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Glatte Felsen und ebenmäßig-polierte Böden bieten weder Halt noch Orientierung. Profillos wie sie sind, kann man an ihnen zerschellen oder Hals- und Beinbruch erleiden; allein ein wirkliches Fortkommen, ein Aufsteigen, ein Fortschreiten ist nicht möglich. Freilich neigt der Mensch im Allgemeinen dazu, in seinem auf Harmonie und Dissonanzfreiheit ausgerichteten ästhetischen Empfinden jede Störung zu glätten. Davon ist nicht zuletzt auch die Gottesrede betroffen. Schnell ist dann die Rede vom lieben Gott zur Hand, der nur gut sein kann. Die Frage nach der Ursache von Leid und Tod oder nach dem Wesen dessen, was der Mensch subjektiv als Böse definiert, bleibt dann schnell auf der Strecke. Eine solche Glättung des Gottesbildes wirft allerdings neue Probleme und Fragen auf, Aporien, die theologisch scheinbar nicht aufzulösen sind. So fragt etwa die Redaktion der Zeitschrift „Christ in der Gegenwart“ in der Ausgabe 26/2017 in einem Kommentar:
„Die theologisch nicht zu klärende Frage ist, wie Gott allmächtig sein kann angesichts der offensichtlich erkennbaren Realität des Bösen und Versucherischen – des Teufels?“1)
Die namenlosen Autoren bzw. Autorinnen folgern schließlich:
„Ist Gott jedoch einer und als Einziger allmächtig, wie die jüdisch-christliche Tradition es sieht, kann es logischerweise keinen Widersacher geben. Dann aber wäre die ‚Versuchung’ doch wieder durch den Schöpfungsakt Gottes grundgelegt, Gott selber wäre also auch ‚Versucher’. Dies ist ein unlösbares Paradox, das selbst ein Vaterunser nicht entwirren kann.“2)
Heilsames Stolpern
Es sind die felsigen Ecken und Kanten, an denen man sich stoßen kann, die aber letztlich auch Halt und Sicherheit geben. Es sind die Unebenheiten, die einen zum Stolpern bringen können, aber letztlich auch trittsicheren Fortschritt ermöglichen. Im evolutionären Code des Menschen sind Stoß- und Stolperkanten offenkundig so bedeutsam, dass selbst der moderne Mensch unwillkürlich aufmerkt auf das, was ihn dort aus dem Gleichgewicht dissonanzfreier Ästhetik gebracht hat. Das gilt nicht nur für die Welt der Dinge; es gilt vor allem auch für das Denken und Begreifen der Welt. Aus dem Tritt gebracht wird der Mensch genötigt, genauer hinzuschauen.
Dieses Phänomen betrifft insbesondere auch die Rede von Gott. Die Jüngerinnen und Jünger Jesu haben vom ihm gelernt, diesen Gott liebevoll „Abba“, Vater zu nennen. Und er lehrt seine Jünger wie sie zu diesem Vater beten sollen. Das Neue Testament überliefert das Vater-Gebet-Jesu zweimal. Es findet sich in Lukas 11,2-4 und in Matthäus 6,9-13. Dieser synoptische Befund und das Fehlen des Gebetes im Markusevangelium deutet darauf hin, dass Matthäus und Lukas das Vater-Unser der sogenannten Logienquelle entnommen haben. Beide Texte sind nicht deckungsgleich. Die lukanische Version ist kürzer als die matthäische. Während das Matthäusevangelium insgesamt sieben Bitten umfasst, fehlen im Vergleich dazu bei Lukas die dritte und die siebte Bitte, so dass sich folgende Versionen ergeben. Bei Matthäus heißt es:
Unser Vater in den Himmeln3),
geheiligt werde dein Name,
dein Reich komme,
dein Wille geschehe,
wie im Himmel, so auf der Erde,
Gib uns heute das Brot, das wir brauchen!
Und erlass uns unsere Schulden,
wie auch wir sie unseren Schuldnern erlassen haben!
Und führe uns nicht in Versuchung,
sondern rette uns vor dem Bösen!
