mekka oder bei jedem Popkonzert erleben kann, wie jenen von Scooter, der 1994 „Hyper, Hyper“ singend die Massen dazu brachte, zu schwitzen („I want to see you sweat“) und auf dem Tanzboden („Is everybody on the floor“) die Hände in die Höhe zu strecken („Put your hands in the air“)6) – und so ein ähnliches „Feeling“ und eine vergleichbare „Performance“ zu erzeugen, wie man sie auch in modernen Massengebetshäusern erleben kann. „Hyper, Hyper“ aber ist kein „Veni creator spiritus“. Der Heilige Geist hyperventiliert nicht! Ganz im Gegenteil!
Mit Verstand gegen die Wirrungen des bloßen Fühlens
Kiko Argüello hatte auf dem besagten Treffen nach dem Weltjugendtag gefragt, wer der anwesenden Jungen eine Berufung „verspüre“7). Angesichts der psychologischen Gesetzmäßigkeiten, die der Dramaturgie solcher Massenveranstaltungen zueigen sind, ist es kein Wunder, dass nach einem sicher dramaturgiesteigernden Gebet „spontan“ 700 junge Menschen aufstanden. Aber was ist mit diesem Gefühl? Berufung ist etwas viel zu Konkretes, als dass man sie „fühlen“ könnte. Hat die Kirche nicht gerade deshalb die verschiedensten Stufen der Prüfung entwickelt, um das „Gefühl“ zu hinterfragen? Sich berufen zu fühlen nützt nichts, wenn da kein Bischof ist, der die Berufung bestätigte, also in einen konkret hörbaren, wenngleich bischöflichen Ruf umsetzt.
Was aber wird außerdem sein, wenn die Euphorie der Masse den Niederungen des Alltags weicht. Wird da nicht mancher Berufungsfühlende schon auf dem Heimflug schneller auf den Boden der ernüchternden Realität ankommen, als es den eitel-demütigen Verkündern solcher Missionserfolge lieb ist? Und was ist mit jenen, die nach innerer Prüfung spüren, dass ihr Weg dann doch ein anderer ist, sich dann aber ein Gelübde gebunden fühlen, dass sie nicht mit Verstand, sondern im Taumel der Emotionen gegeben haben? Der geistliche Missbrauch fängt sehr früh an. Er beginnt bereits mit der massentauglichen Manipulation, auf die sich die Verführer aller Zeiten verstanden haben. Zu allen Zeiten gab es die Meister dieser Art der Verführung, in der die Emotion zur Wagenlenkerin des Verstandes wurde. Die Meister der Verführung wissen leider, was sie tun.
Das Wort Gottes aber kennt ein Gegengift. Auch hier ist es wieder Paulus, der angesichts der ekstatischen Verirrungen in Korinth nicht nur zur Mäßigung aufruft, sondern dem Verstand die Oberhoheit zuspricht:
Ich will im Geist beten, ich will aber auch mit dem Verstand beten. Ich will im Geist lobsingen, ich will aber auch mit dem Verstand lobsingen. Wenn du nur im Geist den Lobpreis sprichst und ein Unkundiger anwesend ist, wie kann er zu deinem Dankgebet das Amen sprechen; er versteht ja nicht, was du sagst. Dein Dankgebet mag noch so gut sein, aber der andere wird nicht auferbaut. Ich danke Gott, dass ich mehr als ihr alle in Zungen rede. Doch vor der Gemeinde will ich lieber fünf Worte mit meinem Verstand reden, um auch andere zu unterweisen, als zehntausend Worte in Zungen stammeln.
Das soll sich insbesondere in den Versammlungen und Gottesdiensten auswirken:
Was soll also geschehen, Brüder und Schwestern? Wenn ihr zusammenkommt, trägt jeder etwas bei: einer einen Psalm, ein anderer eine Lehre, der dritte eine Offenbarung; einer redet in Zungen und ein anderer übersetzt es. Alles geschehe so, dass es aufbaut. Wenn man in Zungen reden will, so sollen es nur zwei tun, höchstens drei, und zwar einer nach dem anderen; dann soll einer übersetzen. Wenn aber niemand übersetzen kann, soll der Zungenredner in der Gemeinde schweigen. Er soll es bei sich selber tun und vor Gott. Auch zwei oder drei Propheten sollen zu Wort kommen; die anderen sollen urteilen. Wenn aber noch einem andern Anwesenden eine Offenbarung zuteilwird, soll der erste schweigen; einer nach dem andern könnt ihr alle prophetisch reden. So lernen alle etwas und alle werden ermutigt. Die Äußerung prophetischer Eingebungen ist nämlich dem Willen der Propheten unterworfen. Denn Gott ist nicht ein Gott der Unordnung, sondern ein Gott des Friedens.
