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In der Mitte einer Kontinentalplatte erscheint die Behauptung, man befinde sich im Erdmaßstab gesehen nur einen Hauch über glühendem Magma, das mit seiner Energie imstande ist, ganze Städte auszuradieren, verwegen. Bewegt man sich aber an die Ränder dieser litosphärischen Fragmente, wird die im Erdinnern brodelnde Kraft und Gewalt fast täglich greifbar. Vulkane und Erdbeben zeigen an, dass die Oberfläche, auf der sich das menschliche Leben abspielt, letztlich nur hauchdünn und fragil ist. Die Harmonie blühender Landschaften mögen in ihrer Schönheit anästhetisch zur Beruhigung beitragen; der Macht der Magmaströme unter ihr können sie nichts entgegensetzen.
Gesellschaftliche Trugbilder
Kurz vor der Bundestagswahl am 24. September 2017 scheint alles schon gelaufen zu sein. Die Analysten haben keinen Zweifel daran, dass Angela Merkel auch nach dieser Wahl Bundeskanzlerin sein wird. Fraglich ist höchstens, welcher Koalition sie als Regierungschefin vorstehen wird. Der Hype um Martin Schulz vom Anfang des Jahres 2017 ist längst verebbt. Mittlerweile werden sogar schon Szenarien entwickelt, was mit dem schnell verblassten Morgenstern der bundesdeutschen Sozialdemokratie nach der Wahl geschehen wird1). Nicht aus jedem Flügelschlag eines Schmetterlings entsteht ein Hurrikan.
Der Kanzlerkandidat der SPD aber müht sich weiter redlich, sein Thema der sozialen Gerechtigkeit unter das Volk zu bringen. So richtig zündet die Kampagne aber nicht. In der Mitte der Gesellschaft scheint zu große Zufriedenheit zu herrschen, als dass man mit diesem Thema Wählerinnen und Wähler gewinnen könnte. Laut einer von der Zeitschrift „Spiegel“ im März 2017 veröffentlichten Studie gaben die Deutschen auf einer Skala von 0 bis 10 im Durchschnitt eine Wert von 7,5 für ihre Lebenszufriedenheit an; im Vergleich zu dem Tiefstwert aus dem Jahr 2004, einem Jahr vor der ersten Legislaturperiode Angela Merkels als Kanzlerin, als der Wert bei 6,9 lag, ist das eine deutliche Steigerung. In der gesellschaftlichen Mitte scheint die Zufriedenheit groß zu sein – so groß, das sich an den herrschenden Verhältnissen möglichst nichts ändern soll. Der Ruf nach sozialer Gerechtigkeit findet hier kaum Gehör. Er ist hier schlichtweg nicht relevant.
Anders sieht es da an den Rändern der gesellschaftlichen Kontinentalplatten, denn dem gestiegenen allgemein-gesellschaftlichen Zufriedenheitsgefühl steht die statistische Erkenntnis gegenüber, dass fast jeder Zehnte in Deutschland für den Lebensunterhalt auf staatliche Hilfe angewiesen ist: Acht Millionen Empfängerinnen und Empfänger bezogen am Jahresende 2015 staatliche Leistungen zur Mindestsicherung2). Manch einer schwadroniert zwar davon, dass angesichts allgemeiner gesellschaftlicher Entwicklungen keine Rede von einer wachsenden Armut in Deutschland sein könne3). Solchen Analysen aber folgen einer Logik, nach der man Erdbebenopfern vorhält, dass rein statistisch die meisten Menschen in Mitteleuropa kaum von Erbeben betroffen sind und die Wahrscheinlichkeit, von einem Vulkanausbruch betroffen zu sein, eigentlich doch sehr gering ist.
Lakmustest ...
Solche Analysen sprechen den Betroffenen und ihrer Situation nur Hohn. Sie übersehen, dass auch das Leben in großer persönlicher Zufriedenheit letztlich nur ein Tanz auf dem Vulkan ist. Die soziale Decke ist fragil. Wer, wie weiland Marie Antoinette, Gattin des letzten französischen Königs Ludwig XVI, empfiehlt, die Armen mögen, wenn es ihnen an Brot mangele, doch Kuchen essen, darf sich nicht wundern, wenn der soziale Tsunami ihn eines Tages fortspült.
