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Der Osterjubel konnte einem im Angesicht der Attentate in Brüssel und in Lahore fast im Halse steckenbleiben. Schmerzhaft führten Terroristen abermals der Welt vor, dass der Tod seinen Stachel noch nicht verloren hat, sondern immer neue Wunden reißt.1) Die Verkündigung von Gottes Liebe, die am Kreuz und in der Auferstehung Christi sichtbar geworden ist, scheint auf den ersten Blick schwächer als die grausamen Bilder verstümmelter Leichen. Die Gewaltlogik regiert die Welt, wie anhand eines Kommentars der BILD-Zeitung zu den Anschlägen in Brüssel deutlich wird: „Der beste Schutz vor Terrorismus ist immer noch, möglichst viele Terroristen zu töten oder ins Gefängnis zu sperren.“2) Der Ruf nach Rache und Vergeltung ist auch der Bibel nicht fremd (siehe Jeremia 50,15).3) Aber die Botschaft des Kreuzes ist kein Ruf nach Rache und Vergeltung, sondern ein Ruf nach Versöhnung. Jakob Augstein bezeichnet in seiner Kolumne auf SPIEGEL Online Versöhnung als „westlichsten aller Werte“ und schreibt: Wir holen die Bibel hervor und lesen den Zweiten Korinther-Brief des Apostels Paulus: ‚Denn Gott war in Christus und versöhnte die Welt mit sich selber und rechnete ihnen ihre Sünden nicht zu und hat unter uns aufgerichtet das Wort von der Versöhnung.‘“4) Dass dieser Verweis auf 2 Korinther 5,19 nicht in einem verstaubten theologischen Buch oder in einer Predigt vor leeren Kirchenbänken zu finden ist, verdeutlich prägnant, welche Relevanz der biblischen Botschaft in der heutigen Welt zukommen kann. Paulus selbst verdeutlicht, dass der Tod und die Auferweckung Jesu, der reale Beginn einer Utopie sind, in der Versöhnung die Welt erfüllt und die Menschen zu Dienern der Versöhnung werden.5)
Einer und alle sterben
Im Alltag steht der Begriff „Versöhnung“ für eine Vermittlung, die Widersprüche in einer Synthese aufhebt. Bei Paulus hingegen steht der Begriff „Versöhnung“ für eine radikale Zeitenwende, die von Gott gesetzt wurde und zu der sich der Mensch verhalten kann: Versöhnung ist nicht ausgleichend, sondern radikal – ihr Verständnis ergibt sich für Paulus aus dem Tod Jesu am Kreuz:
Denn die Liebe Christi drängt uns, da wir erkannt haben: Einer ist für alle gestorben, also sind alle gestorben.
Die Argumentation wirkt paradox: Paulus sagt, dass Jesus in seinem Tod nicht für jemanden gestorben ist, um diese Person zu retten; sondern dass Jesus für alle Menschen gestorben ist, so dass alle Menschen mit ihm sterben. Gerade darin, soll die Liebe Christi erkennbar sein.6) Im Tod offenbart Christus seine Liebe zu den Menschen und er setzt sie in Tat um: Sein Handeln eröffnet die Möglichkeit zur Versöhnung mit Gott. Das Verhältnis zwischen der Menschheit und Gott bezeichnet er im Römerbrief auf drastische Weise als Feindschaft – eine Feindschaft, die nur durch Versöhnung beseitigt werden kann:
Da wir mit Gott versöhnt wurden durch den Tod seines Sohnes, als wir noch (Gottes) Feinde waren, werden wir erst recht, nachdem wir versöhnt sind, gerettet werden durch sein Leben.
Sowohl im Brief an die Korinther als auch im Brief an die Römer verdeutlicht Paulus, dass die Versöhnung nicht durch die Menschen als Täter der Sünde hergestellt wird, sondern von Gott als Leidender etabliert wird und in der Liebe Christi erkennbar ist. Vom besonderer Bedeutung ist in der Aussage in 2 Korinther 5,14-15 das kleine Wort „für“ (griechisch: ὑπὲρ, gesprochen: hyper): Es geht um ein Sterben „zugunsten“, „anstelle“ und „wegen“.
In Paulus‘ Verständnis musste Jesus sterben, weil Juden und Nicht-Juden („alle“) nicht nur sündigten, sondern Sünder waren und aus eigenem Handeln heraus kein Heil mehr bewirken konnten. Im Hintergrund des paulinischen Denkens steht das Konzept einer „Totalidentifikation“: In Jesus Leben und Sterben ereignet sich das Leben und Sterben aller Menschen. Sowie wie nach Paulus Verständnis alle Menschen durch den ersten Menschen, Adam unter die Macht der Sünde geraten sind, so sind alle Menschen durch Jesus von der Macht der Sünde befreit (siehe Römer 5,19). Radikal wird am Kreuz das „Dasein für andere“ realisiert – aber anders als in der antiken Freundschaftsethik, die es als Zeichen größter Verbundenheit versteht, für die mit einem Verbundenen notfalls sogar in den Tod zu gehen.7) Jesus stirbt für alle am Kreuz und alle sterben mit ihm, in dem Sinne, dass ihr Leben der Sünde entrissen wird und der Gerechtigkeit übergeben wird (siehe 2 Korinther 5,21). Dieses komplizierte theologische Gedankengefüge entschlüsselt sich in 2 Korinther 5,15:
Er [Jesus] ist aber für alle gestorben, damit die Lebenden nicht mehr für sich leben, sondern für den, der für sie starb und auferweckt wurde.
