den Artikel
Der Jude Jesus hatte eine Mission. Hineingeboren in das Volk Israel, beschnitten1) und wohl erzogen nach den Regeln, die das Gesetz des Mose vorschreibt (vgl. etwa Lukas 2,22), dachte er zuerst wohl kaum daran, eine Kirche aus den Heiden, also den nichtjüdischen Völkern zu gründen. Ganz im Gegenteil: Es bedarf auf Seiten der Heiden, die in ihm für sich und andere die Möglichkeit von Heil und Heilung sehen, einiger Anstrengungen, um die jüdisch-intuitive Abgrenzung Jesu zu überwinden. Da ist lange kein alles und jeden heilender Heiland, sondern ein skeptischer Sohn Israels, der sich der besonderen Erwählung des eigenen Volkes bewusst ist. So muss sich, bevor sie den Widerstand des Juden Jesus mit kluger Entgegnung überwinden kann, die um Heilung ihrer Tochter bittende syrophönizische Frau von Tyrus anfänglich eine fast schon an Beleidigung grenzende Abweisung gefallen lassen:
Da sagte er zu ihr: Lasst zuerst die Kinder satt werden; denn es ist nicht recht, das Brot den Kindern wegzunehmen und den kleinen Hunden vorzuwerfen.
Auch der Hauptmann von Kafarnaum, dessen Diener sterbenskrank ist, muss zu einer List greifen, um die offenkundig bekannte, im Anfang seines Wirkens bestehende Skepsis Jesu Nichtjuden gegenüber zu überwinden. Er schickt jüdische Älteste, die ihm gegenüber zweifelsohne aufgrund der Ermöglichung des Baus einer Synagoge verpflichtet sind, zu ihm; genau die vom heidnischen Hauptmann von Kafarnaum gebaute Synagoge macht ihn zur herausragenden Ausnahme:
Sie gingen zu Jesus und baten ihn inständig. Sie sagten: Er verdient es, dass du seine Bitte erfüllst; denn er liebt unser Volk und hat uns die Synagoge gebaut.
Das Argument scheint Jesus zu überzeugen. Doch die auf offenkundiger Erfahrung oder dem Wissen um die seinerzeit bestehende jesuanische Haltung Heiden, also Nichtjuden gegenüber, bleibt, wenn der Hauptmann in fast schon proskynetischer, wortwörtlich also in hündischer Unterwerfung durch weitere Boten ausrichten lässt:
Herr, bemüh dich nicht! Denn ich bin es nicht wert, dass du unter mein Dach einkehrst. Deshalb habe ich mich selbst auch nicht für würdig gehalten, zu dir zu kommen. Aber sprich nur ein Wort, dann wird mein Diener gesund.
Jesus staunt
Die Reaktion Jesu auf die subtile Strategie des Hauptmanns ist im Wortsinn erstaunlich:
Jesus war erstaunt über ihn, als er das hörte.
Der Blick in eine Konkordanz zeigt das Außergewöhnliche dieser Reaktion. Die Erzählung über die Heilung des Dieners des Hauptmanns von Kafarnaum, die außer bei Lukas noch in Matthäus 8,5-13 überliefert ist, ist die einzige Situation innerhalb des Neuen Testamentes, in der Jesus selbst das Subjekt des Verbs θαυμάζειν (gesprochen: thaumázein – staunen) ist. An allen anderen Stellen staunen Menschen über Jesus. Nur hier ist vom Erstaunen Jesu die Rede:
Und er wandte sich um und sagte zu den Leuten, die ihm folgten: Ich sage euch: Einen solchen Glauben habe ich in Israel nicht gefunden.
Jesus staunt über den außergewöhnlichen Glauben eines nichtjüdischen Mannes. Auch hier bleibt gleichwohl Israel der Referenzpunkt für den Juden Jesus. Die Distanz aber bleibt, denn die Heilung geschieht nicht in Anwesenheit Jesu. Es ist der Glaube des Heiden an den Gott Israels, den er in Jesus als wirksam erkennt, der Heilung möglich gemacht hat.
Vorsichtige Öffnungen?