Die Wahrnehmung gesellschaftlicher Peripherien ist der Lakmustest für deren soziale Stabilität. Das weiß eben auch Paulus, der auf einen sozialen Missstand in der Gemeinde zu Korinth reagiert:
Wenn ich schon Anweisungen gebe: Das kann ich nicht loben, dass ihr nicht zu eurem Nutzen, sondern zu eurem Schaden zusammenkommt. Zunächst höre ich, dass es Spaltungen unter euch gibt, wenn ihr als Gemeinde zusammenkommt; zum Teil glaube ich das auch. Denn es muss Parteiungen geben unter euch, damit die Bewährten unter euch offenkundig werden. Wenn ihr euch versammelt, ist das kein Essen des Herrenmahls; denn jeder nimmt beim Essen sein eigenes Mahl vorweg und dann hungert der eine, während der andere betrunken ist. Könnt ihr denn nicht zu Hause essen und trinken? Oder verachtet ihr die Kirche Gottes? Wollt ihr jene demütigen, die nichts haben? Was soll ich dazu sagen? Soll ich euch etwa loben? In diesem Fall kann ich euch nicht loben. 1 Korinther 11,17-22
Spaltungen (griechisch: σχίσματα – gesprochen: schísmata) waren in Korinth offenkundig an der Tagesordnung. Bereits am Beginn des Schreibens geht Paulus auf verschiedenen Parteien ein, in die sich die Gemeinde aufgespalten hatte:
Es wurde mir nämlich, meine Brüder und Schwestern, von den Leuten der Chloë berichtet, dass es Streitigkeiten unter euch gibt. 12 Ich meine damit, dass jeder von euch etwas anderes sagt: Ich halte zu Paulus – ich zu Apollos – ich zu Kephas – ich zu Christus. 1 Korinther 1,11-12
Nicht bloß rhetorisch hält er diesem Zustand entgegen:
Ist denn Christus zerteilt? Wurde etwa Paulus für euch gekreuzigt? Oder seid ihr auf den Namen des Paulus getauft worden? 1 Korinther 1,13
Es ist offenkundig, dass Christus allein die innere Mitte der Gemeinde sein kann. Christus aber ist nicht zerteilt. Es gibt ihn nicht mehr oder weniger, sondern ganz oder gar nicht. Das Bekenntnis zu Jesus Christus, dem vom Kreuzestod Auferstandenen, bildet die Basis der Gemeinde und ihrer Einheit:
Wer sich also rühmen will, der rühme sich des Herrn; so heißt es schon in der Schrift. 1 Korinther 1,31
... und Feuerprobe
Für Paulus steht dabei außer Zweifel, dass die irdischen Vorgänge ewigkeitsrelevant sind. Eine Feuerprobe wird das, was auf Erden vielleicht verborgen gehalten werden konnte, an den Tag bringen:
Was ist denn Apollos? Und was ist Paulus? Diener, durch die ihr zum Glauben gekommen seid, und jeder, wie der Herr es ihm gegeben hat: Ich habe gepflanzt, Apollos hat begossen, Gott aber ließ wachsen. So ist weder der etwas, der pflanzt, noch der, der begießt, sondern nur Gott, der wachsen lässt. Wer pflanzt und wer begießt: Beide sind eins, jeder aber erhält seinen eigenen Lohn entsprechend seiner Mühe. Denn wir sind Gottes Mitarbeiter; ihr seid Gottes Ackerfeld, Gottes Bau. Der Gnade Gottes entsprechend, die mir geschenkt wurde, habe ich wie ein weiser Baumeister den Grund gelegt; ein anderer baut darauf weiter. Aber jeder soll darauf achten, wie er weiterbaut. Denn einen anderen Grund kann niemand legen als den, der gelegt ist: Jesus Christus. Ob aber jemand auf dem Grund mit Gold, Silber, kostbaren Steinen, mit Holz, Heu oder Stroh weiterbaut: Das Werk eines jeden wird offenbar werden; denn der Tag wird es sichtbar machen, weil er sich mit Feuer offenbart. Und wie das Werk eines jeden beschaffen ist, wird das Feuer prüfen. Hält das Werk stand, das er aufgebaut hat, so empfängt er Lohn. Brennt es nieder, dann muss er den Verlust tragen. Er selbst aber wird gerettet werden, doch so wie durch Feuer hindurch. 1 Korinther 3,5-15
Im Angesicht Gottes werden die Verhältnisse zurechtgerückt. Das Endgericht erscheint hier nicht als Strafgericht, denn Paulus betont ja, dass jeder gerettet werden wird. Freilich wird er so wie durch Feuer hindurch gerettet werden, denn das letzte Gericht richtet die letzte Gerechtigkeit, die Gerechtigkeit Gottes auf. Das wird die Feuerprobe sein, in der sich der Einzelne, aber auch eine Gesellschaft bewähren muss. Es wird sich zeigen, ob sie vor diesem Auge der brennenden Liebe Gottes für das, was in Raum und Zeit getan und nicht getan wurde, Bestand hat oder nicht. Die Liebe Gottes nämlich drängt zur Gerechtigkeit.