Demgegenüber lautet die lukanische Version:
Vater, geheiligt werde dein Name.
Dein Reich komme.
Gib uns täglich das Brot, das wir brauchen!
Und erlass uns unsere Sünden;
Denn auch wir erlassen jedem, was er uns schuldig ist.
Und führe uns nicht in Versuchung!
Gott – der Versucher?
Jenseits der berechtigten Frage, wie denn die Unterschiede zwischen Lukas und Matthäus zu erklären sind4), spricht einiges dafür, dass die kürzere Lukasfassung eher der jesuanischen Urfassung entsprechen dürfte5). In der kirchlichen Tradition hingegen, insbesondere in Liturgie und Katechese, vor allem aber im persönlichen Gebetsleben, ist die matthäische Langversion prägend geworden6), so dass hier im Folgenden vor allem mit dieser Version gearbeitet wird.
In beiden Versionen begegnet in der betonten Schlussstellung die Bitte
Und führe uns nicht in Versuchung.
Während bei Lukas diese Bitte dann auch den Schlussakzent darstellt, wird sie bei Matthäus durch den Zusatz
Sondern errette uns von dem Bösen.
weiter entfaltet.
Diese Schlussstellung bezeichnet man exegetisch auch als „Achtergewicht“. Dadurch wird die Bitte, der Vater möge die Beterinnen und Beter nicht in Versuchung führen, besonders hervorgehoben. Die Beterinnen und Beter können also gar nicht umhin, vor die Frage geführt zu werden, wie es denn sein kann, das Gott in Versuchung führt. Wer das Vater-Unser betet, muss hier ins Stolpern geraten. Ist Gott letztlich ein Versucher?
Die Versuchung des exegetischen Hobels
Tatsächlich ist diese, nach matthäischer Zählung sechste Bitte anstößig. Zweifelsohne wird hier ein scheinbar unlösbares Paradox aufgebaut: Gott, ein Versucher! Das Bedürfnis, den steten Anstoß im Gebet zugunsten einer endlich frommen Andacht wegzuhobeln, liegt offen zutage. Bereits Anfang der 1990er Jahre wurde die Liturgiekommission der Deutschen Bischofskonferenz mit dem Anliegen konfrontiert, auf eine Änderung der Übersetzung der sechsten Bitte im Vater-Unser hinzuarbeiten7) – eine Tradition, die bis ins Urchristentum zurückreicht8). Vorgeschlagen wurden hier etwa Formulierungen wie „Lass uns nicht in Versuchung geraten“ oder „Lass nicht zu, dass wir in Versuchung geraten“. Beide Varianten entlasten letztlich Gott, die Versuchung der Menschen aktiv zu bewirken, wie es die traditionelle Übersetzung des Vater-Unser nahelegt. Das gleiche Unbehagen motiviert offenkundig auch die veränderte Fassung der sechsten Bitte des Vater-Unser, die künftig in französischsprachigen Regionen gebetet wird, in denen es nun heißt: „Und lass uns nicht in Versuchung geraten“ beten wird9).
All diese Versuche sind letztlich von dem Bestreben geprägt, einer vermeintlichen Verzerrung des biblischen Gottesbildes zu begegnen, die so gar nicht dem barmherzigen Gott entspricht, der auf gar keinen Fall die Ursache für das Böse sein kann. Letztlich aber erzeugt man mit diesem exegetischen Hobel eben jene Aporien, in denen die Kommentatoren der Redaktion von „Christ in der Gegenwart“ ein unlösbares Paradox sehen. Wird man damit aber überhaupt der Intention der sechsten Bitte gerecht? Wäre das Stolpern über eine vordergründig ungehörige Formulierung nicht eines genauen Hinsehens wert?
Stolperkante
Es ist vor allem das Verb εἰσφέρειν (gesprochen: eisphérein), das zum Stolperstein wird. Es begegnet hier in der Form εἰσενέγκῃς (gesprochen: eisenéngkes), also der zweiten Person Aorist Konjunktiv. Die zweite Person zielt zweifelsohne auf den Vater als im Gebet angerufenen Adressaten der Bitten. Das Verb εἰσφέρειν an sich trägt aber die Bedeutung „hineintragen“, „hineinbringen“. Die wörtliche Übersetzung des Verbs lässt somit die gewohnte deutsche Übersetzung „und führe uns nicht in Versuchung“ sogar schon als Glättung erschein, denn wörtlich übersetzt würde die Bitte heißen:
Und trage uns nicht in die Versuchung hinein.