Es mögen Begegnungen und Erfahrungen wie die mit der syrophönizischen Frau und dem heidnischen Hauptmann mit Kafarnaum gewesen sein, die bei dem Juden Jesus erste vorsichtige Öffnungen hin zu Nichtjuden in Gang gebracht haben. In der Begegnung mit der Frau am Jakobsbrunnen auf samaritischem Gebiet ist seine Reaktion jedenfalls nicht mehr grundsätzlich verhalten. Im Gegenteil: Hier ist es die aus der Sicht Israels nichtjüdische Frau, deren skeptische Distanz er überwindet:
So kam er zu einer Stadt in Samarien, die Sychar hieß und nahe bei dem Grundstück lag, das Jakob seinem Sohn Josef vermacht hatte. Dort befand sich der Jakobsbrunnen. Jesus war müde von der Reise und setzte sich daher an den Brunnen; es war um die sechste Stunde. Da kam eine Frau aus Samarien, um Wasser zu schöpfen. Jesus sagte zu ihr: Gib mir zu trinken! Seine Jünger waren nämlich in die Stadt gegangen, um etwas zum Essen zu kaufen. Die Samariterin sagte zu ihm: Wie kannst du als Jude mich, eine Samariterin, um etwas zu trinken bitten? Die Juden verkehren nämlich nicht mit den Samaritern. Jesus antwortete ihr: Wenn du wüsstest, worin die Gabe Gottes besteht und wer es ist, der zu dir sagt: Gib mir zu trinken!, dann hättest du ihn gebeten und er hätte dir lebendiges Wasser gegeben.
Gleichwohl bleibt er auch hier bei aller kommunikativen Hinwendung als Jude konsequent:
Ihr betet an, was ihr nicht kennt, wir beten an, was wir kennen; denn das Heil kommt von den Juden.
„Das Heil kommt von den Juden!“ (Joh 4,22)
Die Jünger Jesu, sicher und vor allem der Zwölferkreis, sind genau durch diese Schule gegangen. Auch nach der Auferstehung Jesu bestand für sie wohl kein Zweifel daran, dass Jesus sich zuerst und unmittelbar zum Volk Israel gesandt wusste. Der Umkehrruf galt zuerst seinem Volk, dessen innere Erneuerung er anstrebte. In diesem Sinn führten seine Jünger auch nach der Auferstehung des Gekreuzigten die in seinem wort- und tatkräftigen Wirken begründete Verkündigung fort – in dem Wissen, fest im jüdischen Volk verankert zu sein und zu bleiben. Nicht ohne Grund heißt es deshalb in der Apostelgeschichte über aus dem Pfingstgeschehen (vgl. Apostelgeschichte 2,1-40) hervorgegangene erste Gemeinde:
Die nun sein Wort annahmen, ließen sich taufen; und an diesem Tage wurden hinzugefügt etwa dreitausend Menschen. Sie blieben aber beständig in der Lehre der Apostel und in der Gemeinschaft und im Brotbrechen und im Gebet. Es kam aber Furcht über alle, und es geschahen viele Wunder und Zeichen durch die Apostel. Alle aber, die gläubig geworden waren, waren beieinander und hatten alle Dinge gemeinsam. Sie verkauften Güter und Habe und teilten sie aus unter alle, je nachdem es einer nötig hatte. Und sie waren täglich einmütig beieinander im Tempel und brachen das Brot hier und dort in den Häusern, hielten die Mahlzeiten mit Freude und lauterem Herzen und lobten Gott und fanden Wohlwollen beim ganzen Volk. Der Herr aber fügte täglich zur Gemeinde hinzu, die gerettet wurden.
Der kleine Abschnitt zeigt zum einen das Entstehen der Urgemeinde. Er enthält zudem die erste Kirchendefinition. Die Gemeinschaft derer, die sich aufgrund der Predigt des Petrus taufen ließen und so die erste Gemeinde bilden, zeichnet sich durch vier Parameter aus: (1) beständiges Bleiben in der Lehre der Apostel, (2) beständiges Bleiben in der Gemeinschaft3), (3) im Brechen des Brotes (Artoklasia – ἡ κλάσις τοῦ ἄρτου – gesprochen: he klásis toû ártou) und (4) in den Gebeten4). Die Predigt des Petrus aber thematisiert genau den prägenden und neuen Kerngedanken, der in der Lehre des Juden Jesus gründet und gleichzeitig das Paradox der Auferstehung des Gekreuzigten anspricht:
Israeliten, hört diese Worte: Jesus, den Nazoräer, einen Mann, den Gott vor euch beglaubigt hat durch Machttaten, Wunder und Zeichen, die er durch ihn in eurer Mitte getan hat, wie ihr selbst wisst – ihn, der nach Gottes beschlossenem Willen und Vorauswissen hingegeben wurde, habt ihr durch die Hand von Gesetzlosen ans Kreuz geschlagen und umgebracht. Gott aber hat ihn von den Wehen des Todes befreit und auferweckt; denn es war unmöglich, dass er vom Tod festgehalten wurde.