Königsweg Solidarität
Paulus mahnt deshalb die Korinther, sich nicht selbst zu täuschen:
Keiner täusche sich selbst. Wenn einer unter euch meint, er sei weise in dieser Welt, dann werde er töricht, um weise zu werden. Denn die Weisheit dieser Welt ist Torheit vor Gott. 1 Korinther 3,18-19a
Vielmehr erinnert er sie an eine grundlegende Erkenntnis:
Wisst ihr nicht, dass ihr Gottes Tempel seid und der Geist Gottes in euch wohnt? Wer den Tempel Gottes zerstört, den wird Gott zerstören. Denn Gottes Tempel ist heilig und der seid ihr. 1 Korinther 3,16-17
Mit dieser Metaphorik erinnert Paulus an den Tempel als Ort der Gegenwart der göttlichen Herrlichkeit. Es ist das Eigentümliche der paulinischen Verkündigung, die auf die antiochenische Theologie zurückgeht, die im Unterschied zur Haltung der Jerusalemer Urgemeinde hier einen entscheidenden Paradigmenwechsel mit erheblichen Konsequenzen vornimmt. Heißt es von der Jerusalemer Urgemeinde, dass sie weiterhin täglich im Tempel verharrten (vgl. Apostelgeschichte 2,46), kommt man in Antiochien zu der Erkenntnis, dass gerade das Paradox des Schicksals Jesu, der wie ein Gottverlassener stirbt, und doch von Gott auferweckt wird, eine Neuorientierung mit sich bringen muss. Offenkundig macht nicht mehr allein das Befolgen der Thora gerecht; es ist die Liebe Gottes an sich. Aus diesem Grund konnten nun auch Heiden, also Nichtjuden, diesen einen Gott verehren. Mehr noch: Die Sendung des Geistes Gottes, jenem Hauch, der alles Leben bringt, macht doch deutlich, dass Gott selbst im Menschen Wohnsitz nimmt. Es ist doch sein Atem, der Leben gibt. Ist der Mensch aber Wohnsitz Gottes, dann ist er selbst Tempel Gottes. Wer also einem Tempel Gottes schadet, der wendet sich letztlich gegen Gott selbst. Solidarität ist deshalb mehr als ein schönes Gefühl. Es ist eine Haltung, zu der die, die sich auf Jesus Christus berufen geradezu verpflichtet sind.
Sozialseismografie
Die Rede vom Tempel Gottes ist dabei mehrdeutig. Sie bezieht sich sowohl auf den Einzelnen als auch auf die Gemeinde. Das Bild vom Leib Christi, das Paulus in 1 Korinther 12,12-31 entwickelt, hat hier seinen Grund. Gerade deshalb bedeutet jede Spaltung in der Gemeinde eine Gefahr. Solche Spaltungen sind Verwerfungen, die nicht nur die Stabilität der Gemeinde in sich gefährden; sie müssen letztlich auch vor dem Angesichts Gottes verantwortet werden.