Wie aber passt das zu jenem von Barmherzigkeit und Sünderliebe geprägten Bild Gottes, auf das auch der Jakobusbrief rekurriert. Dort heißt es:
Keiner, der in Versuchung gerät, soll sagen: Ich werde von Gott in Versuchung geführt. Denn Gott lässt sich nicht zum Bösen versuchen, er führt aber auch selbst niemanden in Versuchung.
Nichtsdestotrotz kommt man an der Formulierung des Vater-Unser, in der Lukas und Matthäus wörtlich übereinstimmen und in der damit mit hoher Wahrscheinlichkeit die ipsissima vox, die ureigenste Stimme Jesus zu hören ist, nicht vorbei.
Die Jakobusvariante
Wer stolpert, sollte genau hinschauen. Bei solch einer näheren Betrachtung fällt auf, dass Jakobus im Unterschied zum Vater unser tatsächlich von einer direkten Versuchung durch Gott – oder besser: der Ablehnung der Aussage, Gott würde aktiv versuchen – spricht, die im Vater-Unser so eben nicht zur Sprache kommt. Jakobus verwendet nämlich das Verb πειράζειν (gesprochen: peirázein). Niemand soll sagen, er würde (unmittelbar) von Gott versucht (vgl. Jakobus 1,13).
Demgegenüber verwendet das Vater unser eine Umschreibung. Es geht hier nicht um den aktiven Vorgang des Versuchens bzw. Versuchtwerdens. Die Versuchung erscheint hier nicht als Verb wie bei Jakobus, sondern als Substantiv πειρασμός (gesprochen: peirasmós), das mithilfe der Präposition εἰς (gesprochen: eis) an ein sogenanntes Funktionsverb (εἰσφέρειν – gesprochen: eisphérein) als Verbalnomen angeschlossen wird10). Das führt nach Marlies Gielen dazu, dass die Aussage an sich uneindeutiger wird, als es auf den ersten Blick den Anschein hat:
„Wenngleich zwar das Funktionsverb ‚führen’ Gott als Subjekt des Handelns festschreibt, gibt das Verbalnomen ‚Versuchung’ keine verbindliche Auskunft über das Subjekt dieses Vorgangs. M.a.W. eine Identität zwischen dem, der in die Versuchung hineinführt, also mit ihr konfrontiert, und dem, der sie konkret ausübt, wird aufgrund der syntaktischen Unbestimmtheit des Verbalnomens nicht automatisch hergestellt. Ebenso gibt das Verbalnomen etwa keine Auskunft darüber, ob die Versuchung aktiv betrieben oder nur toleriert wird, ob sie bereits Realität ist oder noch erst eine Möglichkeit darstellt.“11)
Im Unterschied zur Jakobusvariante, die Gott eindeutig als Urheber einer Versuchung ausschließt, ist in der 6. Vater-Unser-Bitte die Frage, ob Gott Menschen versucht, an sich nicht zu beantworten.
Ein dritter Weg
Wo zwei Wege ungangbar erscheinen, muss ein dritter Weg gesucht werden. Gott als Versucher ist nicht nur mit Hinweis auf Jakobus 1,13 undenkbar. Die menschlicher Schaffens- und Vorstellungskraft entspringende Figur eines göttlichen Widersachers, der Gott von dieser Vorstellung entlastet, ebenso wenig, stellt sie doch die göttliche Allmacht in Frage. Gleichwohl bleibt die Formulierung der sechsten Bitte des Vater-Unsers anstößig.
Möglicherweise führt der Weg eben nicht über die Frage des „Hineinführens“ oder „-tragens“ weiter, sondern über den Begriff der Versuchung. Ein Indiz, dass die Lösung in dieser Richtung zu suchen ist, ergibt sich ja schon aus der matthäischen Erweiterung
Sondern erlöse uns von dem Bösen.