Identitätsbildungen
Es ist letztlich die identitätsstiftende Rolle des Gesetzes, also der Thora, die auch hier im Mittelpunkt steht und die gleichzeitig zur Ursache für das (ur-)christliche Paradox wird. Das Befolgen der Thora bildet den identitätsstiftenden Kern des Volkes Israel. Teil der Thora ist aber eben auch, betreffend den Kreuzestod Jesu, die Einordnung auf Seiten seiner Gegner, die in ihm einen Gottverlassenen sehen. So heißt es im Buch Deuteronomium:
Wenn jemand ein Verbrechen begangen hat, auf das die Todesstrafe steht, wenn er hingerichtet wird und du den Toten an einen Pfahl hängst, dann soll die Leiche nicht über Nacht am Pfahl hängen bleiben, sondern du sollst ihn noch am gleichen Tag begraben; denn ein Gehenkter ist ein von Gott Verfluchter.
Die Tatsache, dass Jesus am Kreuz, als am Holz hängend stirbt, genügt, um ihn aufgrund der Thora als Gottverlassenen, als Verfluchten zu erkennen.
Nun ist freilich die Auferstehung von den Toten in sich gegen die allgemein anerkannte Natur des Todes. Wenn sie sich ereignet hat – und daran dürften die unmittelbaren Zeugen des Auferstandenen keinen Zweifel gehabt haben (Paulus benennt hier nicht weniger als über 513 Zeugen – vgl. 1 Korinther 15,5-8) – dann kann sie nur durch das (neu-)schöpferische Wirken Gottes geschehen: Ein Schöpfer, der eine Welt aus dem Nichts erschafft, der kann auch Leben aus Totem erwecken. Nicht ohne Grund spielt die Metapher der Neuschöpfung im Neuen Testament eine nicht zu unterschätzende Rolle, wie etwa im 2. Korintherbrief:
Wenn also jemand in Christus ist, dann ist er eine neue Schöpfung: Das Alte ist vergangen, siehe, Neues ist geworden.
Der von Gott Verlassene wird von Gott gerettet. Das ist das Paradox, mit dem sich die Glaubenden nicht nur der ersten Gemeinde beständig und bleibend auseinanderzusetzen haben. Es ist dieses Paradox, dass den Kern der christlichen Identität ausmacht.
Die Urgemeinde in Jerusalem aber ist von den letzten Konsequenzen, die theologisch aus der Auferstehung des Gekreuzigten zu ziehen sind, weit entfernt. Das Neue ist zwar schon wirksam – aber es geschieht innerhalb jüdischer Parameter. Die Gemeinde erscheint eher als jüdische Gruppe, eine kleine Sekte, die noch fest verwurzelt im Judentum weiterhin im Tempel den genuinen Ort des Kultes und der Gottesgegenwart sieht, deshalb beständig und täglich dort im Gebet verharrt, privat in den Häusern aber bereits das Mahl des vom Kreuzestod Auferstandenen begeht (vgl. Apostelgeschichte 2,46).
Judesein und Christusglaube schließen sich hier gerade (noch) nicht aus, wir haben ein Stadium vor uns, in dem die hohe Christologie zwar innerjüdisch konfliktträchtig sein konnte, keineswegs aber schon zum Bruch führte. Hans-Ulrich Weidemann
Ein neuer Weg
Die Bindung an die jesuanische Bewegung und deren Beschränkung auf das Volk Israel wird hier fortgezeichnet. Man vollzog zwar die Taufe – wohl aber nur an denen, die zum Volk Israel gehörten. Man taufte also nur die, die das Zeichen der Zugehörigkeit zu Israel trugen – die Beschneidung5).
