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Aleppo ist ein Synonym für Leid, Hoffnungs- und Hilflosigkeit. Syriens Präsident Baschar al-Assad verkündete zwar die „Befreiung“ der Stadt, aber für die Rebellen und die Zivilbevölkerung ist dies nur die nächste Szene in einer anhaltenden humanitären Katastrophe. Zehntausende Menschen sind noch immer in Ost-Aleppo eingeschlossen und warten/hoffen in zerbombten Häusern auf einen Abtransport bzw. die Flucht in die Provinz Idlib, die noch von den Rebellen kontrolliert wird. Die humanitäre Lage in Aleppo ist katastrophal. Trinkwasser und Nahrung sind Mangelware. Trotz winterlicher Temperaturen können die Menschen nicht heizen, da es kaum Strom und fast kein Benzin gibt. Die Leiterin der Mission des Internationalen Komitees des Roten Kreuzes, die die Evakuierung der Bevölkerung organisiert, beschreibt das Leid in drastischen Worten: “I have never seen such levels of human suffering before” (Übersetzung: „Ich habe noch nie ein solches Ausmaß von menschlichem Leid gesehen“).1) Aber die Evakuierung, wenn sie gelingt, ist nur eine Verlagerung des Leids. Die syrische Regierung will die Bevölkerung und die bewaffneten Rebellen nur in das von den Rebellen kontrollierte Idlib fliehen lassen, damit die syrische Armee und ihre Verbündeten nicht an vielen verschiedenen Fronten gegen die Rebellen kämpfen müssen, sondern nach Aleppo ihren Vormarsch nun auf Idlib konzentrieren können.2)
Auf dem letzten EU-Gipfel hat der Bürgermeister Ost-Aleppos das Leid in seiner Stadt geschildert, doch die Regierungschefs der europäischen Staaten sowie ein großer Teil der europäischen Bevölkerung fühlen ihre Ohnmacht. In den Worten Angela Merkels: „Wir haben alle festgestellt, dass wir viel weniger tun können, als wir gerne tun würden“3). Mehr als der Vorwurf, dass Syrien zusammen mit seinen Verbündeten Russland und Iran verantwortlich sind für Verbrechen gegen die Zivilbevölkerung, folgte nicht auf den EU-Gipfel. Der Krieg in Syrien ist unübersichtlich und als stiller Betrachter des Leids, das live und ungefiltert via Facebook, YouTube und Twitter verfolgt werden kann, ist man hilflos. Dabei steht der Name „Aleppo“ eigentlich für Gerechtigkeit und Hilfe.
Das Aleppo der Hilflosigkeit
Auf Arabisch heißt die Stadt حلب (gesprochen: Ḥalab) . Dieser Name wird von den Bewohnern Aleppos auf die Vergangenheitsform des arabischen Verbs „melken“ zurückgeführt. Einer muslimischen Legende zufolge soll Abraham an diesem Ort seine Kuh asch-Schahba gemolken und die Milch an die Armen und Elenden verteilt haben. Der Name der Stadt ist somit ein Aufruf zur Armenfürsorge und zur Leidminderung. Auch wenn die Kriegssituation in Syrien unübersichtlich ist und mit Russland und Syrien zwei mächtige Verbündete an der Seite Baschar al-Assads stehen, darf die Weltgemeinschaft und die Menschheit nicht stumm zusehen und das Leid geschehen lassen.
Öffne deinen Mund für den Stummen, für das Recht aller Schwachen! Öffne deinen Mund, richte gerecht, verschaff dem Bedürftigen und Armen Recht!
