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Zungenbiss Ein exegetischer Ordnungsruf angesichts Verweigerung und Verantwortung zur Regierungsbildung


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Wenn Selbstdarsteller Konjunktur haben, verkommt die Politik zur Realsatire. Der Souverän hat gewählt. Sicher, die Entscheidung des wahlberechtigten Volkes bei der Bundestagswahl vom 24. September 2017 war keine einfache. Die Zeiten, in denen sich zwei größere Lager und eine kleinere Partei auf eine Regierungskoalition einigen mussten, scheinen unwiederbringlich vorbei zu sein. Sage und schreibe sieben Parteien wurden in den Bundestag gewählt. Allein das lässt schon vermuten, dass eine Regierungsbildung nach altem Muster nicht mehr funktionieren kann.

Mandat und Mundwerk

In einer repräsentativen Demokratie verleihen die Wähler den Gewählten ein Mandat auf Zeit. Die repräsentative Demokratie der Bundesrepublik Deutschland beruht dabei zum einen auf einem Verhältniswahlrecht; gleichzeitig werden aber auch Direktmandate vergeben. Die zentrale Legitimation des Handelns der Mandatsträger geschieht also durch die Wahl. Die Wahl selbst dient der Bestellung der politischen Organe. Das ist gerade zu Beginn einer Legislaturperiode die Hauptaufgabe des Parlamentes. Nicht das Volk selbst wählt die Verfassungsorgane, sondern es bestellt die Volksvertretung durch eine Wahl.

Der Prozess als solches ist also positiv bestimmt. Das Volk wählt keine Oppositionen, sondern diejenigen, von denen es sich vertreten sehen möchte. So erst kommt der Wille der Wähler zum Ausdruck. Darin liegt auch die Verantwortung der Gewählten. Und genau hier scheinen manche Volksvertreter des gegenwärtigen Bundestages ein Problem mit dem eigenen Selbstverständnis zu haben. Bereits wenige Minuten, nachdem am Abend des 24. September 2017 um 18 Uhr die erste Prognose zeigte, dass die SPD lediglich rund 20% der Stimmen auf sich verbuchen konnte, ließ der SPD-Spitzenkandidat Martin Schulz über Bundestagsfraktionschef Thomas Oppermann verkünden, dass die SPD nun in die Opposition gehen würde1). Nahezu zeitgleich rief der AfD-Spitzenkandidat Alexander Gauland zur Jagd auf die Regierenden2).

Die Mundwerke arbeiteten schnell an diesem denkwürdigen Wahlabend. Dabei ist wenig entscheidend, ob die Äußerungen im Affekt geschahen oder zur raschen Erringung der Deutungshoheit schon vorher bereitgelegt wurden. Tatsache ist, dass die Verantwortlichen offenkundig gar nicht auf eine Analyse des Wählerwillens und den damit verbundenen Verantwortungsübertragungen erpicht waren. Schnell wurde so von der SPD das Narrativ in die Welt gesetzt, die große Koalition sei abgewählt worden. Ein Narrativ, das auch nach dem Scheitern der sogenannten Jamaika-Sondierungsgespräche weitergetragen wird. Aber auch die Wiederholung einer Selbstrechtfertigung macht sie nicht wahrer, wenn übersehen wird, dass der Wähler nicht nur keine Koalitionen wählen kann, sondern eine Koalition aus SPD und CDU/CSU nach wie vor über eine komfortable Mehrheit von 399 von insgesamt 709 Sitzen verfügt3). Da wurde so oder so nichts abgewählt!