Freilich stellt sich die Frage, ob hier „der“ Böse (Maskulinum) oder „das“ Böse (Neutrum) gemeint ist. Wie im Deutschen lässt auch der griechische Urtext offen, weil es der mit der Präposition ἀπό verbundene Genitiv τοῦ πονηροῦ (gesprochen: toû poneroû) ebenfalls Maskulinum oder Neutrum sein kann12). Die Beantwortung der Frage kann hier prinzipiell offenbleiben; die Formulierung schafft in sich eine oszillierende Spannung, in der der Mensch sich befindet: Bewirkt der Böse das Böse oder gebiert das Böse den Bösen? Mit Blick auf die synoptische Tradition mag freilich ein gewisser Akzent auf der maskulinen Intention liegen, führt doch ein direkter Weg von der sechsten Bitte des Vater-Unser zur Überlieferung der Versuchung Jesu (Mk 1,12-13parr):
Und sogleich treib der Geist Jesus in die Wüste. Jesus blieb vierzig Tage in der Wüste und wurde vom Satan in Versuchung geführt. Er lebte bei den wilden Tieren und die Engel dienten ihm.
Der markinische Text entbehrt nicht einer gewissen Gewalttätigkeit: Jesus wird sofort hinausgetrieben. Es scheint ein innerer Zwang für den Wüstengang zu bestehen: Der Geist setzt Jesus dieser Erfahrung alternativlos aus. Die Versuchung durch Satan erscheint geradezu als logische Folge bzw. Zweck der Hinaustreibung. Jesus muss diese Erfahrung machen. Er kommt nicht darum herum!
Gelöst: Das ist Versuchung
Genau dieser Aspekt kommt bei Matthäus noch deutlicher zum Vorschein:
Dann wurde Jesus vom Geist in die Wüste geführt, um vom Teufel versucht zu werden.
Jesus soll mit der Versuchung durch den Teufel konfrontiert werden. Er soll ihr gerade nicht aus dem Weg gehen. Aber welchem Zweck dient diese Erfahrung?
Im Unterschied zur äußerst lakonischen, ja spartanischen Erzählweise des Markus entspinnt sich bei Matthäus ein Gespräch zwischen dem Versucher und dem versuchten Jesus:
Als er vierzig Tage und vierzig Nächte gefastet hatte, hungerte ihn. Da trat der Versucher an ihn heran und sagte: Wenn du Gottes Sohn bist, so befiehl, dass aus diesen Steinen Brot wird. Er aber antwortete: In der Schrift heißt es: Der Mensch lebt nicht vom Brot allein, sondern von jedem Wort, das aus Gottes Mund kommt. Darauf nahm ihn der Teufel mit sich in die Heilige Stadt, stellt ihn oben auf den Tempel und sagte zu ihm: Wenn du Gottes Sohn bist, so stürz dich hinab; denn es heißt in der Schrift: Seinen Engeln befiehlt er um deinetwillen, und: Sie werden dich auf ihren Händen tragen, damit dein Fuß nicht an einen Stein stößt. Jesus antwortet ihm: In der Schrift heißt es auch: Du sollst den Herrn, deinen Gott, nicht auf die Probe stellen. Wieder nahm ihn der Teufel mit sich und führte ihn auf einen sehr hohen Berg; er zeigte ihm alle Reiche der Welt mit ihrer Pracht und sagte zu ihm: Das alles will ich dir geben, wenn du dich vor mir niederwirfst und mich anbetest. Da sagte Jesus zu ich: Weg mit dir Satan! Denn in der Schrift steht: den Herrn, deinen Gott, sollst du anbeten und ihm allein dienen. Darauf ließ der Teufel von ihm ab und siehe, es kamen Engel und dienten ihm.