Nun hat es in Korinth aber offenkundig nicht nur Parteiungen gegeben, die sich aus verschiedenen Anhängerschaften ergeben haben. Wie weiter oben schon deutlich wurde, gab es auch soziale Spaltungen, die gerade im Zusammenhang des Herrenmahls offenkundig wurden. Es war wohl damalige Praxis, dass im Anschluss an das Herrenmahl, das man heute auch als Eucharistie oder Abendmahl bezeichnet, ein Sättigungsmahl stattfand. Offenkundig brachten die Teilnehmerinnen und Teilnehmer dort Speisen und Getränke mit, die dann als Ausdruck der Gemeinschaft gemeinsam verzehrt wurden. In Korinth hatte sich allerdings eine Praxis entwickelt, bei der die Reichen ihre Speisen selbst aßen und sich sogar am Wein betranken, während für die weniger Begüterten nichts übrigblieb. Die Einheitsübersetzungen von 1980 und 2016 sprechen hier von einer Demütigung. Damit bleiben sie in der rhetorischen Valenz weit hinter Paulus zurück, der hier sogar von „Schändung“ spricht, wenn er das Verb καταισχύνειν (gesprochen: kataischynein) verwendet. Wer oder was wird hier aber geschändet?
Hier und jetzt und gestern und in Ewigkeit
Auf den ersten Blick scheint Paulus hier die Armen der Gemeinde zu meinen – und das ist auch so. Aber es gibt eine zweite Ebene, denn Paulus erinnert in diesem Zusammenhang an den Grund der gemeindlichen Zusammenkünfte:
Denn ich habe vom Herrn empfangen, was ich euch dann überliefert habe: Jesus, der Herr, nahm in der Nacht, in der er ausgeliefert wurde, Brot, sprach das Dankgebet, brach das Brot und sagte: Das ist mein Leib für euch. Tut dies zu meinem Gedächtnis! Ebenso nahm er nach dem Mahl den Kelch und sagte: Dieser Kelch ist der Neue Bund in meinem Blut. Tut dies, sooft ihr daraus trinkt, zu meinem Gedächtnis! Denn sooft ihr von diesem Brot esst und aus dem Kelch trinkt, verkündet ihr den Tod des Herrn, bis er kommt. 1 Korinther 11,23-26
Paulus betont, dass es sich hier um keine eigenen Gedanken handelt, sondern um eine Überlieferung, die er selbst vom Auferstandenen empfangen zu haben vorgibt. Tatsächlich handelt es sich um den ältesten überlieferten sogenannten „Einsetzungsbericht“, der im Neuen Testament neben den drei synoptischen Einsetzungsberichten (Matthäus 26,26-29, Markus 14,22-25 und Lukas 22,18-20) steht:
Jesus, der Herr, nahm in der Nacht, in der er ausgeliefert wurde, Brot, sprach das Dankgebet, brach das Brot und sagte: Das ist mein Leib für euch. Tut dies zu meinem Gedächtnis! Ebenso nahm er nach dem Mahl den Kelch und sagte: Dieser Kelch ist der Neue Bund in meinem Blut. Tut dies, sooft ihr daraus trinkt, zu meinem Gedächtnis! Denn sooft ihr von diesem Brot esst und aus dem Kelch trinkt, verkündet ihr den Tod des Herrn, bis er kommt.
Während des Mahls nahm Jesus das Brot und sprach den Lobpreis; dann brach er das Brot, reichte es den Jüngern und sagte: Nehmt und esst; das ist mein Leib. Dann nahm er den Kelch, sprach das Dankgebet, gab ihn den Jüngern und sagte: Trinkt alle daraus; das ist mein Blut des Bundes, das für viele vergossen wird zur Vergebung der Sünden. Ich sage euch: Von jetzt an werde ich nicht mehr von dieser Frucht des Weinstocks trinken, bis zu dem Tag, an dem ich mit euch von Neuem davon trinke im Reich meines Vaters.