Selbstfindung ist keine politische Kategorie

Stattdessen wurde seitens der SPD ausgelobt, man müsse sich nun erst einmal selbst finden. Wäre es da nicht besser gewesen, wenn man eine Legislaturperiode komplett ausgesetzt hätte? Aber noch ein weiterer Grund wird nach dem Scheitern der Jamaika-Sondierungsgespräche, als der Druck auf die SPD-Führung steigt, doch noch Regierungsverantwortung zu übernehmen, redundant angeführt: Man möchte der AfD nicht die Rolle der Oppositionsführung überlassen. Liebe Leute! – möchte man da ausrufen. Das ist nicht nur ein Denkmuster aus den vergangenen Drei-Parteien-Zeiten, als die Oppositionsrolle klar vergaben war. Bei einer großen Koalition aber würde es vier Oppositionsparteien geben – und es erscheint äußerst zweifelhaft, dass – auch wenn der AfD als größter Oppositionsfraktion das erste Rederecht nach der Regierung zusteht – Linke, Grüne und Liberale der AfD eine oppositionelle Führungsfunktion überlassen würden. Gerade Christian Lindner, dessen selbstdarstellerische Qualitäten am Abend des 19. November 2017, als er den Ausstieg der FDP aus den Jamaika-Sondierungsgesprächen und damit deren Scheitern verkündete, dürfte den Rechtspopulisten hier nicht das Rednerpult überlassen. Im Übrigen zeichnet sich auch in seinem Statement vom Abend des 19. November 2017 ein Hang zu flinken Zunge ab, der viele Politiker der Gegenwart zu befallen scheint, die sich mehr um ihr eigenes Finden kümmern als um die ihnen vom Wähler übertragene Verantwortung. Der Gipfel der mandatstragenden Unverfrorenheit liegt denn auch in der Forderung von Neuwahlen. Nicht nur, dass man die vom Volk übertragene Verantwortung zum Handeln brüsk und beleidigt zurückweist, weil der Wähler einfach nicht so gewählt hat, wie die Gewählten es wollten. Auch die Erwartung, dass eine rasche Neuwahl ein signifikant anderes Ergebnis zustande bringt zeugt von vergangenheitsfixierter Gegenwartswahrnehmung. Konnten sich in den Drei-Parteien-Parlamenten durch kleine prozentuale Bewegungen der Stimmenanteile tatsächlich Mehrheiten ändern, ist bei sieben in den Bundestag gewählten Parteien – und das dürfte auch bei einer Neuwahl so sein – eine solche Änderung wohl kaum zu erwarten. Eine Neuwahl löst das Problem nicht.

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Die Wählerschaft hat den Auftrag vergeben. Ob eine Neuwahl ein signifikant anderes Ergebnis zustande bringen würde? Der Auftrag an die Gewählten ist allerdings jetzt schon erteilt ...

Wenn flinke Zungen verzagte Herzen tarnen

Die schnelle Zunge redet sich um Kopf und Kragen. Das wusste auch der Autor des sogenannten Jakobusbriefes – jener neutestamentlichen Schrift, die der Form nach ein Konvolut einzelner Textabschnitte ist. Weil ihm verschiedene brieftypische Elemente wie eine konkrete Adressierung oder eine Grußformel am Schluss fehlen, wird er traditionell zu Recht auch als Epistel, also einer Ansprache in Briefform, bezeichnet. Dabei scheint die Jakobusepistel verschiedene Textabschnitte zu einem übergreifenden Ganzen zu vereinen. Die einzelnen Abschnitte scheinen dabei mitunter fast unverbunden aneinandergereiht zu sein. Gleichwohl gibt es einen übergreifenden roten Faden, den man etwa mit der Phrase „Lebendiger Glaube ereignet sich im Tun“ wiedergeben könnte. Für den Autor der Jakobusepistel steht fest:

Der Glaube für sich [ist] allein tot, wenn er nicht Werke vorzuweisen hat. Aber es könnte einer sagen: Du hast Glauben und ich kann Werke vorweisen; zeige mir deinen Glauben ohne die Werke und ich zeige dir aus meinen Werken den Glauben. Jakobus 2,17