In der Quintessenz des dreiteiligen Gespräches besteht Jesus die Versuchung. Die Versuchung erweist sich als Bewährungsprobe, indem er sich an die Schrift hält und dem Wort Gottes in seiner Ganzheit unterwirft. In diesem ungeteilten und unteilbaren Wort Gottes wird der Wille des Vaters sichtbar. Die Versuchung besteht aus dieser Perspektive darin, sich angesichts der Herausforderungen von Zeit und Welt nicht am Wort Gottes zu orientieren, sondern selbstermächtigt den eigenen Wünschen und Bedürfnissen zu folgen.
Bleibende Versuchung – selbst für Jesus, vor allem aber für die Jünger
Wie sehr der Mensch immer wieder neu vor diese existentielle Versuchung geführt wird, zeigt die Gethsemane-Szene (Markus 14,32-42parr). In der Überlieferung des Matthäus betet Jesus dort:
Mein Vater, wenn es möglich ist, gehe dieser Kelch an mir vorüber. Aber nicht wie ich will, sondern wie du willst.
Die inhaltliche Nähe zur Vater-Unser-Bitte, dass der Wille des Vaters im Himmel wie auf Erden geschehen solle, ist unverkennbar. Zu den Jüngern Petrus, Jakobus und Johannes, die mit ihm wachen und beten sollten und die doch eingeschlafen sind, spricht Jesus hingegen:
Wacht und betet, damit ihr nicht in Versuchung (εἰς πειρασμόν – gesprochen: eis peirasmón) hineingeht (εἰσέλθητε – gesprochen: eisélthete).
Jesus bleibt auch in dieser letzten Versuchung standhaft, während ihr die Jünger erliegen. Das ist der große Unterschied zwischen dem Sohn Gottes und seinen Nachfolgerinnen und Nachfolgern. Marlies Gielen stellt deshalb zurecht fest:
„Weil aber ihr Heil auf dem Spiel steht, darum lehrt sie der mt [matthäische WK] Jesus zu beten: ‚Und führe uns nicht in Versuchung, sondern erlöse uns von dem Bösen’ (Mt 6,13).“14)
Versuchung als Bewährung - Scheitern nicht ausgeschlossen
In der Dramaturgie des Matthäusevangeliums erscheinen die Versuchung Jesu durch den Teufel in der Wüste als Prototyp des Versuchtwerdens und die Gethsemane-Szene als Nagelprobe. Beide Szenen liefern das Interpretament für die sechste Vater-Unser-Bitte. Die Versuchung erscheint als Bewährungsprobe, in der der Versuchte sich als Gerechter und Glaubender erweisen soll. Ähnlich betet ja auch der Psalmist in Psalm 25,2 (LXX/Septuaginta – Ps 26,2 geläufige Zählung):
Erprobe mich, Herr, und versuche (πείρασον – gesprochen: peírason) mich, ein Feuer meinen Nieren und meinem Herz.
In dieser Perspektive erscheint die Versuchung gar als Mittel Gottes, die Seinen zu erforschen. Ijob etwa ist dann ebenso ein Prototyp des von Gott Erprobten wie Abraham bei der Bindung Isaaks. Die Versuchung dient also vor allem der Bewährung.
Die Verantwortung der Beter
Nun zeigt gerade das Beispiel der Jünger Jesu, dass selbst bei vergleichsweise kleinen Bewährungsproben ein Scheitern nicht ausgeschlossen ist. Genau hieraus ergibt sich der tiefere Sinn der sechsten Bitte des Vater-Unser: Angesichts der menschlichen Schwachheit und der existentiellen Potenz des Scheiternkönnens rufen die Beter Gott als Vater um Beistand an. Es geht in dieser Perspektive darum, nicht in der Situation der Versuchung zu verbleiben, die in der Intention der Versuchung Jesu ja letztlich ein Handeln gegen den Willen Gottes bedeuten würde. Umgekehrt schärft gerade die Schlussstellung der sechsten Bitte das Bewusstsein der Beter. Sie bleibt gewissermaßen im Denken hängen. Richtig verstanden wird sie damit zur Mahnung, sich am Vorbild Jesu zu orientieren, der der Versuchung gerade dadurch widersteht, dass er sich am Wort Gottes und dem dort dokumentieren Willen des Vaters orientiert. Die Bitte, nicht in Versuchung hineingeführt zu werden, korrespondiert daher mit der Bitte, dass allein der Wille des Vaters im Himmel wie auf Erden geschehen solle. Diese Korrespondenz macht aber eben auch deutlich, dass es bei der Verwirklichung des Willens des Vaters zuvorderst auch um die Bereitschaft der Beterinnen und Beter geht, diesen Willen eben nicht zu ignorieren, sondern zu tun – vor allem und gerade dann, wenn die Lage wie im Garten Gethsemane aussichtslos erscheint.