Während des Mahls nahm er das Brot und sprach den Lobpreis; dann brach er das Brot, reichte es ihnen und sagte: Nehmt, das ist mein Leib. Dann nahm er den Kelch, sprach das Dankgebet, gab ihn den Jüngern und sie tranken alle daraus. Und er sagte zu ihnen: Das ist mein Blut des Bundes, das für viele vergossen wird. Amen, ich sage euch: Ich werde nicht mehr von der Frucht des Weinstocks trinken bis zu dem Tag, an dem ich von Neuem davon trinke im Reich Gottes.
Denn ich sage euch: Von nun an werde ich nicht mehr von der Frucht des Weinstocks trinken, bis das Reich Gottes kommt. 19 Und er nahm Brot, sprach das Dankgebet, brach es und reichte es ihnen mit den Worten: Das ist mein Leib, der für euch hingegeben wird. Tut dies zu meinem Gedächtnis! 20 Ebenso nahm er nach dem Mahl den Kelch und sagte: Dieser Kelch ist der Neue Bund in meinem Blut, das für euch vergossen wird.
Der Vergleich zeigt eine gemeinsame Überlieferungsbasis bei auffälligen Unterschieden. Mal ist davon die Rede, dass das Blut für viele vergossen wird (Matthäus und Markus), mal wird es „für euch“ vergossen (Paulus und Lukas). Letzter reden auch von einem Neuen Bund, erstere einfach nur vom Bund. Ohne an dieser Stelle auf eine genaue Analyse der Unterschiede eingehen zu können, scheint sich ein Teil der Divergenzen aus den unterschiedlichen Ausgangslagen der Erstadressaten herzuleiten: Paulus und Lukas schreiben eher für heidenchristliche Gemeinden, die als Neuangehörige des Volkes Gottes gestärkt werden sollen; Matthäus und Markus hingegen haben eher judenchristliche Erstadressaten, deren Blick über den eigenen Horizont hinaus geweitet werden soll. In jedem Fall aber wird das Abendmahl in einen eschatologischen Kontext gestellt: Das, was im Herrenmahl geschieht, ist ewigkeitsrelevant. Es ist das Eintreten in das himmlische Mahl. Hier findet vergegenwärtigendes Gedächtnis statt, nicht bloß Erinnerung. Wenn es sich bei dem Mahl aber auch um das Eintreten in das himmlische Mahl handelt, dann wird nicht nur das letzte Abendmahl Jesu mit seinen Jüngern vergegenwärtigt, sondern eben auch das himmlische Mahl in der Gegenwart Gottes. Aus diesem Grund mahnt Paulus deshalb:
Wer also unwürdig von dem Brot isst und aus dem Kelch des Herrn trinkt, macht sich schuldig am Leib und am Blut des Herrn. 1 Korinther 11,27
Die Schande der Zufriedenen
Dieser Satz ist schon so oft missbräuchlich zitiert worden, dass er einer genauen Betrachtung bedarf. Oft wird er mit erhobenem Zeigefinger angewendet, um die Gläubigen zu einer Selbstreflexion zu ermahnen, sie dürften das Mahl nicht als Unwürdige empfangen. Das geht aber an der Intention des Paulus völlig vorbei. Das mit „unwürdig“ übersetzte Wort ἀναξίως (gesprochen: anaxíos) ist nämlich kein Adjektiv, das eine Aussage über die Empfangenden macht, sondern ein Adverb, das die Art und Weise des Empfangs selbst beschreibt. Es geht also nicht um das Unwürdigsein, sondern um die Umstände, in denen das Herrenmahl stattfindet. Und eben jene Umstände sind in Korinth beklagenswert, insofern sich gerade im Zusammenhang des Herrenmahls die soziale Spaltung der Gemeinde manifestiert. Die Gemeinde selbst ist doch Leib Christi. Jede Spaltung spaltet deshalb den Leib Christi. Man kann deshalb nicht Leib und Blut Christ selbstzufrieden empfangen und sich nachher nicht um die Sorgen und Nöte der Nächsten kümmern. Deshalb mahnt Paulus:
Jeder soll sich selbst prüfen; erst dann soll er von dem Brot essen und aus dem Kelch trinken. Denn wer davon isst und trinkt, ohne den Leib zu unterscheiden, der zieht sich das Gericht zu, indem er isst und trinkt. Deswegen sind unter euch viele schwach und krank und nicht wenige sind schon entschlafen. Gingen wir mit uns selbst ins Gericht, dann würden wir nicht gerichtet. Doch wenn wir jetzt vom Herrn gerichtet werden, dann ist es eine Zurechtweisung, damit wir nicht zusammen mit der Welt verdammt werden. Wenn ihr also zum Mahl zusammenkommt, meine Brüder und Schwestern, wartet aufeinander! Wer Hunger hat, soll zu Hause essen; sonst wird euch die Zusammenkunft zum Gericht. 1 Korinther 11,28-34
Der Gott der rauchenden Berge
Paulus weiß, dass vor Gottes Gericht alles offenbar wird. Weil dieses Gericht kein Strafgericht ist, besteht für jeden Menschen Hoffnung. Weil dieses Gericht die letzte Gerechtigkeit aufrichtet, sollte das Handeln der Menschen im Hier und Jetzt schon von dieser Gerechtigkeit gekennzeichnet sein. Vielleicht hilft so manchem Selbstzufriedenen in der sicheren Mitte der Gesellschaft die Erinnerung an den Ausruf des Psalmisten, der Gottes Macht in den Naturgewalten erkennend bekennt:
Er blickt herab auf die Erde und sie erbebt, er rührt die Berge an und sie rauchen. Psalm 104,32
Die Kruste, auf der sich das scheinbar sichere Leben abspielt, ist dünn und fragil. Es genügt nur wenig, um sie reißen zu lassen. Die Menschen an den Rändern wissen das. Um Gottes willen dürfen die Augen hier nicht geschlossen bleiben. Soziale Gerechtigkeit mag ein Thema sein, dass die Wählerinnen und Wähler in diesen Tagen nicht vom Hocker reißt. Soziale Gerechtigkeit ist das Thema zu allen Zeiten! Solidarität ist kein Gefühl. Sie war immer schon das Gebot der Stunde. Wenn daher jede und jeder Zehnte in Deutschland von staatlicher Hilfe lebt, dann ist das mehr als nur ein Fleck auf weißen Westen: Es ist eine Schande der Zufriedenen, die aufgedeckt werden wird, wenn der Tag der Feuerprobe kommt – im Diesseits oder im Jenseits! Noch aber ist Zeit …
Bildnachweis
Titelbild: rave for *koze* -smoke (Rasande Tyskar) – Quelle: flickr – lizenziert als CC BY-NC 2.0.
Bild 1: Laacher See (Gunnar Ries) – Quelle: flickr – lizenziert als CC BY-SA 2.0.
Bild 2: Arm und Reich oder Krieg und Frieden (flämischer Maler, 17. Jh.) – Quelle: Wikicommons – lizenziert als gemeinfrei.
Einzelnachweis
1. | ↑ | Vgl. etwa Majid Sattar, Die Zukunft der SPD – mit und ohne Schulz, in: FAZ online (28.8.2017), Quelle: http://www.faz.net/aktuell/politik/bundestagswahl/parteien-und-kandidaten/bundestagswahl-zukunftsplaene-der-spd-mit-und-ohne-schulz-15171116.html [Stand: 10. September 2017]. |
2. | ↑ | Quelle: https://www.destatis.de/DE/PresseService/Presse/Pressemitteilungen/2016/11/PD16_419_228.html;jsessionid=037CF7281B2786FB324170D2432356C5.cae3 [Stand: 10. September 2017]. |
3. | ↑ | So etwa Daniel Eckert, Das Märchen von der wachsenden Armut in Deutschland, in: Welt online (3.11.2016), Quelle: https://www.welt.de/wirtschaft/article159246936/Das-Maerchen-von-der-wachsenden-Armut-in-Deutschland.html [Stand: 10. September 2017]. |
[…] beseitigt werden, wenn alle nur an sich denken? Sind da noch welche, die bereit sind, um der Solidarität willen etwas von ihrem Wohlstand abzugeben – einem Wohlstand, der so groß ist, dass er auch bei […]