Hier wird gerade nicht einer Werkgerechtigkeit das Wort geredet. Ganz im Gegenteil! Man kann sich weder Glauben noch Heil verdienen. Wohl aber wird der Glaubende angemahnt, es nicht bei Lippenbekenntnissen zu belassen. Ein nur bekannter Glaube, der sich nicht im Leben tat- und kraftvoll ereignet, bleibt letzten Ende tot. Erst das Werk erweist den Glauben als wirklich lebendig. Das getane Werk (ἔργον – gesprochen: érgon) macht den Glauben überhaupt erst offenbar. Glaube und Tat stehen hier in eben jener Symbiose, die sich auch im benediktinischen „ora et labora“, bete und arbeite, zum Ausdruck kommt. Erst wenn die betende Hand sich zum Tun hin öffnet, wird der Glaube relevant. Glaube ist kein reines Fürwahrhalten von Sätzen, sondern vielmehr ein Ereignis. Alles andere bleibt Gerede, Plapperei, frömmelnde Romantik ohne jede Relevanz. Da mag das Reden mit flinken Zungen noch so beeindruckend sein – verzagte Herzen rufen nur zu gern im dunklen Wald. Einfacher und effektiver hingegen wäre es, mit Herzen, Mund und Händen den Weg des Lebens in hellen wie in dunklen Zeiten zu bahnen.

Worte – schneller gesprochen als gedacht

Wohl nicht ohne Grund mahnt der Autor der Jakobusepistel deshalb seine Leserinnen und Hörer schon einige Absätze zuvor vor der Gefahr allzu schnellen Redens, ohne dass die Wirkung der eigenen Worte bedacht worden wäre:

Wisset, meine geliebten Brüder und Schwestern: Jeder Mensch sei schnell zum Hören, langsam zum Reden, langsam zum Zorn; denn der Zorn eines Mannes schafft keine Gerechtigkeit vor Gott. Jakobus 1,19-20

Bevor überhaupt geredet werden soll, so die Mahnung, muss erst gehört werden. Und es muss schnell gehört werden. Hinter dem „schnellen“ (ταχύς – gesprochen: tachys) Hören steht dabei zuerst die Aufforderung, überhaupt zuerst hinzuhören. Wer nicht zuerst hört, sondern sofort losredet, pflegt eben gerade keine Kommunikation. Er führt Selbstgespräche. Dem „schnellen“ Hören korrespondiert aber eben auch das Ringen um „schnelles“ Verstehen. Das bedarf sicher einiger Übung, vor allem aber der Fähigkeit, die Zeichen richtig zu deuten. Wer hier seine kommunikative Strategie schon vorher zurechtlegt, ist an einem Verstehen seines kommunikativen Gegenübers gerade nicht interessiert. Er kultiviert ein Vorurteil, das sich in „schneller“ Reaktion auswirkt.

Genau davor warnt der Autor der Jakobusepistel aber. Mit Rückgriff auf die alttestamentliche Weisheitsliteratur (vgl. etwa Jesus Sirach 5,11 oder Kohelet 5,1) mahnt er zur langsamen Rede. Dem Adjektiv βραδύς (gesprochen: bradys) eignet dabei nicht nur die Bedeutung „langsam“, sondern auch die Konnotation „träge“. Die Bereitschaft der Zunge zur flinken Aktion soll nicht nur gezügelt werden. Die Rede soll auch „träge“ sein, geradezu zögerlich. Im Unterschied zum eher passiven Vorgang des Hörens soll die Aktion des Redens eben mit Bedachtsamkeit vonstattengehen. Etwas falsch Gehörtes hat eben noch lange nicht die destruktiven Dimensionen eines falschen Wortes zur falschen Zeit, das zum Zorn reizen kann. Denn Zorn ist ebenso wenig ein Mittel, Gerechtigkeit zu schaffen, wie die Frustration über ein schlechtes Wahlergebnis den Respekt vor dem Willen der Wähler zum Ausdruck bringt.

Nicht quatschen, machen!