In der Ferne
Ist die sechste Bitte im Vater-Unser ein unlösbares Pradox, wie die Redaktion von „Christ in der Gegenwart“ vermutet? Mitnichten. Auch hier darf man eben nicht der Versuchung erliegen, nicht genau in das Wort Gottes zu schauen. Die Gefahr, sich einen Gott nach seinen eigenen Vorstellungen und Bedürfnissen zurecht zu schaffen, ist nicht nur sehr groß; wer ihr erliegt, bringt sich auch um den wahren Schatz, den das Vater-Unser gerade in der sechsten Bitte in sich trägt.
Die Versuchung, von der im Vater-Unser die Rede ist, lauert vor allem in den Erfahrungen des Lebens, in denen Gott ferne scheint. Das können sowohl die Hochzeiten eines Lebens sein, in denen man Gott nicht braucht, aber auch die Tiefen, in denen man mit Gott hadert. Die größte aller Versuchungen ist, Gott in die Ferne zu rücken und so selbst gottfern zu werden. Dass das ferne sei, dafür beten Christinnen und Christen in der sechsten Bitte des Vater-Unser. Weil aber die Gefahr des Scheiterns nie ausgeschlossen werden kann, bleibt die beste aller Formulierungen immer noch:
Und führe uns nicht in Versuchung!
Denn wer gar nicht geprüft wird, kann auch nicht durch die Prüfung fallen. Wenn aber die Prüfungen des Lebens kommen, dann, Beterinnen und Beter, seid wachsam. Schaut auf das göttliche Wort, das Fleisch wurde. Orientiert euch an ihm. Lasst nicht von diesem Gott, der von allem Bösen befreit. Er allein gibt Halt. Dann steht ihr auf festem Grund!
Bildnachweis
Titelbild: let op! drempels (Wee Sen Goh) – Quelle: flickr – lizenziert als CC BY-NC 2.0.
Bild 1: Süße Versuchung (Urban Explorer Hamburg – Ausschnittbearbeitung Werner Kleine) – Quelle: flickr – lizenziert als CC BY 2.0.
Bild 2: Angst ist göttlich – Gethsemane – Szene aus der TalPassion (Werk: Annette Marks, Foto: Christoph Schönbach/Katholische Citykirche Wuppertal) – alle Rechte vorbehalten.
Einzelnachweis
1. | ↑ | CIG-Redaktion, Kommentar: Die Versuchung, Ausgabe 26/2017, Quelle: http://www.christ-in-der-gegenwart.de/aktuell/artikel_angebote_detail?k_beitrag=4828142&campaign=facebook/cig [Stand: 25.7.2017]. |
2. | ↑ | CIG-Redaktion, Kommentar: Die Versuchung, Ausgabe 26/2017, Quelle: http://www.christ-in-der-gegenwart.de/aktuell/artikel_angebote_detail?k_beitrag=4828142&campaign=facebook/cig [Stand: 25.7.2017]. |
3. | ↑ | Die Singular-Lesart ἐν τῷ οὐρανῷ (gesprochen: en tô ouranô) findet sich nur in der Didache; textkritisch ist daher die plurale Lesart ἐν τοῖς οὐρανοῖς (gesprochen: en toîs ouranoîs) zu bevorzugen. Im Unterschied zur lukanischen Variante, die den lokalen Hinweis auf den/die Himmel als göttliche Sphäre gänzlich auslässt, ist die matthäische Rede damit von einer jüdischen Diktion geprägt. |
4. | ↑ | Vgl. hierzu etwas J. Jeremias, Das Vater-Unser im Lichte der neueren Forschung, in: ders. Abba. Studien zur neutestamentlichen Theologie und Zeitschichte, Göttingen 1966, S. 152-171, insbesondere S. 157-159. |