Der Prophet redet nach eigenem Willen! Seine Äußerungen sind zu überprüfen und zu diskutieren. Erst dann wird sich erweisen, ob seine „Offenbarung“ göttlichen oder eigenen Ursprungs sind. Vor allem aber hat das ekstatische Moment zurückzutreten zugunsten einer Verkündigung, die „übersetzt“, also verständlich ist:
Wenn einer meint, Prophet zu sein oder geisterfüllt, soll er in dem, was ich euch schreibe, ein Gebot des Herrn erkennen. Wer das nicht anerkennt, wird nicht anerkannt. Strebt also nach dem prophetischen Reden, meine Brüder und Schwestern, und verhindert nicht das Reden in Zungen! Doch alles soll in Anstand und Ordnung geschehen.
Das einzig wahre Fundament
Hier aber ist die Mahnung des Paulus noch nicht zu Ende. Im Fortgang der Gedanken erinnert er die Korinther an das Fundament auf dem sie stehen, der Boden, aus dem der Glaube erwächst, der Humus, in dem das Leben blüht:
Ich erinnere euch, Brüder und Schwestern, an das Evangelium, das ich euch verkündet habe. Ihr habt es angenommen; es ist der Grund, auf dem ihr steht. Durch dieses Evangelium werdet ihr gerettet werden, wenn ihr festhaltet an dem Wort, das ich euch verkündet habe, es sei denn, ihr hättet den Glauben unüberlegt angenommen. Denn vor allem habe ich euch überliefert, was auch ich empfangen habe: Christus ist für unsere Sünden gestorben, gemäß der Schrift, und ist begraben worden. Er ist am dritten Tag auferweckt worden, gemäß der Schrift, und erschien dem Kephas, dann den Zwölf. Danach erschien er mehr als fünfhundert Brüdern zugleich; die meisten von ihnen sind noch am Leben, einige sind entschlafen. Danach erschien er dem Jakobus, dann allen Aposteln. Zuletzt erschien er auch mir, gleichsam der Missgeburt. Denn ich bin der Geringste von den Aposteln; ich bin nicht wert, Apostel genannt zu werden, weil ich die Kirche Gottes verfolgt habe. Doch durch Gottes Gnade bin ich, was ich bin, und sein gnädiges Handeln an mir ist nicht ohne Wirkung geblieben. Mehr als sie alle habe ich mich abgemüht – nicht ich, sondern die Gnade Gottes zusammen mit mir. Ob nun ich verkünde oder die anderen: Das ist unsere Botschaft und das ist der Glaube, den ihr angenommen habt.
Der Glaube, von dem Paulus hier spricht, ist einst mit Verstand aufgrund bezeugter Fakten, eben nicht unüberlegt angenommen worden (1 Korinther 15,2). Auf diesem Boden steht man fest (1 Korinther 15,1). Auf diesem Boden kann man weiterbauen mit Verstand – so wie es Paulus selbst erlebt hat, indem er weitergibt, was auch er empfangen hat (1 Korinther 15,3). Es ist das Wort, das auf Jesus Christus selbst zurückgeht. Er ist der Grund, auf dem alles aufbaut.
Einheit in Vielfalt
Angesichts der drohenden Zersplitterung der korinthischen Gemeinde erinnert Paulus daran, dass es zwar viele Weisen der Christusverehrung geben mag – aber eben der Christusverehrung und nicht der, der Christusverkünder:
Der Gnade Gottes entsprechend, die mir geschenkt wurde, habe ich wie ein weiser Baumeister den Grund gelegt; ein anderer baut darauf weiter. Aber jeder soll darauf achten, wie er weiterbaut. Denn einen anderen Grund kann niemand legen als den, der gelegt ist: Jesus Christus. Ob aber jemand auf dem Grund mit Gold, Silber, kostbaren Steinen, mit Holz, Heu oder Stroh weiterbaut: Das Werk eines jeden wird offenbar werden; denn der Tag wird es sichtbar machen, weil er sich mit Feuer offenbart. Und wie das Werk eines jeden beschaffen ist, wird das Feuer prüfen. Hält das Werk stand, das er aufgebaut hat, so empfängt er Lohn. Brennt es nieder, dann muss er den Verlust tragen. Er selbst aber wird gerettet werden, doch so wie durch Feuer hindurch. Wisst ihr nicht, dass ihr Gottes Tempel seid und der Geist Gottes in euch wohnt? Wer den Tempel Gottes zerstört, den wird Gott zerstören. Denn Gottes Tempel ist heilig und der seid ihr.
Die Worte des Paulus mahnen durch die Zeiten alle, die nicht wirklich hinter dem Wort stehen, sondern davor; es mahnt alle, die das Wort Gottes zum Vehikel für die eigenen Anliegen nehmen, die es verschachern. Paulus warnt vor solchen Verkündern im 2. Korintherbrief:
Denn wir sind nicht wie die vielen anderen, die mit dem Wort Gottes Geschäfte machen. Wir verkünden es aufrichtig, von Gott her und vor Gott in Christus.