Demokratie lebt vom Hören und Reden, Politik aber ist aber nach einem Diktum Otto Eduard Leopold Fürst von Bismarcks die Kunst des Machbaren. Flinkes Hören und Reden mit Bedacht müssen zum Handeln führen. Das haben die Kommunikationsstrategen der Parteien wohl vergessen, wenn sie noch vor den Entscheidungen Phrasen und Graphiken für alle Fälle bereit legen – so wie es wohl im Falle des lindner’schen Statements vom 19. November 2017 der Fall war. Ein mit dem Statement veröffentlichte Grafik trug nämlich das Datum vom 17. November 2017; es schien also alles inszeniert zu sein. Freilich beeilte sich die FDP zu sagen, dass auch schon andere Grafiken bereit vorlagen („Ein Anfang ist gemacht.“ Oder „Veränderung braucht Mut.“)4) – was allerdings nur zeigt, dass Politik schon lange nicht mehr die Kunst des Machbaren, sondern die Kunst der Selbstinszenierung geworden ist. Da ist es nicht mehr wichtig, erst zu hören und dann zu reden. Da kann man schon Reden zurecht legen, bevor es überhaupt etwas zu hören gab. Der Respekt vor dem Wähler als Souverän weicht der Lust, vor Publikum die eigene Selbstgefälligkeit zur Schau zu stellen. Das ist keine Standhaftigkeit, sondern schlicht und ergreifend defätistischer Umgang mit den sich aus dem Wählerauftrag ergebenden Verantwortungen, dem eigenen Mandat entsprechend das Beste für Stadt und Land zu suchen und zu tun. Dazu muss man regieren; Opposition hingegen – Franz Müntefering eingedenk – ist Mist! Denn ihr fehlt eben jener Gestaltungswille, den die eigenen Wähler doch umgesetzt sehen wollen.

Das Geschwätz von gestern

Die in falschem Stolz zugefügten Selbstverletzungen sind nicht leicht zu überwinden. Das wusste wohl auch der Autor der Jakobusepistel. Sein Rat ist hart, aber effektiv:

Darum legt alles Schmutzige und die viele Bosheit ab und nehmt in Sanftmut das Wort an, das in euch eingepflanzt worden ist und die Macht hat, euch zu retten! Werdet aber Täter des Wortes und nicht nur Hörer, sonst betrügt ihr euch selbst! Wer nur Hörer des Wortes ist und nicht danach handelt, gleicht einem Menschen, der sein eigenes Gesicht im Spiegel betrachtet: Er betrachtet sich, geht weg und schon hat er vergessen, wie er aussah. Jakobus 1,21-24

Eitelkeit und Selbstinszenierung sind höchstvergänglich. Es ist an der Zeit, die eigene Dummheit nicht zum Denkmal zu machen und sich in vermeintlich standhafter Selbstgefälligkeit zu suhlen. Hier wäre die Erinnerung an einen Altvorderen hilfreich:

„Was interessiert mich das Geschwätz von gestern“,

hat einst der frühere Bundeskanzler Konrad Adenauer gesagt und hinzugefügt:

„nichts hindert mich, weiser zu werden.”

Zur Weisheit der Jakobusepistel gehört allerdings nicht nur der Vorrang des Hörens vor allzu schnellem Reden. Die Bedeutung des Hörens wird noch das Tun des Wortes überstiegen. Nicht ohne Grund beharrt die Jakobusepistel:

Werdet aber Täter des Wortes und nicht nur Hörer, sonst betrügt ihr euch selbst! Jakobus 1,22

Wie einfach wäre es gewesen, wenn die SPD-Granden gesagt hätten, sie hätten am Wahlabend im Affekt gehandelt, jetzt aber ihre demokratische Verantwortung erkannt. Es hätte ihnen zur Ehre gereicht. Wer aber braucht noch eine Partei, die den Kniefall eines Willy Brandt ebenso möglich machte wie die Standhaftigkeit eines Helmut Schmidt im Deutschen Herbst 1977, wenn der Wille zum Gestalten abhandengekommen ist. Martin Schulz hingegen ist schon wieder dabei, die Verantwortung zu verweigern, wenn er die Parteibasis über die Bildung einer erneuten sogenannten „großen Koalition“ befragen möchte. Er und Christian Lindner wollen offenkundig nicht regieren, sie wollen bloß reden … Politik ist doch kein Ponyhof! Ihr seid gewählt! Macht endlich was draus! Redet nicht, handelt! Wenn es hilft, dann beißt euch halt mal auf die Zunge!

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Bildnachweis

Titelbild: Flinke Zunge (Werner Kleine) – lizenziert als CC BY-SA 3.0.

Bild 1: Bundestag (Tomiĉo) – Quelle: Wikicommons – lizenziert als gemeinfrei.

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