Der Tod steht hier für den Wandel der Perspektive. Aus der egoistischen Perspektive auf das eigene Leben, soll die Ausrichtung des eigenen Lebens an Jesus Christus erfolgen. Aus dem Kreuzestod und der Auferstehung Jesu entsteht der Auftrag zur Nachfolge Christi. Die Liebe Christi ist somit die radikale, drängende Forderung, das Leben nicht an sich selbst auszurichten, sondern an der Proexistenz Christi.
Die Konsequenz
Paulus‘ Leben selbst ist ein Beispiel für den Perspektivwandel. In seiner Vergangenheit hatte er Christen aufgrund ihres Glaubens an Jesus Christus verfolgt, aber durch das Damaskus-Erlebnis wird die Liebe Christi zu seinem neuen Maßstab, der seine Sicht und sein Urteil verändert hat (vgl. 1 Korinther 15,9-10). Die Liebe Christi drängt zu einer neuen Art der Erkenntnis, die nicht mehr durch weltliche Maßstäbe geprägt ist, sondern durch himmlische. Er folgert:
Also schätzen wir von jetzt an niemand mehr nur nach menschlichen Maßstäben ein; auch wenn wir früher Christus nach menschlichen Maßstäben eingeschätzt haben, jetzt schätzen wir ihn nicht mehr so ein.
Gemäß dem alttestamentlichen Gesetz war Jesus durch seinen Kreuzestod ein Verfluchter (vgl Deuteronomium 21,23). Aber das himmlische Urteil hat sich in der Auferstehung und Himmelfahrt gezeigt. Für den Blick auf andere Menschen bedeutet dies, dass sie nicht aufgrund einer Vergangenheit beurteilt werden dürfen, sondern aufgrund ihrer Zukunft:
Wenn also jemand in Christus ist, dann ist er eine neue Schöpfung: Das Alte ist vergangen, Neues ist geworden.
Auch wenn Jesus Christus für alle gestorben ist, so zieht doch Paulus hier auch eine klare Grenze zwischen Christen und Nicht-Christen. Nur derjenigen, der „in Christus“ ist, also gemäß der Forderung aus 2 Korinther 5,15 sein Leben als Christusnachfolge führt, hat Anteil an dieser neuen Existenz und lebt in dieser neuen Wirklichkeit.
Das bedeutet jedoch nicht, dass die Christusnachfolge ein besonderer Verdienst der Christen sei:
Aber das alles kommt von Gott, der uns durch Christus mit sich versöhnt und uns den Dienst der Versöhnung aufgetragen hat.
Die Christusnachfolge ist Auftrag an die Menschheit und Dienst der Christen. Sie basiert auf dem Willen Gottes, „der uns durch Christus mit sich versöhnt“ hat. Der hier verwendete griechisches Begriff καταλλάσσω (gesprochen: katalasso) entstammt der antiken Friedensdiplomatie: Es bezeichnet den Vorgang der Wiederherstellung eines wieder ausgewogenen Verhältnisses zwischen zwei verfeindeten Parteien – in diesem Fall zwischen Gott und der Menschheit, die aufgrund ihrer Ungerechtigkeit in Opposition zu Gott steht (siehe Römer 1,18). Aber anders als in der Diplomatie hat Gott die Versöhnung nicht ausgehandelt, sondern sie gewährt. Die Versöhnung ist eine von Gott gesetzte Gegebenheit:
Ja, Gott war es, der in Christus die Welt mit sich versöhnt hat, indem er den Menschen ihre Verfehlungen nicht anrechnete und uns das Wort von der Versöhnung (zur Verkündigung) anvertraute.
Die Radikalität der Versöhnung wird in ihrer Ignoranz gegenüber der Verfehlung der Menschen deutlich. Die negative Vergangenheit wird außer Acht gelassen. Die Versöhnung wird als ehrenvolle Aufgabe präsentiert. Die Verkündigung der Versöhnung wird in die Hände der Menschen gelegt. Die Verkündigung der Versöhnung in Worten und Taten ist der Dienst, der den Christen aufgetragen ist. Diesen Dienst übt Paulus in seinem Brief an die Korinther aus:
Wir sind also Gesandte an Christi Statt, und Gott ist es, der durch uns mahnt. Wir bitten an Christi Statt: Laßt euch mit Gott versöhnen!