Die aber, die eine sogenannte „geistliche Gemeinschaft“ faktisch über die anderen stellen – und sei es nur durch einseitige Empfehlungen – setzen sich allein schon in dieser Empfehlung der Gefahr der Überhöhung über die anderen Glaubenden aus, der Eitelkeit, den besseren Weg zu wissen, und so zur Teilung des einen Leibes Christi beizutragen. Der eine Leib Christi aber ist kein Zoo geistlicher Eitelkeiten, in denen sich geisteuphorisierte Geckos und klerikale Kakadus aufmerksamkeitsheischend über graue Kirchenmäuse erheben. Er ist ein Leib mit vielen Gliedern. Wer diese Einheit zerstört – und sei es in dem guten Glauben, es besser als andere zu wissen – den wird Gott zerstören (1 Korinther 3,17). Diese Warnung des Paulus lässt an Deutlichkeit und Eindeutigkeit nicht zu wünschen übrig.
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Einzelnachweis
1. | ↑ | Vgl. hierzu https://www.domradio.de/video/weihbischof-ansgar-ueber-glaubenskurse-koeln [Stand: 3. Februar 2019]. |
2. | ↑ | So etwa Papst Franziskus bei einem Großtreffen des Neokatechumentas am 5.5.2018 – Quelle: https://www.erzdioezese-wien.at/site/nachrichtenmagazin/schwerpunkt/papstfranziskus/article/65465.html [Stand: 4. Februar 2019]. Bereits 2012 hatte sich Papst Benedikt XVI gegen die liturgischen Sonderwege des Neokatechumants ausgesprochen. |
3. | ↑ | Vgl. hierzu die Dokumentation der Deutschlandfunk-Sendung vom 28.1.2019 „Ich passte ins Beuteschema“. Doris Wagner im Gespräch mit Christiane Florin, Quelle: https://www.deutschlandfunk.de/spiritueller-missbrauch-ich-passte-ins-beuteschema.886.de.html?dram:article_id=439479 [Stand: 3. Februar 2019]. |
4. | ↑ | Zitiert nach: Westfälische Nachrichten (WN-online), „Geistlicher Missbrauch geht sexuellem Missbrauch oft voraus“, 31.10.2018, Quelle: https://www.wn.de/Muensterland/3532136-Muensters-Bischof-Felix-Genn-bei-Fachtagung-in-Mainz-Geistlicher-Missbrauch-geht-sexuellem-Missbrauch-oft-voraus [Stand: 3. Februar 2019]. |
5. | ↑ | katholisch.de, Neokatechumenaler Weg: Über tausend Berufungen in Panama, 31.1.2019, Quelle: https://www.katholisch.de/aktuelles/aktuelle-artikel/neokatechumenaler-weg-uber-tausend-berufungen-in-panama?fbclid=IwAR0IH67tfdUbl_v01wjbEFkO-LoTcv16p8e8oX6h3jlhSiKAKBNsZ1WXbz0 [Stand: 3. Februar 2019]. |
6. | ↑ | Vgl. hierzu https://www.youtube.com/watch?v=FFJIEK17b9M [Stand: 3. Februar 2019]. |
7. | ↑ | Vgl. hierzu katholisch.de, Neokatechumenaler Weg: Über tausend Berufungen in Panama, 31.1.2019, Quelle: https://www.katholisch.de/aktuelles/aktuelle-artikel/neokatechumenaler-weg-uber-tausend-berufungen-in-panama?fbclid=IwAR0IH67tfdUbl_v01wjbEFkO-LoTcv16p8e8oX6h3jlhSiKAKBNsZ1WXbz0 [Stand: 3. Februar 2019]. |
Dankeschön, denn Sie sprechen mir aus der Seele. Besonders ihr Kommentar zum Selbstverständnis neuer geistlicher Gemeinschaften teilt sich mit meinen Erfahrungen zum Neokatechumenat und der charismatischen Gemeinschaft Chemin Neuf.
Diese genannten Gemeinschaften übertragen häufig die neutestamentlichen Texte auf sich als gläubige Gemeinde und sehen den Rest der Gemeinde als Ungläubige an. Beleidigungen wie Sonntagschristen und Kopfmenschen (bezogen auf Menschen, die den Glauben der Kirche und ihren eigenen Glauben reflektieren wollen) werden stets vorwurfsvoll zugunsten einer eigenen christlichen Praxis mit starker Gefühlsprägung (Herzmenschen) herabwürdigend verwendet.
Das Phänomen der Spaltung kann in diesen Gemeinden ebenfalls beobachtet werden. 🙁