Das ändert sich mit zunehmender theologischer Reflexion des Paradoxons der Auferstehung des Gekreuzigten. Es ist freilich nicht die Jerusalemer Urgemeinde, die hier federführend ist. Vielmehr entsteht in Antiochia ein mit der Jerusalemer Gemeinde konkurrierende frühkirchliches Zentrum, in dem die Lehre Jesu unter dem Eindruck seiner Auferstehung vom Kreuzestod reflektiert wird und daraus neue Konsequenzen gezogen werden. Nicht ohne Grund beginnt man deshalb hier von einem „Weg“ zu sprechen (vgl. Apostelgeschichte 9,2; 19,23). Die Wegmetapher ist sicher nicht zufällig, drückt sich doch hierin aus, dass eine neue „Bewegung“ entsteht, die schließlich die rein innerjüdischen Grenzen überschreiten wird. Neue Bewegungen brauchen neue Identitäten – und die drücken sich unter anderem auch in einer eigenen Namensgebung aus. Es ist daher alles andere als Zufall, wenn die in Kreuzestod und Auferstehung des Juden Jesus gründende (neue) Bewegung in Antiochia einen äußerst wirkmächtigen Namen erhält:
In Antiochia nannte man die Jünger zum ersten Mal Christen.
Ein Name – ein Programm
Der Name ist Programm. An die Stelle des Bundeszeichens der Beschneidung tritt das Bekenntnis zu Jesus als dem Christus, dem gottgesandten Messias, in dem Gottes Wort selbst Fleisch wurde und Gestalt annahm. Freilich bleibt das Paradox von Kreuzestod und Auferstehung bestehen und bedarf einer Lösung. Die Lösung wird gerade darin gesehen, dass das Paradox, das ja seinen Grund in der Bedeutung der Thora hat, dann aufgelöst werden kann, wenn Kreuzestod und Auferstehung Jesu als Handeln Gottes gedeutet werden, der in der Auferstehung sein eigenes an Israel gegebenes Gesetz zwar nicht aufhebt, aber eben erfüllt – denn das ist wichtig: auch in Antiochia denken und handeln Juden, Juden, die zwar in der Diaspora leben, aber trotzdem von jüdischer Identität geprägt sind6). Einer der herausragenden Vertreter der antiochenischen Theologie ist Paulus, dessen Briefen der Einblick in dieses Denken zu verdanken ist. Er selbst betont ausdrücklich seine Zugehörigkeit zum Volk Israel:
Ich wurde am achten Tag beschnitten, bin aus Israels Geschlecht, vom Stamm Benjamin, ein Hebräer von Hebräern, nach dem Gesetz ein Pharisäer.
oder – etwas polemischer mit Blick auf seine Gegner:
Sie sind Hebräer – ich auch. Sie sind Israeliten – ich auch. Sie sind Nachkommen Abrahams – ich auch.
Weil aber Kreuzestod und (!) Auferstehung als Handeln Gottes begriffen werden, das der gottgegebenen Thora an sich widerspricht, wird hier etwas fundamental Neues erkannt. Der Bund Gottes mit Israel wird nun erweitert. Die messianische Zeit ist angebrochen. Nun kommen, wie es bei Jesaja verheißen ist, auch die nichtjüdischen Völker zum Zion, um den einen Gott zu verehren:
Am Ende der Tage wird es geschehen: Der Berg des Hauses des HERRN steht fest gegründet als höchster der Berge; er überragt alle Hügel. Zu ihm strömen alle Nationen. Viele Völker gehen und sagen: Auf, wir ziehen hinauf zum Berg des HERRN und zum Haus des Gottes Jakobs. Er unterweise uns in seinen Wegen, auf seinen Pfaden wollen wir gehen. Denn vom Zion zieht Weisung aus und das Wort des HERRN von Jerusalem. Er wird Recht schaffen zwischen den Nationen und viele Völker zurechtweisen. Dann werden sie ihre Schwerter zu Pflugscharen umschmieden und ihre Lanzen zu Winzermessern. Sie erheben nicht das Schwert, Nation gegen Nation, und sie erlernen nicht mehr den Krieg. Haus Jakob, auf, wir wollen gehen im Licht des HERRN.
Wenn sich aber die jüdische Identität auch in der Beschneidung als Zugehörigkeitszeichen ausdrückt, die nichtjüdischen Völker aber gerade durch das Unbeschnittensein – hat dann für die Christen die Beschneidung überhaupt noch eine Bedeutung?