Das Leid Anderer darf nicht schweigend hingenommen werden – dafür steht der wiederholte Aufruf, das Wort zu ergreifen. Im Sprichwörterbuch ist in diesem Kapitel der König als gerechter Herrscher angesprochen. Er soll das Wort für den Stummen ergreifen, der im realen und im übertragenen Sinn keine eigene Stimme hat. Im damaligen Rechtssystem gab es keine Anwälte, die das Wort für einen geführt haben, sondern der Schwache war angewiesen auf den Schutz einer höherstehenden Person oder des Königs, der für den Schwachen das schützende Wort führen soll. Der Stumme wird mit dem hebräischen Ausdruck בְּנֵ֥י חֲלֽוֹף (gesprochen: bnei chaluf) parallelisiert, der hier mit „die Schwachen“ wiedergegeben ist. Die Übersetzung dieses Ausdrucks ist umstritten, aber wahrscheinlich bedeutet er „Söhne [also Kinder] des Dahinschwindens“ und bezeichnet die Person, der ihre Lebenschance weggenommen wird. Dem, der keine Stimme hat, der aufgrund von Ungerechtigkeit dahinsiecht, bedürftig und arm ist, soll Gerechtigkeit wiederfahren, indem für ihn das Wort ergriffen wird. Es soll sich dabei um ein performatives Wort handeln. Die in Vers 9 verwendeten Verben stammen aus der Gerichtssprache und verlangen ein Richten, das Gerechtigkeit schafft. Die Stimme soll erhoben werden, nicht um Politik zu machen oder medienwirksam etwas gesagt zu haben, sondern die erhobene Stimme soll etwas verändern und den Leidenden zur Hilfe eilen – ein Auftrag den das Sprichwörterbuch nicht nur dem König ins Gewissen schreibt. Es gehört zur Weisheit, für die Gerechtigkeit die Stimme zu erheben und das Recht für die Stimmenlosen einzufordern.
Mit Gottes Wort
Als das Buch der Sprichwörter wahrscheinlich im 2. Jahrhundert v. Chr. aus dem Hebräischen ins Griechische übersetzt wurde, wichen die Übersetzer am Anfang von Sprichwörter 31,8 deutlich vom im Hebräisch vorliegenden Text ab:
Öffne deinen Mund für das Wort Gottes, …
Vielleicht hat der Übersetzer das hebräische Wort für den „Stummen“ (אִלֵּם, gesprochen: illem) als den Plural des Wortes für Gott (אֵלִים, gesprochen: elim) verlesen, was er dann als die gebräuchliche Gottesbezeichnung אֱלֹהִים (gesprochen: elohim) gedeutet hat. Wahrscheinlicher jedoch ist die Annahme, dass der Übersetzer hier bewusst in den Vers eingegriffen und den Maßstab für das rechte Handeln benannt hat. Der König soll seinen Mund nicht für sich oder seine Absichten öffnen, sondern er soll zur Stimme des Wortes Gottes werden und den Willen Gottes in der Welt umsetzen. Es ist somit in der griechischen Übersetzung explizit das Wort Gottes, das durch den Menschen zur Stimme für die Schwachen, Bedürftigen und Armen werden will. Es ist diese Stimme, die in vielen Solidaritätskundgebungen für Aleppo in Paris, Berlin, Jerusalem und vielen anderen Orten erklingt und bei aller Hilflosigkeit Gerechtigkeit einklagt, in der Hoffnung, dass den Leidenden Recht verschafft werden möge durch die Machthaber dieser Welt.
Bildnachweis
Titelbild: „ After the attack of Assad death barrels on Aleppo, Syria“, aufgenommen am 6. Februar 2014 von „Freedom House“. Lizenz: CC BY-SA 2.0.
Einzelnachweis
1. | ↑ | Vgl. https://twitter.com/RMardiniICRC/status/809362863068418049. |
2. | ↑ | Vgl. „Evakuierung des Rebellengebiets Assad erklärt Aleppo für “befreit”“, tagesschau.de, 15.12.2016 [16. Dezember 2016]. |
3. | ↑ | Zitiert nach: „Merkel wirft Russland und Iran Verbrechen vor“, tageschhau.de, 16.12.2016 [Stand: 16. Dezember 2016]. |
Endlich ein Artikel der wage die Ungerechtigkeit beschreibt die in Syrien stattfindet. Leider hatte ich bisher beim Lesen kirchlicher Kommentare zu diesem Krieg immer das Gefühl das die vielen Kriegsverbrechen des syrischen Regimes, russischer Luftwaffe und iranischen Milizen nicht ausgesprochen wird. Und auch ist das Interesse dieser humanitäre Tragödie so gering. Möge Gott die hunderttausenden Gefangenen aus ihren Qualen erlösen und die Waisen Witwen und Verwundeten trösten und heilen. Und die Herzen hier mit Barmherzigkeit füllen.