5. | ↑ | Hierfür spricht unter anderem die textkritische Regel der lectio brevior, nach der eine kürzere Lesart die wahrscheinlich ursprüngliche ist; es gibt bei der Überlieferung gerade sakral intendierter Texte eher eine Tendenz zur erklärenden Ausweitung als eine Tendenz zur Kürzung. Siehe hierzu aber auch J. Jeremias, Das Vater-Unser im Lichte der neueren Forschung, in: ders. Abba. Studien zur neutestamentlichen Theologie und Zeitschichte, Göttingen 1966, S. 152-171, insbesondere S. 157-159. |
6. | ↑ | Das im Deutschen vertraute Vater-Unser bildet dabei eine gewisse Harmonisierung der beiden Versionen, wenn etwa aus der Bitte um das „heutige Brot“ bei Matthäus und dem „täglichen Brot“ bei Lukas die Formulierung „unser tägliches Brot gib uns heute“ wird. In anderen Sprachen, etwa dem Arabischen اَّبَنَا الّذِي فِي السَّمَاتِ (gesprochen: abana lathi fi ssamauati) steht die Orientierung am matthäischen Vater-Unser wesentlich stärker im Vordergrund (siehe hierzu etwa: http://www.christenhelfenchristen.de/files/Vaterunser-_arabisch_update_1.pdf [Stand: 25. Juli 2017]). |
7. | ↑ | Vgl. hierzu M. Gielen, „Und führe uns nicht in Versuchung“. Die 6. Vater-Unser Bitte – eine Anfechtung für das biblische Gottesbild?, in: Zeitschrift für die neutestamentliche Wissenschaft (ZNW) 89 (1998), S. 201-216, hier: S. 201f. |
8. | ↑ | Vgl. hierzu F. Urbanek, „Vater im Himmel“ – das alte Vaterunser in sprachlicher Neuauflage, Linguistica Biblica (LingBib) 66 (1992), S. 39-54, hier: S. 41f. |
9. | ↑ | Vgl. hierzu CIG-Redaktion, Kommentar: Die Versuchung, Ausgabe 26/2017, Quelle: http://www.christ-in-der-gegenwart.de/aktuell/artikel_angebote_detail?k_beitrag=4828142&campaign=facebook/cig [Stand: 25.7.2017]. |
10. | ↑ | Vgl. hierzu auch M. Gielen, „Und führe uns nicht in Versuchung“. Die 6. Vater-Unser Bitte – eine Anfechtung für das biblische Gottesbild?, in: Zeitschrift für die neutestamentliche Wissenschaft (ZNW) 89 (1998), S. 201-216, hier: S. 203 |
11. | ↑ | M. Gielen, „Und führe uns nicht in Versuchung“. Die 6. Vater-Unser Bitte – eine Anfechtung für das biblische Gottesbild?, in: Zeitschrift für die neutestamentliche Wissenschaft (ZNW) 89 (1998), S. 201-216, hier: S. 204. |
12. | ↑ | Zur Auslegungsgeschichte vgl. J.M. Lochmann, Unser Vater. Auslegung des Vaterunser, Gütersloh 1988, 130-134. |
13. | ↑ | Matthäus verwendet hier den eindeutig finalen Infinitiv πειρασθῆναι, ist also zielgerichtet (final) zu übersetzen. |
14. | ↑ | M. Gielen, „Und führe uns nicht in Versuchung“. Die 6. Vater-Unser Bitte – eine Anfechtung für das biblische Gottesbild?, in: Zeitschrift für die neutestamentliche Wissenschaft (ZNW) 89 (1998), S. 201-216, hier: S. 210. |
Sehr geehrter Herr Dr. Kleine,
mit Interesse habe ich Ihre Ausführungen gelesen. Auch ich bin des öfteren über den Passus irritiert gewesen und kann mich jetzt mit Ihrer Nachricht befassen. Es hat mir sehr geholfen.
Danke und freundliche Grüße
Trude Nierste