Denn mein Haus soll ein Bethaus genannt werden für alle Völker Inschrift an der Neuen Synagoge in Wuppertal-Barmen
Identitätsmarker Unbeschnittenheit
In der Tat wird das Unbeschnittensein zu einem Identitätsmarker der antiochenischen Theologie. Anders als in der Jerusalemer Urgemeinde begann man, auf den Kreuzestod und die Auferstehung Jesu zu taufen, ohne vorher die Circumcision, die Beschneidung durchzuführen. Diese sogenannte Heidentaufe wird zum Politikum zwischen den Gemeinden in Antiochia und Jerusalem:
Es kamen einige Leute von Judäa herab und lehrten die Brüder: Wenn ihr euch nicht nach dem Brauch des Mose beschneiden lasst, könnt ihr nicht gerettet werden. Da nun nicht geringer Zwist und Streit zwischen ihnen und Paulus und Barnabas entstand, beschloss man, Paulus und Barnabas und einige andere von ihnen sollten wegen dieser Streitfrage zu den Aposteln und den Ältesten nach Jerusalem hinaufgehen.
In Jerusalem findet schließlich das sogenannte Apostelkonzil statt (vgl. Apostelgeschichte 15,6-28 sowie Galater 2,1-10). Dort findet man den Konsens, dass die Jerusalemer das Wort Gottes weiterhin unter den Juden verkünden, während die Antiochener ihr Projekt der Heidenmission ausbauen. Die Taufe der Unbeschnittenen wird nicht nur anerkannt; es wird auch ein äußerlich sichtbares Zeichen der Einheit der Kirche aus Beschnittenen und Unbeschnittenen vereinbart, das Paulus in seinen autobiografischen Erinnerungen wie folgt beschreibt:
Im Gegenteil, sie sahen, dass mir das Evangelium für die Unbeschnittenen anvertraut ist wie dem Petrus für die Beschnittenen – denn Gott, der Petrus die Kraft zum Aposteldienst unter den Beschnittenen gegeben hat, gab sie mir zum Dienst unter den Völkern – und sie erkannten die Gnade, die mir verliehen ist. Deshalb gaben Jakobus, Kephas und Johannes, die als die Säulen Ansehen genießen, mir und Barnabas die Hand zum Zeichen der Gemeinschaft: Wir sollten zu den Heiden gehen, sie zu den Beschnittenen. Nur sollten wir an die Armen denken; und das zu tun, habe ich mich eifrig bemüht.
Es ist die berühmte paulinische Kollekte für die Jerusalemer Urgemeinde, die mehrfach in seinen Briefen Erwähnung findet (vgl. 2 Korinther 8-9; Philipper 4,15, Römer 15,25-29).
Der Streit um die Beschneidung
Das Bemühen um Einheit bedarf in Umbruchzeiten freilich grundständiger Geduld. Das Neue muss von allen Seiten erst angenommen werden. Die Tatsache, dass nun auch Unbeschnittene nicht nur als zum Volk Gottes gehörig gezählt, sondern auch unter dem Bund Gottes stehend angesehen werden, ruft Widerstand hervor – sicher bei Juden, die nicht an die Auferstehung des Gekreuzigten glauben, aber auch innerhalb der frühchristlichen Gemeinde. Der Konflikt mit Ersteren prägt die frühe Christenheit nicht nur tief, er führt schließlich auch zur Trennung der Juden von den Christen im ausgehenden ersten Jahrhundert. Der Prozess ist von jüdischer Seite intendiert worden. Er zeigt unter anderem tiefe Spuren im Johannesevangelium und der dort zu findenden generalisierenden Redeweise von „den Juden“ – eine Redeweise, die jenseits des historischen Kontextes, der die Pauschalierung nicht besser, wenigstens aber verständlich macht, fatale Wirkungen in der Kirchengeschichte gezeitigt hat; Wirkungen, die erkennen lassen, wie sehr das Christentum seine jüdischen Wurzeln zu vergessen im Stande ist. Dabei mahnt selbst Paulus:
Ist aber die Erstlingsgabe vom Teig heilig, so ist es auch der ganze Teig; und ist die Wurzel heilig, so sind es auch die Zweige. Wenn aber einige Zweige herausgebrochen wurden, du aber als Zweig vom wilden Ölbaum mitten unter ihnen eingepfropft wurdest und damit Anteil erhieltest an der kraftvollen Wurzel des edlen Ölbaums, so rühme dich nicht gegen die anderen Zweige! Wenn du dich aber rühmst, sollst du wissen: Nicht du trägst die Wurzel, sondern die Wurzel trägt dich.