Die Wir-Rede ist von einem Leser sowohl auf sich selbst als auch auf Paulus beziehbar.8) Im Duktus des Briefes spricht hier Paulus über sich selbst im Angesicht der Gemeinde in Korinth, die in das „Wir“ miteinbezogen ist und die er von seinem Apostolat vergewissern will. Er bezeichnet sich als von Christus gesandt (πρεσβεύω, gesprochen: presbeo). In hellenistischer Zeit spielte die Institution der Presbeis eine wichtige Rolle beim Übermitteln von Versöhnungsangeboten und beim Zustandekommen von Friedensabkommen. Er verdeutlicht damit, dass er Christus repräsentiert, aber in der Weise, dass er auf ihn als Auftraggeber der Sendung verweist. Paulus bezeichnet sich in Gemeinschaft mit der Gemeinde in Korinth als Friedensdiplomat Christi, dem der Dienst der Versöhnung aufgetragen ist. In Hintergrund steht die Forderung, dass die Gemeinschaft von Apostel und Gemeinde versöhnt sein muss, da sie nur als versöhnte Gemeinschaft den Dienst der Versöhnung in die Welt tragen kann. Die Bedeutung dieses Dienstes zeigt sich in der Hervorhebung, dass Christus als Sendender in seinem Gesandten zu Wort kommt.
Die Art und Weise, wie die göttliche Mitteilung im Wort des Apostels ausgedrückt wird, ist beachtenswert. Es handelt sich um keine Ermahnung und auch nicht um einen Imperativ, sondern um eine Bitte. Die Versöhnung Gottes mit der Welt ist eine Einladung und keine aktive Aufforderung: Es heißt nicht „Versöhnt Euch!“, sondern „Lasst Euch versöhnen!“. Gott hat sich bereits mit der Welt versöhnt und diese Versöhnung muss nur noch passiv angenommen werden.
Der Auftrag
Aus paulinischer Perspektive schenkt Gott im Kreuzestod Christi den Menschen einen Neuanfang, der grundgelegt ist in einer Versöhnung, die nicht auf die Vergangenheit blickt, sondern in die Zukunft. Dieses Konzept der Versöhnung ist radikal, denn es fordert nichts und verlangt nichts. Es bietet einen Perspektivenwechsel an, der vergangene Schuld in Zukunftshoffnung wandelt. Versöhnung ist im paulinischen Verständnis eine Diplomatie, die Frieden bedingungslos als Geschenk gibt beziehungsweise anbietet. Wie der Beschenkte mit diesem Angebot umgeht und darauf reagiert, steht auf einem anderen Blatt. Paulus versteht das Geschenk als Auftrag, dementsprechend es zu leben gilt in der Nachfolge Christi: proexistent für Gott und für alle Menschen.
Bildnachweis
Titelbild: „Reconciliation by Josefina de Vasconcellos at Coventry Cathedral“, fotografiert von Ben Sutherland. Lizenziert unter Versöhnung von Pablo Hannemann.“ Bronze, 1979, fotografiert von Axel Mauruszat. Lizenziert unter
Einzelnachweis
1. | ↑ | Vgl. „Opfer! Klatschen! Beifall! Ein Essay über die Tatsächlichkeit des Todes und die Behauptung der Auferstehung.“, Werner Kleine, Dei Verbum [Stand: 31. März 2016]. |
2. | ↑ | „Warum wir den Kampf gegen ISIS gerade verlieren!“, Julian Reichelt, BILD, 23.03.2016 [Stand: 31. März 2016]. |
3. | ↑ | Vgl. „Rache, Vergeltung oder Feindesliebe? Das Alte Testament gelesen im Angesicht der Terroranschläge des sogenannten IS.“, Till Magnus Steiner, Die Verbum [Stand: 31. März 2016]. |
4. | ↑ | „Wollen wir den totalen Krieg?“, Jakob Augstein, SPIEGEL Online, 28.03.2016 [Stand: 31. März 2016]. |
5. | ↑ | Im Hintergrund der zitierten Verse aus 2 Korinther steht bereits selbst eine Situation, in der es Versöhnung bedarf. Es geht um ein tiefes – auch emotionales – Zerwürfnis zwischen Paulus und der Gemeinde in Korinth, auf das Paulus in 2 Kor 1-9 reagiert. Paulus verteidigt sein Apostolat, u.a. indem er seine Lehre offenlegt. |
6. | ↑ | Diese Logik rahmt die Aussagen zur Versöhnung in den folgenden Versen (2 Kor 16-20). Im abschließendes Vers heißt es ebenso paradox: Er [Gott] hat den, der keine Sünde kannte [Jesus], für uns zur Sünde gemacht, damit wir in ihm Gerechtigkeit Gottes würden. (2 Korinther 5,21). Vgl. dazu „Gott hat einen harten Haken“, Werner Kleine, kath 2:30 [Stand: 01. April 2016]. |
7. | ↑ | Vgl. zum Beispiel Seneca, Epstel 9,10. |
8. | ↑ | Dies gilt bereits für die Aussage in Vers 18. Im Kontext mit 2 Korinther 4,6 lässt sich der Vers auf Paulus’s eigene Berufung beziehen. Dies hätte für das weitere Verständnis grundlegende Folgen. Wenn in einem ersten Schritt nur Paulus der göttlichen Versöhnung teilhab geworden ist, dann gilt dies erst in einem zweiten Schritt für alle anderen Glaubenden aufgrund der Verkündigung des Apostels. |