Aber auch innerhalb der frühen Kirche ist durch das Apostelkonzil längst nicht alles geklärt. Der Galaterbrief des Paulus legt vielfältige Zeugnis von den Konflikten ab, die sich um die Heidenmission und die Taufe Unbeschnittener entwickelt haben:
Ich bin erstaunt, dass ihr euch so schnell von dem abwendet, der euch durch die Gnade Christi berufen hat, und dass ihr euch einem anderen Evangelium zuwendet. Es gibt kein anderes Evangelium, es gibt nur einige Leute, die euch verwirren und die das Evangelium Christi verfälschen wollen. Jedoch, auch wenn wir selbst oder ein Engel vom Himmel euch ein anderes Evangelium verkündeten als das, das wir verkündet haben – er sei verflucht. Was ich gesagt habe, das sage ich noch einmal: Wer euch ein anderes Evangelium verkündet im Widerspruch zu dem, das wir verkündet haben – er sei verflucht.
Später im 5. Kapitel des Galaterbriefes wird dann der wahre Grund des Konfliktes offenbar:
Zur Freiheit hat uns Christus befreit. Steht daher fest und lasst euch nicht wieder ein Joch der Knechtschaft auflegen! Siehe, ich, Paulus, sage euch: Wenn ihr euch beschneiden lasst, wird Christus euch nichts nützen. Ich bezeuge wiederum jedem Menschen, der sich beschneiden lässt: Er ist verpflichtet, das ganze Gesetz zu halten. Ihr, die ihr durch das Gesetz gerecht werden wollt, seid von Christus getrennt; ihr seid aus der Gnade herausgefallen. Denn wir erwarten im Geist aus dem Glauben die Hoffnung der Gerechtigkeit. Denn in Christus Jesus vermag weder die Beschneidung noch die Unbeschnittenheit etwas, sondern der Glaube, der durch die Liebe wirkt.
Es ist letztlich die Frage der Rolle der Thora, des Gesetzes, die zur Debatte steht und für die die Beschneidung ein Symbol ist. Wer sich beschneiden lässt, übernimmt die Forderungen der Thora. Nach der Thora aber ist der Jude Jesus als Verfluchter gestorben. Seine gottgewirkte Auferstehung zeigt hingegen, dass die Thora nicht mehr der alleinige Weg zur Gerechtigkeit ist. Wer sich beschneiden lässt, legt daher in paulinischer Sicht diesen glauben ab, weil er das fleischliche Zeichen der Beschneidung über die Verheißung Gottes, die im Glauben angenommen werden soll stellt:
Er hat den, der keine Sünde kannte, für uns zur Sünde gemacht, damit wir in ihm Gerechtigkeit Gottes würden.
Bewusstseinserweiterungen
Für Paulus geht es damit in der Frage um die Beschneidung um nichts weniger als um die Frage der grundständigen christlichen Identität. Er lehnt nicht die Beschneidung an sich ab. Sie ist das Identitätszeichen derer, die zum Volk Israel gehören. Die aus den Völker hingegen können nun in den Bund Gottes eintreten, ohne beschnitten zu werden7). Das ist die theologische Konsequenz, die man in Antiochien aus Kreuzestod und Auferstehung zog. Es geht daher gar nicht um das Gegenüber von Beschneidung und Unbeschnittenheit. Es geht um den Glauben an sich – ein Glaube, bei dem die Unbeschnittenheit begründungspflichtig ist, nicht die Beschneidung, die ja Zeichen der Zugehörigkeit zum von Gott auserwählten Volk ist. Die theologische Leistung der Begründung, dass nun auch Unbeschnittene in den Bund mit Gott eintreten können, ist zweifelsohne den antiochenischen Christen zu verdanken, von denen Paulus allein schon deshalb ein herausragender, wenn auch sicher nicht der einzige Vertreter ist, weil wir durch seine Briefe Einblick in die zeitgenössische theologische Reflexion verdanken. Faktisch und historisch hat sich die Christenheit aus Unbeschnittenen durchgesetzt. Spätestens mit der Zerstörung Jerusalems im Jahr 70 der Zeitrechnung existierte auch die Jerusalemer Urgemeinde nicht mehr. Die Kirche aus den Heiden wurde zur christlichen Mehrheitsgesellschaft. Durch die Zeit verschwand das Bewusstsein für das eine Volk Gottes aus Beschnittenen und Unbeschnittenen. Freilich ist es die Unbeschnittenheit, die theologisch begründet werden muss, nicht die Beschneidung. Das darf heute bei aller Freude darüber, dass auch die Heiden durch den in Kreuzestod und Auferstehung erweiterten Bund nun zum Volk Gottes gehören, ebenso wenig vergessen werden, dass die meisten Christen heute Heiden sind – denn ein Heide ist kein Ungläubiger, sondern ein Nichtjude. Noch so ein Gedanke, für den sich das Bewusstsein wohl erst einmal erweitern muss …
Bildnachweis
Titelbild: Inschrift über dem Eingang der Neuen Synagoge in Barmen: “Denn mein Haus soll ein Bethaus genannt werden für alle Völker” (Christoph Schönbach) – alle Rechte vorbehalten – Verwendung mit freundlicher Genehmigung des Fotografen.
Einzelnachweis
1. | ↑ | Vgl. hierzu den bemerkenswerten Dei-Verbum-Beitrag „Frohes Fest der Beschneidung“ von Till Magnus Steiner (Quelle: https://www.dei-verbum.de/frohes-fest-der-beschneidung/ [Stand: 5. Januar 2019]), als dessen Fortführung sich dieser Text versteht. |
2. | ↑ | Die Übersetzung der Lutherbibel ist hier wörtlicher als die Einheitsübersetzung 2016. |
3. | ↑ | Die Konjunktion καί (gesprochen: kaí – und) deutet an, dass sich die Wendung ἦσαν δὲ προσκαρτεροῦντες (gesprochen: êsan dè proskarteroûntes – sie waren dauernd darauf bedacht, blieben beständig in) sich sowohl auf die Lehre der Apostel (τῇ διδαχῇ τῶν ἀποστόλων – gesprochen tê didaxê tôn apostólon) als auch auf die Gemeinschaft (τῇ κοινωνίᾳ – gesprochen tê koinwnía) bezieht. |
4. | ↑ | Die Einheitsübersetzung 2016 übersetzt hier Singular „im Gebet“. Ταῖς προσευχαῖς (gesprochen: taîs proseuchaîs) ist freilich Plural. |
5. | ↑ | Vgl. hierzu Till Magnus Steiner, Fröhliches Fest der Beschneidung, Dei Verbum, 1.1.2019 (Quelle: https://www.dei-verbum.de/frohes-fest-der-beschneidung/ [Stand: 5.1.2019]): „In der Beschneidung drückt sich die Zugehörigkeit zum Gott Israels aus. Sie ist das Zeichen der Zuwendung Gottes zu seinem Volk und sie zeigt die Zugehörigkeit zur religiösen Kultgemeinschaft an, die nicht nur aus Erwachsenen, sondern auch aus den Kindern, Babys sowie Sklaven besteht. Der Familienvater hat dafür zu sorgen, dass alle, die in seinem Haus leben, dieser Kultgemeinschaft anhören. Und so darf selbst ein nicht-israelitischer Sklave, der beschnitten wurde, am Pessachmahl teilnehmen und der Befreiung Israels aus Ägypten gedenken und sie feiern (Exodus 12,43-44).“ |
6. | ↑ | Siehe hierzu auch Hans-Ulrich Weidemann, Der Jüngerkreis bekennt: Jesus ist der Herr. Christologie der Urkirche, in: Welt und Umwelt der Bibel, 2/2013, S. 18-25, hier S. 23: „Der (…) Glaube an Jesus und seine sich in Gebet wie Akklamation äußernde ‚Jesus devotion‘ hindern den Apostel nun keineswegs daran, sich nach wie vor als ‚Hebräer‘, ‚Israelit‘ und ‚Nachkomme Abrahams‘ zu bezeichnen und sogar seinen jüdischen Herkunftsstamm Benjamin herauszustellen. Judesein und Christusglaube schließen sich hier gerade (noch) nicht aus, wir haben ein Stadium vor uns, in dem die hohe Christologie zwar innerjüdisch konfliktträchtig sein konnte, keineswegs aber schon zum Bruch führte.“ |
7. | ↑ | Vgl. hierzu auch Hans-Ulrich Weidemann, Der Jüngerkreis bekennt: Jesus ist der Herr. Christologie der Urkirche, in: Welt und Umwelt der Bibel, 2/2013, S. 18-25, hier S. 19. |